Du kannst doch nicht den real existierenden Sozialismus der Bundesrepublik Deutschland [...]
*hust hust*
Ich würde die SF nicht als Pool der Zukunftsprognosen sehen. Ein Autor entwickelt nunmal Vorstellungen, aus denen sich eine interessante oder wenigstens spannende Geschichte machen lässt. Ich denke, die beste SF ist die, die Verhältnisse der Gegenwart (!) aufnimmt und eine mögliche Zukunft entwickelt, die entstehen könnte, wenn man den gegenwärtigen Kurs weiter verfolgt. Das ganze ist dann eine Warnung vor dem Eisberg; zumindest soll der Autor ein Eulenspiegel und Karikaturist sein. Dabei darf man aber auch nicht vergessen, dass es bestimmte Trends gibt; ich meine jetzt nicht unbedingt Moden, sondern eher Weltanschauungen, die Moden bedingen. Nach meiner eigenen Weltanschauung ist die Weltanschauung der meisten Menschen heute vermutlich eher negativ, jedenfalls in meiner jungen Generation spüre ich das so (was für ein Satz...).
Es scheint bei Leuten meines Alters (ich bin 19) einen Drang zum "Neo-Barock" zu geben: Das Leben ist kurz, genieße es. Alle Probleme werden verdrängt, man flüchtet sich in irreale Phantasien und zerbricht sich nicht gerne den Kopf. Das ist mE mit ein Grund für den Aufschwung der Fantasy; man könnte ihn geschickt nutzen, um auf mit Fantasy verwobene SF hinzulocken (Steampunk, Steamfantasy...) .
Und es gibt einen Hang zum "Neo-Biedermeier": Überlasse die Probleme der Welt anderen und versuche, mit dir selbst zufrieden zu sein. Die Folgen: Die heranwachsende Leserschaft ist an Phantastik generell nicht mehr so stark interessiert. Ich bin zu jung um zu beurteilen, ob das früher anders war, aber ich habe den dringenden Verdacht, in einem sehr dekadenten Jahrzehnt zu leben und vermute, dass sich früher wesentlich mehr Menschen für Visionen begeistern konnten als heute und deshalb auch die SF im großen und ganzen qualitativ besser war (es kann aber auch daran liegen, dass ich die jüngere postmoderne Einheitsschreibe nicht mag). Wie passend, dass gerade Gothic und Horror so "in" sind, haben sie doch oft diesen Touch des Mittelalterlichen bzw. Viktorianischen, in dem die Zeit stillzustehen schien und es so gut wie keine merkbare kulturelle Evolution gab!
Es herrscht das Zeitalter der Konsumgesellschaft, und die stopft sich lieber den Bauch voll als sich hochgeistige Gedanken zum Klonen, zu zukünftigen Technologien, zu der Problematik des Begriffes "Realität" zu stellen. Warum auch? Das ist eine Gesellschaft der Egoisten, und Egoisten interessieren sich nicht dafür, wie man die Welt durch Visionen verbessern kann, solange sie selbst vom Schlechten nicht betroffen sind. Es gibt auch eine recht starke Opposition, die sehr wohl an der Welt jenseits der eigenen vier Wände interessiert ist, die sich politisch engagiert und aktiv für ihre Interessen gegenüber anderen eintritt; aber ich vermute dass diese Gruppe relativ gesehen kleiner ist als zu früheren Zeiten.
Meine Wünsche an die SF sind deshalb:
Sie sollte visionär, neu und unverbraucht sein, aber nicht utopisch (hier im Sinne von "nicht realisierbar"). Wir Jugendlichen mögen 50% unserer Lebenzeit betrunken oder bekifft sein, aber wir können dennoch durchaus entscheiden, was wir für realisierbar und logisch und deshalb auch für gut halten und was nicht. Wenn sich schon die wenigen der jungen "Denker" mit SF befasst, dann sollte SF wiederum auf die Probleme der Gegenwart, wie gesagt, eingehen und realistisch sein: d.h. sich mit aktuellen Problemen beschäftigen, die wirklich heiß diskutiert werden, und sie darf ruhig in naher Zukunft spielen, auch in einer Zeit wo Autos noch mit Benzin betankt werden und Zeitungen aus Papier bestehen. Zumindest mich würde es auch nicht sonderlich stören, irgendwo eine Jahreszahl zu lesen, die längst in der Vergangenheit liegt (2001 - Odyssee im Weltraum...).
Das Hauptproblem ist wohl, dass es schwierig ist, Innovationen zu schaffen. Heute erscheint alles nur noch ein Abklatsch vergangener Stile und Moden zu sein. Heute sind die 80er in, gestern waren es die 70er. (Ich frage mich wann die 40er in Mode kommen und alle in grauen Wehrmachtsuniformen oder zumindest mit Judensternen rumlaufen). Man muss da schon verdammt kreativ sein, um noch etwas zu schaffen, das wirklich eine Bedeutung hat, eine Meinung, die nicht schon von jemand anderem gesagt wurde. Ich weiß, man sagte schon vor 100 Jahren, dass "alles, was erfunden werden kann, bereits erfunden ist" und es dann doch ganz anders kam; aber das Heute kommt mir verdammt so vor.
Meines Erachtens ist die gesamte Medienwelt in der vergangenen Zeit sehr abgestumpft: Der Anspruch ist stark gesunken, weil meine Generation offenbar jede Form von Medium als Unterhaltung betrachtet, nicht mehr und nicht weniger. Man braucht sich nur in den Deutschunterricht zu setzen. Liest man eine Lektüre, regen sich alle darüber auf dass das Buch langweilig wäre - was es in der Regel auch ist - , aber wird die eigentliche Aussage und Intention eines Textes besprochen, hat der Lehrer 30 Fragezeichen vor sich sitzen... wohin soll das führen, gerade weil die SF eben nicht bloß unterhalten will, sondern den Leser bewusst und offen auffordert, sich seine eigene Meinung zu bilden und über eine Sache zu philosophieren?
Worauf ich hinaus will ist die Forderung nach besseren Büchern allgemein, auch in der SF. Sie sollten nichts von ihren früheren Qualitäten aufgeben. Wenn ich einen Stoff interessant finde, dann lese ich ihn, auch wenn er vor mittlerweile 200 Jahren geschrieben wurde, in einem grauenhaft altertümlichen Deutsch verfasst, und es mittlerweile eine Zillion Verfilmungen und Persiflagen gibt. Die Vision stellt einen geistigen Anspruch an den Leser, nicht die Sprache. Ich vermute dass den meisten auch der Umfang eines Buches egal wäre; ein Harry Potter mit 700 Seiten findet ja auch viel Absatz. Allerdings ist Buch nicht gleich Buch. Wenn ich heute ein Buch für meine Altersgruppe kaufen gehe, das in der jüngsten Zeit geschrieben wurde, dann verkaufe ich im Gegenzug meine Seele an den Teufel. Warum? Anstatt ein einziges Buch zu drucken, dass teuer und umfangreich, aber in sich geschlossen ist, werden heute gerne Serien produziert; So muss sich der deutsche Leser von "Eine Reihe unglücklicher Ereignisse" dreizehn Bücher einer Serie zulegen, die jeweils 13 Euro kosten, und das bei einem Umfang von etwa 200 Seiten je Buch. Wäre ich nicht so verschossen in die Serie, handelte es sich nicht um Kinderbücher und wüsste ich nicht dass die englischen Bücher billiger sind, würde ich das als Abzocke pur empfinden. Wer mit solchen Drogen aufwächst, ist in zehn Jahren längst abhängig - ich schätze, dass einzelne, dünne Serienhefte zu einem moderaten Preis verkauft sich durchsetzen werden. Dementsprechend werden die Geschichten pro Heft etwa so viel Aussagekraft besitzen wie die Dialoge in GZSZ. (Falls aktive Autoren anwesend sind: lasst es nicht soweit kommen! Schreibt Wälzer oder wenigstens einzelne Werke statt Serien! Bewahrt der Literatur ihren intellektuellen Touch!)
Das führt gleich zum zweiten Punkt: Ich denke dass sich die Schwerpunkte der SF verlagern müssen, damit sie im Medienangebot der Zukunft überleben kann. Wir hatten bisher immer nur von Büchern geredet. Ich selbst lese sehr gerne, aber Druckerzeugnisse werden von meinen Altersgenossen eher ignoriert oder belächelt. Deshalb sollte sich die SF der Zukunft nicht allein auf Bücher beschränken, wenn sie mehr als nur eine Handvoll ansprechen möchte. Man kann visionäre Ideen auch in Filmen und Computerspielen umsetzen; dort sind sie für die meisten Jugendlichen am interessantesten, am einfachsten dargeboten (Motto: möglichst wenig denken!) und gleichzeitig erreicht man damit auch den größten Teil der Zielgruppe. Einige Filme der jüngsten Vergangenheit haben ja bewiesen, dass sie sowohl recht durchdacht als auch gutaussend Kultstatus erlangen können, und das obwohl SF als abendfüllender (Kino-)Film anscheinend gar nicht so sehr beliebt ist und meiner Erfahrung nach die meisten lieber eine Kinokarte für American Pie und Konsorten (*kotz*) kaufen. Ich denke da an Matrix, Cube und Equilibrium (als moderner Fahrenheit 451-Aufguss). Das sind natürlich alles Filme, die sehr aufbereitet wirken: Ein hohes Maß an Spezialeffekten, z.T. wird die Story dünn, es gibt unfreiwillige Komik etc... Popkornkino, das wohl nicht so beliebt wäre, wenn es den Verstand mehr ansprechen würde als das Auge. Aber solche Filme eignen sich doch hervorragend als Einstiegsdroge! Wenn sich die Zeiten nicht bald ändern und die Dekadenz und der Pessimismus der Gesellschaft durch eine Revolution o.ä. abgeschafft wird, braucht die SF mE eine breitere Basis als bisher, um überleben zu können.
Und jetzt wo ich das Schlagwort genannt habe: Die Schwerpunkte der SF-Thematik muss sich verlagern. Was ich damit meine, erkläre ich am besten anhand ein wenig Wehmut.
Ich wünschte, ich hätte den Tag live miterlebt, an dem Neil Armstrong auf dem Mond landete; stattdessen bin ich in dem Jahr geboren, in dem Tschernobyl hochging und die Challenger explodierte, und die MIR wurde vor vier Jahren im Meer versenkt. Wenn George W Bush davon redet, dass er eine Mission zum Mars plant, dann kann ich das Feuer und die Begeisterung, die er bei vielen auslöst, nicht verstehen, weil die Mondlandung und die meisten anderen positiven Meilensteine der Raumfahrt für meine Generation eben nur ein bisschen Geschichte ist. Wenn man mir von der Angst vor dem Atomkrieg erzählt, kann ich das nicht nachvollziehen, weil ich den Kalten Krieg nicht bewusst erlebt habe. Wenn man mir vom Kommunismus/Sozialismus vorschwärmt, verstehe ich diese Begeisterung nicht, weil sich diese Ideologie als dem Kapitalismus unterlegen erwiesen hat.
Worauf will ich hinaus?
Die Welt hat sich in den letzten paar Jahren sehr stark verändert. Raumfahrt, das Szenario des Nuklearen Winters oder politische Ideologien, damit können wir jungen Menschen einfach zu wenig anfangen. Als mögliche verwertbare Themen für die zukünftige SF halte ich z.B. Klonen, Genmanipulierung, der Wert des menschlichen Lebens (vgl. Euthanasie, Todesstrafe), Umwelt und Klimawandel, so ziemlich der ganze Cyberpunk, Liberalisierung der Wirtschaft und Bildung des "Wirtschaftsabsolutismus'", Polizeistaat und Terrorismus, Stagnation der Wissenschaft, die Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine. Diese Themen schließen eine Menge der "alten" SF mit ein, z.B. das Klischee Roboter, 1984. Ich will also nicht die alte SF vollkommen über den Haufen werfen, sondern lediglich um zukunftsträchtige Themen, die Jugendliche heute interessieren, erweitern. Vermutlich wird dann das Interesse an einigen Themen zurückgehen. Bedeutet das, sich von SF á la Star Trek zu entfernen? Ja, ein Stück. Es mag Zeiten geben, in der die Raumfahrt wieder aufblüht und deshalb auch wieder in der Literatur/Kunst allgemein interessant wird; doch ich fürchte, die nächsten paar Jahre wird das wohl nicht geschehen.
Hm... last but not least ein paar Beispiele, wie ich mir die zukünftige SF vorstelle. Da wäre Eschbachs "Eine Billion Dollar", oder ein Roman der sich mit Klonen beschäftigt und dessen Autorin ich leider vergessen habe, "Blueprint"; Im Bereich Film z.B. "Gattaca", "AI".
...bleibt die Frage, was einen Klassiker auszeichnet. Ich würde sagen, ein Klassiker ist ein Roman, das sich nicht mit einem Trend auseinandersetzt, sondern Allgemeingültigkeit besitzt. Ich finde die Foundation-Trilogie ist da ein gutes Beispiel, denn es gibt religiöse, politische, technische, ethische Aspekte, die angesprochen werden, und deshalb wird man Asimov auch lesen wenn niemand mehr etwas von Raumschiffen und fremden Planeten wissen will, oder wenn niemand mehr an Politik-SF interessiert ist. Ist ein Klassiker = ein Meilenstein eines bestimmtes Subgenres, z.B. Neuromancer? Da bin ich zweigeteilt. SF ist nicht gleich SF, es gibt Leute die lieben politische Utopien und verabscheuen Cyberpunk, Ich würde sagen, solche Bücher wären eher Klassiker im weiteren Sinne. Ist also die SF der Zukunft eine SF ohne Klassiker? Nicht wenn sie es versteht, mehrere interessante Themen ansprechend in einem Roman/Film darzustellen. Matrix ist nicht das perfekte Beispiel... aber hier hätten wir z.B. Virtuelle Welten, Physik und Naturgesetze UND den Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Maschine.
Hach... ich könnte diesen Artikel stundenlang weiterschreiben, aber ich glaube, ich sollte langsam mal ins Bett.
Bearbeitet von Pixelprimat, 14 April 2005 - 00:46.