Nilda ist eine Prostituierte und hat drei Kinder geboren, die sie alle kurz nach ihrer Geburt "entsorgt" hat, daraus ist dann Byrlok entstanden, jenes körperlose Wesen, das hier mit ihr spricht.
Die Babys sind alle gestorben, haben unterschiedlich lange gelitten, sind beispielsweise erfroren. Byrlok hat das Wissen und teilt es mit Nilda.
An sich ist es also maximal krass: Drei Babys sterben! Getötet durch Aussetzen in tödlicher Umgebung von der Mutter.
Das müsste mich also total mitnehmen. Ich müsste eigentlich wirklich schockiert sein, weinen, irgendwie emotional reagieren, oder?
Warum also klappt das nicht, denn die reinen Fakten sprechen dafür, dass die Story jetzt mit mir etwas macht.
Die reinen Fakten reichen aber nicht.
Ich müsste das irgendwie vermittelt bekommen, es müsste mir nahe gehen. Wie könnte man das erreichen?
Byrlok beschreibt ja, was Nilda getan hat, hier ein Beispiel:
... als du sie gegen den Baumstamm geschlagen hast, als würdest du einen Teppich ausklopfen
Ich sitze jetzt hier und versuche mir vorzustellen, dass eine Mutter kurz nach der Geburt mit ihrem Baby so umgeht. Es gelingt mir nicht. Es ist einfach zu weit weg von meiner Lebenswirklichkeit.
Die Autorin hätte einen Weg finden müssen, mir klarzumachen: Hey, das hat Nilda wirklich getan!
So kaufe ich es irgendwie nicht oder bleibe jedenfalls distanziert genug, so dass ich das mit unbeteiligtem Herzen lesen kann.
Meiner Meinung nach sollte ich das aber nicht können. Ich müsste völlig fertig sein.
Es gelingt auch nicht, dass ich Nilda verachte. Anfänglich habe ich noch mitgelitten, dann wird sie mir fremd, aber nicht so recht feind, weil ihre Taten für mich abstrakt bleiben.
Ich frage mich rein intellektuell, welche anderen Möglichkeiten sie wohl hatte, ich frage mich auch, ob sie absichtlich schwanger geworden ist,
weil einige Freier das mochten und mehr bezahlt haben.
(Als Frau, die auch schon mal schwanger war, denke ich aber auch: So geil ist das auch nicht, dass es mir das wert wäre, vor allem dann nicht, wenn ich die Kinder danach gar nicht haben will.)
Dann kommen auch ein paar Sätze, die eher schon vielfach bemüht worden sind, wie "Totenstille umgab sie".
Jetzt habe ich mehrere Fragen:
Gibt es jemanden, der mitgenommen wurde von dieser Auflösung, und wenn ja, wie und wovon genau? Ich habe nämlich im Gespräch mit anderen Leser:innen auch schon festgestellt, dass die komplett
fertig waren von Geschichten, die mich nicht erreicht haben. Da reichten die Fakten, Phrasen störten nicht (und so viele Phrasen hat diese Story auch gar nicht) und man wünschte sich nicht
unbedingt neue Lese-Erlebnisse.
Und was hätte die Autorin wohl machen müssen, um mich mitzunehmen? Ein bisschen Brainstorm, ohne zu wissen, ob ich damit richtig liege:
Vielleicht an ein Baby heranzoomen und es greifbar, begreifbar für mich machen. Wie hat es gerochen? Wie hat es sich bewegt? Welche Geräusche? Wenn ich mir meine Kinder direkt nach der Geburt
vorstelle, wie sie da waren, dann gibt es auch über die erste Stunde einiges an "Eigenheiten" zu berichten und ich weiß, in welche kleinen Personen sie sich mittlerweile entwickelt haben.
Dieses Potenzial hatten ja auch Nildas Kinder.
Wie müsste sie die Babys also beschreiben, damit ich begreife, welches Potenzial hier verloren ging?
Und ja, dazu darf niemand zimperlich sein, aber hey, das ist ein Horrormagazin.
Ich habe richtig große Angst davor, dass Kindern etwas passiert, das wäre für mich eine richtig gute Horrorgeschichte.
Ich vermute also, dass die Babys zu gesichtslos für mich bleiben. Ich erfahre ein wenig mehr über den Jüngsten, aber nur über seine noch unfertigen Lungen, weil er zu früh geboren wurde. Das reicht (mir) nicht.
Irgendwie hätte die Story noch ein, zwei Seiten länger sein müssen für mich, tiefer gehen müssen, sich richtig rantrauen an das Grauen.
Uff, ich klinge unbarmherzig. Vermutlich sollte ich froh sein, dass die Autorin das nicht getan hat, sonst würde ich vermutlich Alpträume kriegen. Aber eigentlich suche ich ja genau das im Horror?