Ich kopiere Ralfs (ShockWaveRider) Leseeindrücke mal hier rein, weil ja hier das Buch besprochen wurde:
Hat jetzt doch etwas länger gedauert, bis ich das "Strandgut" aufgesammelt habe. Ganz durch bin ich immer noch nicht.
Der generelle Eindruck: wichtiges Thema, starkes, aufwühlendes Titelbild (wurde ja schon viel drüber diskutiert), die übliche hochwertige Hirnkost-Qualität, zu jeder Geschichte gibt es eine Einführung, eine schöne Illustration und ein Kurzporträt des Autorys.
Zu den einzelnen Texten, soweit ich sie gelesen habe:
Jacqueline Montemurri: Vorwort
Inhalt: Jacqueline Montemurri erzählt von ihren Erlebnissen in der Flüchtlingshilfe und wie die vorliegende Anthologie die verschiedenen Facetten dieses Themas dem Lesy nahebringen soll.
Fazit: Respekt für das ehrenamtliche Engagement! Eine Bekannte von mir kann ähnliche Geschichten erzählen.
Vincent Voss: Die Geschichte von zwei Riesen
Inhalt: José Garcia Goncalves, ein portugiesischer Fischer, findet am Strand angeschwemmte Stücke von einem untergegangenen Flüchtlingsschiff. Daraus bastelt er eine Geschichte, die er den Einwohnern und Touristen jeden Abend erzählt. Und die sich mit jedem neu entdeckten Strandgut vervollständigt.
Fazit: Berührende Geschichte mit starker Atmosphäre und einem sehr präsenten Protagonisten. Ich hatte Probleme mit der langen Zeit, die zwischen den Funden verging. Ich hätte mir gewünscht, dass sich José in der Zeit selbst stärker verändert, dass wir seinen Alterungsprozess mitverfolgen können. Ansonsten rundum gelungen und eindrücklich!
Arno Endler: Rote Nase
Inhalt: Es geht wohl um einen Flüchtling, der in einem Kinderhospiz als Krankenhaus-Clown den todgeweihten Kindern noch etwas Freude schenkt.
Fazit: Die Lektüre ist so lange her, dass ich mich nicht mehr richtig erinnere.
Aiki Mira: Was wir im Traum einander antun
Inhalt: Eine Flüchtlingstochter lässt sich als Probandin ein Kopfimplantat einsetzen, um ihrer Mutter und ihren Geschwistern finanziell zu helfen. Das Implantat steuert ihre Träume. Und die Träume, deren Wirkung an ihr erforscht werden, sind alles andere als freundlich.
Fazit: Total starke Idee, ich liebe alles, was mit Traumtechnologien zu tun hat. Aiki Mira gelingt es auch eindrücklich, die verzweifelte Situation der Flüchtlingsfamilie in Deutschland zu schildern. Allerdings hätte ich mir bei den Träumen mehr Fleisch am Knochen gewünscht. Vielleicht den einen oder anderen Traum einmal konkret schildern und was sich die Traumrepräsentanzen einander so antun.
Regina Schleheck: Rosinenpicken
Inhalt: Amal gelangt als Flüchtling auf eine süditalienische Insel. Dort trifft er Loris, die bei reichen Leute in einer Villa arbeitet. Sie erkennt sein Talent als Trüffelhund.
Fazit: Atmosphärisch starke und sprachlich intensive Schilderung von Amals Erlebnissen und wie ablehnend Flüchtlinge behandelt werden, auch wenn sie sich für die Ureinwohner nützlich machen. Stark auch der Twist, als endgültig klar wird, dass Amal ein Hund ist. (zumindest für mich)
Friedhelm Schneidewind: Rebell aus Liebe
Inhalt: Bleuel ist ein blauer Drache, der in einem geheimen Tal Zuflucht vor dem bösen König gefunden hat. Eines Tages trifft er Einhorn Rosa, die einer Legende gefolgt ist. Auch die Einhörner werden vom bösen König verfolgt. Da verbünden sich Einhörner und Drachen.
Fazit: Ja, schöne märchenhafte Darstellung, anfangs liebevolle Ausarbeitung der phantastischen Welt und der Protagonisten Bleuel und Rosa. Am Ende geht mir aber alles etwas zu einfach und widerstandslos. Eigentlich ein typischer Anfänger-Fehler.
Heidrun Jänchen: Ausreißer
Inhalt: Aynur lebt mit ihrer Familie in einem deutschen Flüchtlingsheim, als dort eine Epidemie ausbricht. Anfangs werden die Erkrankten noch im Krankenhaus behandelt, schließlich riegelt man das Heim ab und lässt die Leute dort kontrolliert sterben. Seltsam – neue ukrainische Flüchtlinge erkranken nicht. Noch seltsamer – auch Aynur und ihre Cousinen erkranken nicht. Als Aynur mitbekommt, was die Ärzte mit ihnen vorhaben, entschließt sie sich mit ihren Cousinen zu einem letzten Schritt.
Fazit: Es steht die Vermutung im Raum, dass die Krankheit selektiv auf Aynurs Volksgruppe zugeschnitten sei. Die lebendige Charakterisierung Aynurs, die dichte Atmosphäre, das kontrollierte Entrollen der Story – alles gewohnt höchste Heidrun-Jänchen-Qualität! Starke Story!
Yvonne Tunnat: Das ist hier nicht Bullerbü
Inhalt: Es geht um eine Mutter auf der Flucht. Sie ist schwanger, hat ihre älteste Tochter Iris auf der Flucht verloren. An Details erinnere ich mich kaum noch.
Fazit: Aber um so mehr an die hoffnungslose Atmosphäre, an die depressive Grundstimmung der Frau, die ihre tote Tochter Iris immer wieder sieht.
Achim Stößer: Stürzender Stern
Inhalt: Ein entfernt krebsähnliches Wesen wird von der Spezies der Küll in ihrem Raumschiff entführt. Soll es als Nahrung dienen? Als Forschungsobjekt? Egal, denn das Raumschiff stürzt auf eine frühzeitliche Erde hinab. Während sich das Entführungsopfer mit den Menschen telepathisch verständigen kann, wird es von den Küll gejagt.
Fazit: Atmosphärisch starke, intensiv geschriebene Story, die von den Perspektiv-wechseln lebt. Vor allem die Erlebniswelt des entführten Individuums wird dem Lesy sehr einfühlsam nahegebracht.
Rudolf Arlanov: Die Verstoßenen
Inhalt: Loreen und Adam sind von einer lebensfeindlichen Erde auf den Mars geflüchtet. Aber Loreen vermisst die Erde und ihre Tochter Hannah. Als in der Schutzkuppel der Marsstadt ein Loch, durch das Sonnenlicht einfällt, entsteht, lassen Adam und sie eine Freizeitgestaltung von der Erde wieder aufleben.
Fazit: Die Verlorenheit der Marsflüchtlinge ist gut geschildert, die kleine Hoffnung macht Mut in der Verzweiflung. Wozu brauchte es Philippe?
Veith Kanoder-Brunnel: Die Tiere vor den Fenstern
Inhalt: Endlich! Der „First Contact“ findet statt. Zunächst nutzt der Ich-Erzähler den Austausch mit den Aliens, um mit Hilfe der Schlupftunneltechnologie das Transportwesen des Planeten zu revolutionieren und die eigenen Taschen zu füllen. Schließlich wird klar, dass sich die Aliens in einem Generationenraumschiff mit Kurs auf unseren Planeten befinden. Jetzt mischen sich Politik und Geheimdienste ein, um drohende Invasionen zu verhindern und das fragile Gleichgewicht auf dem Planeten zu bewahren. Da gelangt ein Alien per Schlupftunnel auf die Erde und erzeugt nicht nur instantane Fremdenfeindlichkeit, sondern bringt auch andere unschöne Besucher mit.
Fazit: Die Prämisse, dass der „First Contact“ über längere Zeit von einem einzelnen Individuum geheimgehalten werden kann, überzeugt kaum. Dafür entspinnt sich eine spannende Story voller Wendungen und Überraschungen, die im Rahmen der Story weitgehend plausibel erscheinen. Der finale Twist hat „Planet Of The Apes“-Vibes. Unterm Strich starke Story!
Karsten Lorenz: Ein paar Minuten noch
Inhalt: Die Erde wird demnächst untergehen. Ein Generationenraumschiff sammelt die letzten Flüchtlinge ein. Doch die Plätze sind begrenzt. Ein Aussteiger steht vor der Entscheidung: Soll er seine Tiere zurücklassen oder sein Tochter?
Fazit: Idee wolbekannt, Story besteht zu 60% aus Infodumping der explizitesten Sorte, das Ende war bereits nach den ersten Absätzen klar.
Monika Niehaus: Kneipenasyl
Inhalt: In Donnas Kaschemme kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Menschen und einem Reptil, dessen Gene von Menschen manipuliert wurden, damit es auf einem widrigen Planeten leben und für die Menschheit arbeiten kann. Donna gibt dem Reptiloiden Kneipenasyl.
Fazit: Kleine Glosse gegen Rassismus. Immerhin gute Absicht.
Anke Höhl-Kayser: Tiefes Wasser
Inhalt: Die Maguren leben in der Tiefsee, wo es einen speziellen Sand (mit Drogenwirkung?) gibt, auf dem Kaori wachsen, die einzige Nahrungsquelle der Maguren. Doch auch die Menschen wollen den wertvollen Sand haben. Sie vertreiben die Maguren, bis sie merken, dass die Maguren selbst den Sand des Vergessens bilden. Aber lassen sich die Maguren einfach so in Zuchtstationen stecken?
Fazit: Berührender Text über Ausbeutung und Manipulation der Natur durch den Menschen und die letzte verzweifelte Konsequenz, mit der sich die Maguren dagegen wehren können. Intensiv!
Janika Rehak: Hashtag #back_to_normal
Inhalt: Eine Regenbogenfamilie mit einer Mutter, zwei Vätern und einer Tochter zerbricht am Aufkommen einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland. Schließlich zerbricht die Familie, weil die Mutter mit einem Vater und der Tochter nach Norwegen auswandern, während der andere Vater zurückbleibt.
Fazit: Beklemmend realistisch, der unterschwellige soziale Druck wird ungebremst spürbar. Auswanderungs-Überlegungen kennen wir auch. Nur: wohin?
to be continued
Gruß
Ralf
Heute morgen bin ich früh aufgewacht und hatte deshalb Zeit, die Anthologie zu beenden.
Manchmal hat ein langsames und unzuverlässiges Hotel-WLAN doch auch seine guten Seiten.
Ansgar Sadeghi: Manuels Worte und Imaras Geschichten
Inhalt: Schreibgruppenleiterin Regina plant eine Anthologie über Flucht und Flüchtlinge. Sie fragt Ansgar an, ob er nicht eine Story beitragen möchte. Auf ihre Empfehlung hin nimmt er Kontakt zu Imara auf, die ihm von ihrem Heimatland Nagerio erzählt, dem Horror in den Flüchtlingslägern und der Ablehnung in DE nicht nur durch das Ehepaar Wiedenreich. Außerdem lernt er Saxophonspieler Akin kennen und Efe, der an den Erlebnissen auf der Flucht psychisch zerbrochen ist. Er entdeckt einen Rest Menschlichkeit bei Herrn Wiedenreich und erfährt gemeinsam mit Akin eine Abfuhr bei Imara.
Fazit: Iwoleit nennt es „metafiction“. Ein Schriftsteller schreibt keine Geschichte, sondern das, was die Entstehungsgeschichte der Geschichte sein könnte, wenn letztere geschrieben worden wäre. Rundum gelungen! Manchmal gibt es höhere Gründe, weshalb man eine Anthologie vor einer bestimmten Story unterbricht.
Michael Tinnefeld: Livorno sehen und …?
Inhalt: Der Golfstrom ist unterbrochen, Europa erkaltet. In der Folge setzen sich Flüchtlingswellen aus Europa nach Nordafrika ab, wo sie anfangen, die Sahara zu begrünen. Georg, Maria und ihre Kinder Jenny und Thomas sind in Livorno zwischengestrandet. Georg macht seiner Familie das Leben zur Hölle, der sechsjährige Thomas verstummt und bekommt Anfälle, und Jenny erlebt so was wie eine erste Liebe mit Tareq. Eines Tages hat Georg ihnen eine Passage nach Tunesien gebucht. Voller Angst besteigen sie das Schlauchboot, das sie zu einem größeren Schiff vor der Küste bringen soll.
Fazit: Einfach mal den Spieß umdrehen – bewährte Strategie! Die Art, wie Tareq und sein Clan die Notlage der Flüchtlinge ausnutzen und schließlich das sinnlose Schicksal der Familie – das lässt kein Lesy unbeteiligt!
Michael Schmidt: Segmentfäule
Inhalt: Janus bemerkt in seiner Welt, wie das Segment, in dem sich die Stadt befindet, zunehmend verfault. Während sein Ziehsohn Marek die Grenzen der Fäule erkundet, versucht Janus, die Stadtversammlung zu alarmieren. Bei einer Recherche in der Wissensburg entdeckt Janus, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu solchen Fäulnisprozessen kam, die schließlich zur Abtrennung des Segments führten. Doch dann gibt es noch die Sekte der Herzenstänzer, denen sich Janus‘ Sohn Kelvin angeschlossen hat. Sie überzeugen alle Zweifelnden von den Lehrer ihrer Göttin Versika, notfalls mit Gewalt.
Fazit: Die große Idee, die soziale Konfiguration – alles super, klasse, spannend. Leider bleiben mir die Figuren doch etwas fremd. Vor allem Janus will kein Profil bekommen. Bei Marek gelingt das noch eher. Außerdem brauche ich mehr Details, vor allem über die Herzenstänzer, aber auch über die Wissensburg.
Jol Rosenberg: Ankommen
Inhalt: Zao, ein Karf vom Recyclingplaneten Deposa, landet mit seiner Gruppe ohne Visum auf der Erde. Zunächst arbeitet er auf einer Baustelle. Dann bewirbt er sich auf eine Pflegestelle in einem Krankenhaus. Sein neuer Chef will sich um sein Visum kümmern, doch es geht nicht voran. Nur der 10jährige Fino gibt dem Karf die nötige Liebe zurück.
Fazit: Die Fremdartigkeit, die Ausbeutung, die falschen Versprechungen, mangelnde Anerkennung – das ganze miese Lebensgefühl eines Flüchtlings, der der Gesellschaft, die ihn mehr oder weniger aufgenommen hat, dienen und nutzen will, wird hier in einer eindrücklichen Story komprimiert. Das Ganze ist darüber hinaus nicht nur flüssig geschrieben, sondern funktioniert auch als Plot.
Klugsch*er-Ecke: Kann es sein, dass der sonst so sprachsichere Michael Iwoleit „emphatisch“ geschrieben hat, obwohl er „empathisch“ meinte?
Jacqueline Montemurri: Hoffnungs-Tief
Inhalt: Als Khaleds Schwester zu laut schrie, weil ihre Mutter sie nicht mehr stillen konnte, warf der Bootsführer das kleine Mädchen einfach ins Meer. Khaleds Mutter sprang ihr hinterher, ertrank aber selbst. In der folgenden Nacht erscheint Khaleds Mutter und nimmt ihn mit in eine Stadt am Meeresgrund, wo alle Ertrunkenen Fischschwänze statt Beine haben und in Frieden und Glück miteinander leben.
Fazit: Die Macht der Fantasie, die auch trösten kann. Im vorliegenden Fall aber kaum den Mut zum Weiterleben gibt. Sehr poetisch, mit einem happy end der anderen Art.
Marianne Labisch: Hope
Inhalt: Nach dem (vermutlich von ihm provozierten) Unfalltod ihres Mann hat die schwangere Ich-Erzählerin genug Geld und Motivation, um vom Bergbauplaneten Seltene Erden 4 nach Terra 1 zu fliehen. Dort wird sie zunächst liebevoll umsorgt, aber ihre Tochter bekommt sie nach der Entbindung nicht mehr zu Gesicht. Die Frauen auf Terra 1 wollen nicht mehr die Strapazen einer Schwangerschaft durch-stehen und adoptieren deshalb Kinder von geflüchteten Frauen. Die I-E soll als Gebärmaschine arbeiten, um ihre Schulden beim Bergbaukonzern „abzukindern“. Aber das will sie ganz sicher nicht.
Fazit: Menschlichkeit nur, wenn sie sich lohnt. Die ganze Scheinheiligkeit, mit die Notlage von Flüchtlingen ausgenutzt wird, macht einen schon bei der Lektüre wütend. Denn was Marianne Labisch hier beschreibt, ist sicher nicht so weit von der Realität entfernt. Das offene Ende passt, verlangt aber auch nach einer Fortsetzung.
Marianne Labisch: Nachwort
Inhalt: ML skizziert die Entstehungsgeschichte und wie ihr verschiedene Projektbeteiligte bei der Anwerbung geeigneter Autoren und bei der finalen Ausgestaltung halfen.
Fazit: Kurz, knapp, informativ! Danke für die gelungene, aber gerade deshalb aufrührende Anthologie!
Ein Buch, das mich so schnell nicht loslassen wird.
Gruß
Ralf
Und hier noch einmal: Herzlichen Dank, lieber Ralf.