Ich hänge mit dem Lesen von Kurzgeschichten aus 2024 immer noch weit zurück, aber "Psyche mit Zukunft" habe ich jetzt durch.
Falls also noch jemand an ein paar Gedanken interessiert ist...
Eine richtig gute Anthologie mit einigen gelungenen Geschichten und ganz ohne schlechte. Ich fand das Buch sehr schön aufgemacht mit einem retro-futuristischen Cover. Es folgt ein interessantes Vorwort mit einer treffenden Beschreibung der Science-Fiction zu Beginn. Mit dem weiteren “Beiwerk” bestehend aus fiktiver Werbung und Postkarten konnte ich nicht immer etwas anfangen, fand die Idee aber gut.
Ein paar Bemerkungen zu den einzelnen Geschichten:
Winter, Charline - Marskinder
Die Ich-Erzählerin liegt antriebslos und depressiv auf dem Sofa bei ihrer Schwester. Sie war in der Psychiatrie, ihre Schwester einer der ersten Menschen auf dem Mars.
Sehr gute kurze Charakterisierung (“Die Nacht hat noch nie etwas von mir verlangt. Nachts ist existieren genug.”), aber leider keine Handlung.
Stein, Katharina - Der Wert der Dinge
Die Geschichte einer Frau, die es trotz ihrer Angstzustände schafft, auf einer Raumstation zu arbeiten und diese sogar zu leiten. Gegen alle Probleme hat sie sich Lebenstraum erfüllt: “Weil ihr Traum jedes Opfer Wert ist.”
Gute Schilderung und dazu noch eine spannende Hypothese über eine zielgerichteten Evolution im All, die aber in der zu kurzen Geschichte nicht weiter ausgeführt wird.
Doubleu, Lee - Der Hobbyfriedhof
Der Ich-Erzähler besucht seine Oma. Er hat ADHS, wie Oma anscheinend auch. Er ist übrigens gender-fluid und die coole Oma bindet ihm jeden Tag ein farbiges Bändchen um, auf dem das für den jeweiligen Tag gewünschte Pronomen steht, damit sie sich daran erinnert: Am Tag der Geschichte ist das gelbe für “er/ihm” dran und deshalb verwende ich hier auch “er/ihm”. Oma hat auch ADHS und früher viel Ritalin genommen, bis es zum sogenannten "Ritalin-Crash" kam.
Die Geschichte hat schöne Details, wie Katzen, die “Mick Jagger” und “Yoko Ono” heißen, oder die Beschreibung technischer Unterstützung oder anderer kleiner Hilfsmittel in der Wohnung von ADHS Patienten. Irgendwie wirkte alles passend chaotisch auf mich. Die Probleme mit der Krankheit werden gut beschrieben und ein leichter Humor durchzieht die Geschichte.
Leider ist aber praktisch keine SF drin.
Rosenberg, Jol - HHH
Luan 36D, Pronomen en, nimmt an einem Test teil und erhält für sechs Monate eine neue 3-H-Einheit, einen Androiden, der Luan glücklich machen soll. Luan erzählt die Geschichte und wir erfahren von psychischen Problemen und finanziellen Problemen und letztere waren auch der Grund für die Teilnahme an der gut bezahlten Testphase.
Natürlich verändert die 3-H-Einheit Luas Leben, beeinflusst vieles zum Positiven. Aber nach einiger Zeit wird klar, dass nicht alle Auswirkungen gut sind und natürlich wirkt sich alles auch auf die Einheit selbst aus.
Mir hat der leichte Stil, der die Probleme aber nicht unterschlägt, und die Entwicklung der Figuren, einschließlich des Roboters, sehr gut gefallen. Jol findet dann sogar noch einen guten Schluss.
Ramin, Anne K. - Im Herzen der Maschine
“Die Maschine war unfehlbar”, das denkt die Ich-Erzählerin in dieser kurzen Geschichte mehrfach. Dabei kann ihr die Maschine nicht helfen, sie versinkt weiter in ihrer Depression und anderen Krankheiten. Obwohl ihr Job mit der Suche nach psychischen Erkrankungen zu tun hat, kann ihr nicht geholfen werden. Deprimierend.
(Das Geschlecht der Erzählerin wird nicht eindeutig benannt.)
Schulz, Paula - Die Koloratur des Fallenlassens
Cecile ist eine Steampunkerin und zum ersten Mal in der Silbernen Stadt. Dort hat sie Probleme bei der Fahrt mit der U-Bahn, weil sie u.a. Höhenangst hat. Eine ältere Frau hilft ihr und erklärt ihr ein wenig die Welt und die Technik.
Das Worldbuilding in der Geschichte fand ich schön, hier finden sich einige interessante Ideen. Auch der freundliche Umgang der Menschen miteinander und die “fürsorgliche” Technik gefielen mir. Cecile entwickelt sich schnell und hilft am Schluss noch jemand anderem.
Trotzdem war etwas zu wenig Handlung drin.
Dreßler, Saskia - Sternenängste
Sanariel, Pronomen sier, berichtet von ihrem ersten Flug im Raumschiff, bei dem sier massive Probleme wegen Flugangst bekommt. Trotzdem rettet Sanariel das Schiff und die Besatzung, weil Sanariels Fähigkeiten im entscheidenden Moment gebraucht werden.
Ein klassisches SF Setting, aber: Die Behandlung von Raumschiffen und insbesondere einer Dunkelwolke ist schlicht falsch und was eine “Lichtmeile” sein soll, weiß ich nicht.
Mira, Aiki - Ein Schritt ins Leere
Eine Liebesgeschichte, in der wir Sätze finden, wie: “Liebe ist nur für Geschichten” und “Menschen von der Erde sind nicht gut darin, Liebesgeschichten zu schreiben, deshalb lassen wir das KI machen.” (S. 120) und in der eine Hauptfigur genau solche KI generierten Liebesgeschichten korrigiert.
Die andere Figur ist bei der Raumfahrt. Die Geschlechter und Pronomen von beiden sind unklar.
Es ist schön großartig, was Aiki hier wieder macht: Figuren, denen man nahe kommt, eine Welt, die mit wenigen Worten als zukünftige erkennbar wird, gesellschaftliche und technologische Änderungen, eindeutig SF und dazu noch Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen - und ein starkes Ende.
Was will man mehr?
Tères, Marie - Tulpenfarben
Jesa arbeitet in einem Institut, in dem man versucht, besonders resistente Pflanzen zu züchten, um die Nahrungsversorgung für eine Megastadt sicherzustellen. Als persönliches Geheimprojekt versucht sie, eine besondere Tulpenart nachzuzüchten.
Sehr schön wird ihre Annäherung an Leander geschildert, der sehr verschlossen und abweisend wirkt und dem sie hilft, mit seiner psychischen Erkrankung fertig zu werden und sich Menschen wieder mehr zu öffnen.
Küper, Thorsten - Hesitation Marks
Eine gute Geschichte,die ich anfangs etwas seltsam erzählt fand, weil sie zwischen mehreren Zeiten hin und her springt.
Es geht um zwei verliebte Frauen, von denen eine eine KI entwickelt. Als sie erkennen muss, dass diese KI gefährlich wird, versucht sie, der KI ein Gefühl für Schuld zu vermitteln. Dies geschieht unter großem persönlichem Einsatz. Die Beziehung ist gut beschrieben.
Unter “Themen in der Geschichte” steht “Generisches Maskulinum”. Das hätte ich ohne diesen Hinweis gar nicht bemerkt.
Reß, Alessandra - Götter des verschobenen Teppichs
Eine Geschichte mit Humor, in der eine Frau ihre Zwangsstörungen der neuen Haushalts-KI als Religion “verkauft”, was wegen der Fürsorglichkeit des Computers unerwartete Auswirkungen hat.
Brenach, An - KI-ne Panik!
Noch eine Geschichte mit Humor. Es gibt einige absurde Situationen und eine KI, die nach einem Vorfall Angst entwickelt.
Der Weltenbau ist schön schräg: Wanderläden fliegen im Universum herum und treiben Handel. Sie erfüllen jeden Wunsch, der auf den jeweiligen Welten von Bedarfssensoren entdeckt wird. “Herr K” ist der Name des Verkäufers im von der KI Kaila
gesteuerten Raumschiff und das soll wohl an Kafka erinnern, ich habe aber eher an Lem gedacht.
Kehrberg, Simone - Neu formatiert
Eine kurze Geschichte, in der Julian sich an denen rächt, die ihn wegen seiner Probleme immer verlacht haben.
Richter, Lena - Toter Winkel
Die Ich-Erzählerin arbeitet auf einer Station für psychisch Erkrankte, als die Polizei auftaucht, weil anscheinend Medikamente gestohlen wurden.
Letztlich geht es darum, die eigenen psychischen Probleme zu erkennen, sie nicht zu verschweigen und dich auch helfen zu lassen.
Stance, C. N. - Ich und mein Parasit
Der Ich-Erzähler Siig arbeitet in einer Art Weltraumkneipe.Er ist ein Außenseiter, denn er trägt einen speziellen Parasiten auf dem Kopf, der anscheinend auch noch Depressionen verursacht. Eines Tages trifft Siig einen Leidensgenossen und schafft es auch nach längerem Zögern sich diesem zu öffnen.
Velten, Paula - Emmerich
Eine nette Geschichte um Dr. Draner, die auf einer Raumstation zusammen mit einer Gans lebt. Sie leidet unter Zwangsstörungen, aber genau dadurch rettet sie die Station und das Leben vieler Menschen.
Meier, Marie - Seelenruh
In einer Stadt, die in Ober- und Unterstadt geteilt ist, lebt Green in der Unterstadt. Er hat ein Hilfsmittel für die vielen Depressiven der Stadt, dort werden psychische Krankheiten offiziell nicht anerkannt. Eines Tages kommt Door zu ihm und lässt sich auch behandeln.Die beiden kommen einander näher, was ich gut beschrieben fand.
Allerdings wird die Geschichte dann für meinen Geschmack etwas überstürzt zu einem glücklichen Ende gebracht.
Hobusch, Nicole - Grenzwandlerin
Esra lebt alleine in einer Wohnung. Sie leidet an Wahnvorstellungen und traut sich kaum noch heraus. Seltsame Dinge geschehen ihrem Umfeld und da wir die Welt aus ihrer Sicht geschildert bekommen, wissen wir nicht, was Einbildung ist und was nicht.
Eine gemeine Pointe am Schluss.
Rehak, Jannika - Retrospektive
Ich finde es immer gut, wenn es in einer SF Geschichte mal um Kunst geht. Außer bei Kris Brynn habe ich das bei aktuellen Geschichten zuletzt selten gelesen. Hier geht es um Lorys van Beek, die es trotz ihrer psychischen Probleme (z.B. Angstzustände) bis zu einer Ausstellung in MOMA nach New York geschafft hat. Letztlich geht es darum, wie ein einzelner Mensch einen Unterschied machen kann und helfen kann, indem er im entscheidenden Moment einen anderen Menschen aufbaut.
Schön geschrieben, der SF Anteil spielt keine Rolle.