Ein Schritt ins Leere
von Aiki Mira
Auf den endgültigen Entzug ihres geliebten Raumfahrerx, mit dem sie eine ambivalente, aber innige Fernbeziehung gelebt hat, reagiert die erzählende Figur mit dem Entzug ihrer Medikation und entfesselt damit ihr Ljl^gl, das sie mit dem verlorenen Menschen verbindet. Dieser Prozess dauert 24 Stunden und ist Trauerarbeit und Selbstfindung zugleich. Ob das ein Sieg ist oder zumindest etwas Gutes, das bleibt unserer Interpretation überlassen, denn das Ganze endet mit einem Schritt ins Leere, ein Wort, das meistens negativ konnotiert ist, im Kontext der Geschichte aber auch auf etwas Positives verweisen könnte (viel Platz, um sich entfalten zu können; Leere des Weltraums, in dem der geliebte Mensch zuhause war). Jedenfalls finden wir beim Raumfahrerx den Topos der zuweilen auch vorteilhaften Neurodivergenz wieder und sei es nur als Behauptung.
Der Text ist besonders reich an Passagen, in denen Aikis Alleinstellungsmerkmale aufscheinen. Er ist ein Lehrstück darüber, wie bestimmte Dinge wirkungsvoll realisiert werden können, manchmal frage ich mich aber auch, besonders bei mancher Metapher, ob der Text bei uns, die ihn lesen, vielleicht zu viel voraussetzt, um noch halbwegs sicher so dekodiert werden zu können, wie es von Aiki intendiert war.
Aiki beweist ein zusätzliches Quäntchen Mut, wenn der Text am Schluss eine Prise figurative Typografie wagt und an anderer Stelle sexuell explizit wird, woran nicht wenige Menschen Anstoß nehmen könnten, wie es in anderen Threads ja schon mal der Fall war. Interessanterweise war dies in diesem Thread bislang nicht so, vielleicht, weil der Kontext stimmig und die Schilderung nicht objektifizierend wirkt. Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass im Kontext einer Kultur, in der Gruppenzugehörigkeit auch über den Austausch von Körperteilen gelebt wird, beide in der Geschichte erwähnten Transplantate weibliche Geschlechtsattribute sind (Brüste, Vagina) und dies dennoch nicht kommentiert wurde, obwohl es im Kontext viele Alternativen gegeben hätte. Wäre dies auch so gewesen, wenn Aiki ein alter weißer Cis-Mann gewesen wäre? Auch die Passage, die als positive Konnotation des Drogenkonsums verstanden werden kann, bewegt sich am Rande dessen, wovon wir ausgehen können, dass es keinen Anstoß erregen wird.
Es passt zu Aikis Weg, die Zukunft so zu beschreiben, wie Aiki die Gegenwart schildern würde, und zwar mit all ihren marginalisierten Facetten, möglichst frei von Wertungen und ohne allzu gegenwartsverhafteten oder anthropozentrischen Perspektiven. Dieser Ansatz wird dem Genre gerecht und knüpft an die ursprüngliche Agenda des Cyberpunks an. Das Setting ist denn auch eine typische Cyberpunkvision der Raumfahrt mit Parallelen zu Werken wie The Expanse von James S. A. Corey.
Ein Hinweis auf ein aktuell relevantes Phänomen, jedoch nach meiner Einschätzung ein in der Geschichte anachronistisches Detail, ist das Lektorat maschinell erstellter Liebesgeschichten. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass viele Menschen glauben, die Auffälligkeiten in heutigen Produkten der KNN würden auf Dauer persistieren. Ich bin mir ziemlich sicher, das werden sie nicht. Wir sollten unsere Fähigkeit nicht unterschätzen, uns selbst hinters Licht zu führen, sei es durch die Kapriolen unseres Geistes oder durch von ihm geschaffene Maschinen.
Bearbeitet von Christian Hornstein, Gestern, 20:30.