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Sind Protagonisten in einem Roman zwangsläufig das Sprachrohr des Autors?

Kritik Antiheld Held Ambibalent Autor Leser Moral Motivation

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3 Antworten in diesem Thema

#1 head_in_the_clouds

head_in_the_clouds

    Yoginaut

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Geschrieben 24 Juli 2025 - 16:36

Es ist riskant und vereinfachend anzunehmen, dass jede Figur in einem Roman das Sprachrohr des Autors sei: Zwar gibt es einige Autoren, die dies getan haben (z.b. Robert A. Heinlein in Person des Valentine Michael Smith in „Ein Mann in einer fremden Welt“ oder die Lazarus Long- Erzählungen), aber die meisten Autoren tun dies nicht. Man wird also oft Autor (und Werk) nicht gerecht, unterstellt man dies leichtfertig - insbesondere wenn der Charakter in seinen Moralvorstellungen und Überzeugungen uns nicht entspricht. 

Ihre
Figuren müssen nicht sympathisch sein. Man muss sie nicht mögen. Man muss sich nicht mit einer bestimmten Figur identifizieren, selbst wenn es sich um ihre Erzählperspektive handelt. Romanautoren arbeiten mit Figuren und Konzepten, um Handlung und Drama zu schaffen, die uns unterhalten und im besten Fall klüger über die menschliche Psyche und Motivationen zurücklassen als vorher. Und genau das bedeutet Fiktion. Sie bietet die Möglichkeit, einen Blick in das Leben fiktiver Menschen zu werfen, die uns und dem Autor hinsichtlich ihrer Überzeugungen und Handlungen sehr unähnlich sein können.

Manchmal macht
es der Autor leicht uns zu distanzieren - wie gegenüber der Figur des Robert Vaughan in J.G. Ballard’s hochkontroversem Roman „Crash“ und es ist offensichtlich das hier nichts propagiert werden soll  (trotzdem wurde es Ballard unterstellt).

Die für mich
interessantesten Figuren entstehen dabei oft unter Verwendung ambivalenter Charaktere, mit denen uns Autoren die menschlichen Höhen und Tiefen vorführen und uns im besten Fall über deren Charakterentwicklung eine differenzierende Haltung einnehmen lassen.

 

Hier einige prominente Beispiele aus der SF & F:

* Alex - in Anthony Burgess’ „A Clockwork Orange“
*
Case - in William Gibsons „Neuromancer
* Winston Smith – in Orwells „Nineteeneightyfour“
* Paul Atreides – in Frank Herbert’s Dune
* Ender Wiggin – in Orson Scott Card’s „Enders Game“
* Riddick – in Alan Dean Foster’s Buchfassungen Pitch Black / The Chronicles of Riddick
*
Thomas Covenant – in den gleichnamigen Chroniken von Stephen R. Donaldson

 


"Why should one be afraid of something merely because it is strange?"

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#2 ShockWaveRider

ShockWaveRider

    verwarnter Querulant

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Geschrieben 25 Juli 2025 - 06:56

Die offensichtliche Antwort auf deine Threadfrage lautet: "Nein."

Meiner Meinung nach macht es sogar große Autoren aus, Figuren zu erschaffen, die total eigenständig vor unseren inneren Leseraugen entstehen und auf ihre Art und Weise handeln. Natürlich spielen immer auch Facetten des Autors mit hinein. Aber bei der Rezeption eines Werkes ist das für mich bestenfalls sekundär. Bzw. wenn spekulative Fragen über den Autor (ist der Autor selber auch so einer? welche Ideologie will mir der Autor jetzt wieder einsublimieren?) für mich beim Lesen wichtig werden, ist das meist ein Hinweis auf einen handwerklich schlecht gearbeiteten fiktionalen Text.

 

Was mir bei deinen Betrachtungen aber komplett fehlt: der Erzähler.

Im Unterschied zum Autor ist der Erzähler eines Textes ein vom Autor geschaffener fiktiver Charakter. Laut Meinung einer überwältigenden Mehrheit von Literaturwissenschaftlern hat jeder fiktionale Prosatext einen solchen Erzähler, ob es dem Autor bewusst ist oder nicht. Viele der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (es fing schon im ausgehenden 19. Jahrhundert an) sind sich dieser Figur bzw. dieser Institution in ihren Texten bewusst, spielen damit oder problematisieren sie. Solche Bücher zählen für mich zu den interessantesten und reizvollsten Texten jener Zeit.

 

Ich habe das Gefühl, das Bewusstsein für die Existenz des Erzählers und die Notwendigkeit seiner Gestaltung durch den Autor schwindet immer mehr, sowohl bei den Lesys (für die ist das je nach Gusto oder Temperament des Lesys auch nicht unbedingt wichtig), aber vor allem auch bei den Autorys.

Ich kann es noch nicht richtig greifen. Aber ich habe das starke Gefühl, deine Frage kann man in der Tiefe nicht zufriedenstellend beantworten, wenn man die Erzählerinstanz nicht berücksichtigt.

 

Gruß

Ralf


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#3 Maxmilian Wust

Maxmilian Wust

    Infonaut

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Geschrieben 25 Juli 2025 - 11:31

Nein.

 

Mir ist bewusst, dass diese Frage durch die aktuellen politischen Bewegungen immens zum Thema wurde, aber ehrlich gesagt stößt es mir auf, wenn sich jemand pseudo-therapeutisch an dem Gedanken versucht "Der Protagonist denkt dieses oder jenes, ergo tut das auch sein Schöpfer". Ich glaube jeder hier, der auch ein Kunstfach studiert hat, wird darüber geschmunzelt haben, wie weit solche Interpretationen oft vom tatsächlichen Gedanken weggehen. Sie werden meiner Erfahrung auch vor allem von Menschen getroffen, die sich ganz bewusst über diesen oder jenen Autoren, Maler oder Kunstschaffenden echauffieren und ihm dunkle Seiten anhängen wollen.

 

Mag sein, dass das in seltenen Fällen zutrifft (wie bei Paul Gauguin, Akihito Tsukushi oder Jol Rosenberg, um wenigstens ein humanistisches Beispiel zu nennen), aber das sind wirklich nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Jeder, der ein bisschen professionell ans Storytelling geht, weiß, wie man Blaupausen erstellt und den Charakter innerhalb dieser Parameter agieren lässt. Worauf ich mich dabei einlassen kann, ist der Gedanke des Schauspielerns, also, dass der Autor diese Rolle für sich spielt – ich selbst spreche manchmal meine Dialoge ein, damit sie nicht ins OOC gehen –, aber wenn ich Kunst und Künstler nicht trennen würde, würde ich Reddit für einen Hort aus Serienmördern und Diktatoren halten. Und jede Literaturmesse für ein Irrenhaus.

 

Zudem mag ich es, wenn meine Charaktere eine andere Meinung als meine eigene vertreten. Das zwingt dann auch mich, in diese hineinzuversetzen und Rechtfertigungen dafür zu suchen. Sokrates und Thukydides wären stolz  :bighlaugh: 

 

Hinzu kommt auch: Habt ihr nie einfach mal testweise übertrieben, eine Szene komplett aus dem Ruder laufen lassen, nur um zu sehen, wie eure Leserschaft reagiert? Oder habt mal versucht, edgy und provokant zu sein, um euch selbst cool zu fühlen?

 

Um mal auf deine Beispiele einzugehen, head_in_the_clouds: Dass gewisse Alltagserlebnisse aus dem Alltag mit in die Werke fließen, halte ich für durchaus wahrscheinlich und sogar für die Immersion gesund.

  • Alex aus "Uhrwerk Orange" ist DIE Blaupause für jugendlichen L'appel du vide, bei dem dann komplett übertrieben wurde. In dem Fall könnte ich mir gut vorstellen, dass der Autor da "die Edge mit großen Löffel gegessen hat", wie man sagt – um sie dann mit einem ebenso religiösen Fanatismus zu konterkarieren.
  • Die Szene mit dem Wespennest in "Neuromancer" klingt für mich definitiv wie etwas, das William Gibson so ähnlich erlebt hat.
  • Winstons ständiges "Sich-hässlich-fühlen" mit schon fast frenetischem Fokus auf seine Krampfadern könnte George Orwell tatsächlich passiert sein.
  • Paul Atreides zeichnet ziemlich stark diese Hoffnung auf ein größeres, ungewöhnliches Leben ab, die jeder halbwegs normale Jugendliche durchlebt. Im Endeffekt ist es der Wunsch nach Superkräften, der dann auch erfüllt wird. Um dann im zweiten Roman ziemlich hart negiert werden.
  • Die Idee von "Enders Spiel" hatte doch so ziemlich jeder, der schon mal Warhammer 40,000 gespielt hat. "Was wäre, wenn das eine reale Schlacht wäre?" Die Vorlage zeichnet sich hier selbst  :wink2:
  • Riddick verkörpert aus meiner Sicht das klassische, stoische Männerideal (kampfstark, gefährlich, nicht an den Belangen anderer interessiert), das aus meiner Sicht etwas besser mit Rorschach aus "Watchmen" eruiert wurde. Einfach ein Bild, das jeder schon mal hatte, wenn er genug Wut oder Frust auf die Gesellschaft entwickelt hat und diese eher durch Rückzug als Vergeltungsgedanken ausgelebt hat. Wobei das wahrscheinlich wirklich nur auf Männer zutrifft.

Was ich sagen will: Diese Charaktere sind teilweise vermutlich durch ihre Schöpfer beseelt worden, eben mit Funken aus persönlichen Ängsten, Wünschen, Intifada und mehr, stellen aber keinesfalls deren Meinungen und Ideale dar. Sieht man sich z.B. Orson Scott Card an, so würde ich Gideon Wyeth aus seinem "Advent Rising" weit mehr zu einem Self-Insert oder Moralüberträger erklären als Ender Wiggins.


Bearbeitet von Maxmilian Wust, 25 Juli 2025 - 14:10.

"Part Five: Boobytrap the stalemate button!"


#4 Michael Tillmann

Michael Tillmann

    Yoginaut

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Geschrieben 27 Juli 2025 - 14:04

Nein.

 

Der Autor ist weder der Protagonist noch der Erzähler.

 

Nehmen wir einen Krimi:

 

Der Autor ist der bestialische Mörder.

Der Autor ist das bemitleidenswerte Opfer.

Der Autor ist der nach Wahrheit strebende Kommissar.

Der Autor ist gleichzeitig alle und auch alles. Es ist sogar die Tatwaffe und der "Wind in den Weiden".

 

Das Thema interessiert mich. Ich hab dazu sogar  eine Geschichte veröffentlicht:

 

"Bekenntnisse einer Spiegelfläche" in meinem Buch "Ein Gänsekiel aus Schwermetall" (EDITION MEDUSENBLUT/Boris Koch).

 

Sie handelt davon, daß ein Hotelspiegel einen Lustmord beobachtet und damit nicht klar kommt, daß er gleichzeitig den Mörder und das Opfer spiegelt.

 

Wäre der Autor nicht gleichzeitig Täter und Opfer, dann hätte er eine gespaltene Persönlichkeit. Das hört sich im ersten Moment komisch an, ich weiß. Aber wenn er mit einer Persönlichkeit den Täter und mit einer anderen Persönlichkeit das Opfer sprechen lassen würde, dann hätte er wirklich ein Problem in seinem Kopf. 

 

Das ist meine Sichtweise von Belletristik und die Stellung des Autors darin.





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