Okay, ich habe mir mal die ersten zwei Seiten reingezogen, was auch ungefähr das wäre, was ich vermutlich zu Zeiten des DSFP ungefähr jedem Roman gegönnt habe, von dem wir ein Frei-Exemplar hatten. Das wird jetzt alles kritisch klingen, aber ich renne noch nicht weg, Leute, ich mache nur Pause mit T. C. Boyle!
Ohne diese Leserunde fĂĽr andere Zwecke nutzen zu wollen, wĂĽrde es mich aber doch interessieren, was andere Lesende anzieht oder abschreckt. Mich interessieren gemeinsame Nenner, Dinge, die vielleicht sogar fĂĽr die meisten von uns gelten und Dinge, die Geschmackssache sind.
Dann ist mir natürlich klar, dass ich eine Menge Lese-Eigenheiten habe, die ich mir auch teilweise leicht erklären kann, aber dazu an anderer Stelle mehr.
Die Einstiegsszene ist wahnsinnig alltäglich: Frühstück. Charly und Sarah frühstücken. Natürlich ist Charly (männlich, hatte zunächst gedacht, das sind vielleicht beides Frauen, lese viel queere SF offenbar gerade) derjenige, der einen Trip ins All plant. Der Konflikt ist auch sofort klar: Er steht an Stelle fünf, aber nur vier kommen mit. Es muss also jemand ausfallen oder er muss aufrücken, damit er mit kann.
Ich bin unsicher, wie viele SF-Romane ich schon gelesen habe, 500? Und ein paar tausend Kurzgeschichten. Positiv ist, dass es gleich einen Konflikt gibt, eher neutral bis gähn ist, dass dieser Konflikt mich noch nicht wirklich lockt.
Das könnte er aber sicher, wenn er spannend erzählt wäre.
Er ist auch nicht schlecht erzählt. Ich würde sagen, solide erzählt, jedenfalls größtenteils.
Zunächst mache ich ein paar Beobachtungen, die ich noch unter "Eigenheiten" verbuchen kann, aber mich drauf einlassen kann und will. Siehe hier:
"gab Charly schließlich zurück" -> das schließlich würde für mich nur Sinn ergeben, wenn er eine Weile nachgedacht, überlegt, was anderes gemacht hätte. Das ist aber hier nicht so, er antwortet direkt auf Sarahs Frage, ohne dass dazwischen eine Pause erkennbar ist. Das irritiert mich. Selbst wenn es inhaltlich passen würde, wäre es ein verzichtbares Füllwort.
Das Eckcafé an der 146. hatte seit Beginn seines Astronautentrainings vor sechs Jahren [...]
Mich interessiert immer, besonders in der Phantastik: Wo bringt der schreibende Mensch seinen "Infodump" unter. Das hier würde ich noch als Eigenheit bezeichnen. Ich persönlich finde es nicht so geschickt, aber annehmbar. Vermutlich hätte ich es cooler gefunden, wenn Charly zu Sarah gesagt hätte "Sechs Jahre Astronautentraining, und was hat es mir gebracht? Platz 5!"
Wobei ich zu Infodump in Dialog noch komme, das muss natĂĽrlich glaubwĂĽrdig sein (wĂĽrde die Person das wirklich so sagen oder "sagt" sie es nur, damit die Lesenden endlich die Info haben?).
Dann kommt eine Phrase "am liebsten den Hals umgedreht", ich würde aber noch abwarten, wie hoch die Phrasendichte im Roman insgesamt ist. Ich persönlich hätte Phrasen gern entweder nur im Dialog oder aufgebrochen, so, dass es neues damit entsteht, damit gespielt wird. Sonst machen die nichts mehr mit mir, zu oft gelesen, erzeugt nichts mehr.
"solcherart", das ist ein Wort, das sonst glaube ich niemand benutzt, den ich lese. Verbuche ich auch unter Eigenheiten.
Hier hätte man ein Inquit sparen können (da mir auffällt, dass der Autor viele nutzt, obwohl hier nur zwei sprechen und man einige hätte sparen können):
"Wie lief es denn ab?", fragte Sarah und beugte sich etwas vor
Hätte man zusammenfassen können, es wird klar, wer spricht, wenn da stünde:
"Wie lief es denn ab?" Sarah beugte sich etwas vor
Danach wird es eh klar, dass in diesem Abschnitt Sarah agiert. (Auf Seite 2 spart er allerdings so viele Inquits, dass ich mehrmals gucken musste, wer jetzt was sagt.)
Okay, bisher habe ich nur auszusetzen, dass mich der Text bestenfalls neutral zurücklässt. Er weckt eben mein Interesse noch nicht und ich habe zwanzig ungelesene Bücher, die vermutlich alle extrem geil sind (hoffe ich!) und ich stehe auf Bücher, die ich Lust habe, mehrmals zu lesen und richtig abzufeiern. Ich lese eben unglaublich gern Zeug, das mir extrem gut gefällt. Insofern hat der Text nicht den besten Stand bei mir und dann kommt leider etwas, das mich raushaut (und erstmal zu T. C. Boyle gejagt hat, von dem ich stattdessen dann zwei Kapitel gelesen habe):
"Du meinst die kurze Krise, weil unsere Geheimdienste der Meinung waren, die Chinesen hätten versucht, Raketen auf ihre Raumstation zu bringen?"
Nein. So spricht niemand. Da wird mir Information vermittelt, auf eine sehr künstliche Art. In Wirklichkeit hätte man vermutlich gesagt "Ach, das mit den chinesischen Raketen?" oder "Ach, das mit unseren Geheimdiensten und China?" (oder ähnliches). Und das hätte vermutlich sogar Spannung erzeugt. Gib mir ein paar Puzzleteile und ich lese weiter, weil ich nicht nur ungeduldig, sondern auch neugierig bin.
Wobei, auch dann würde sich die Neugier in Grenzen halten, da die Stichworte "China", "Raketen" und "Geheimdienste" nicht mehr wirklich neue oder per se interessante SF-Themen sind und ich einiges an Peterson und co. in den letzten Jahren gelesen habe. Wenn ich die nächsten Absätze quer lese, erscheint mir da noch viel Infodump in dem Dialog zu sein. Da hätte ich als seine Testleserin gejammert und ihm das wieder zurückgeschickt, um nochmal zu schauen, wie die beiden wirklich sprechen würden.
Mir persönlich fehlt noch der Anker. Das Besondere. Charly und Sarah sind noch keine echten Figuren, bisher nur aus Pappe.
Im Vergleich dazu Boyle (ja, ich bin fies): Das erste Kapitel beginnt damit, dass sich die Perspektivfigur eine Schlange kauft, mit dem Plan, sie um die Schultern zu legen. Ich bin nicht mal sicher, ob ich die Figur mag (bisher eher nicht), aber ich glaube auch nicht, dass ich sie so schnell vergessen werde.
Und das zweite Kapitel beginnt so:
"Othilie hatte beschlossen, Insekten zu essen, weil ihr Sohn Entomologe war und sie ihn liebte und weil es richtig war."
Ich würde jetzt nicht Boyle rausholen, wenn wir hier in einer Werkstatt mit einer Person wäre, die gerade beginnt zu schreiben. Aber Tree hat schon über sechzig Romane konzipiert und ist in meinen Augen ein Profi. Daher lese ich auch weiter, da ich hoffe, da geht noch was. Zumindest plotmäßig vermute ich stark, dass er weiß, was er tut und tun wird, sonst hätte er nicht den Erfolg.
Aber nun lasse ich erst mal jemand anderem den Vortritt, bin gespannt, wie es euch ergeht!