Mindblasted, Deine beiden Fragen sind Gold wert.
Ich finde auch, daß Fragen über den Zusammenhang (die Konventionen; die ›Notwendigkeit‹) von HEROISMUS UND ESKAPISMUS ein guter Hebel sind, um die Dielenbretter der Phantastik (bzw. Fiktionen) anzuheben.
Aber wiegesagt: Eskapismus an sich in erstmal nicht schlechtes oder tolles. Will man Eskapismus bespiegeln, sind die Fragen »Welche Art von Flucht?« und »Wovor/Wohin wird geflüchtet?« bedeutsam.
Auch hier wieder unverlangt ein Schopenhauer-Auszug (ich liebe dem seine Sprache und finde es erhellend, wie wenig sich der Diskurs in den letzten 150 eigentlich geändert hat, wenn man sich in die damaligen Begrifflichkeiten ein wenig engehört hat).
— Schopenhauer spannt einen Gegensatz zwischen dem SCHÖNEN (heute: ›engagierte, kritische Fiktionen‹) und dem INTERESSANTEN (heute: ›Unterhaltungskram, Pageturner‹) auf. Fette Hervorhebunen von markanten Begriffen wieder von mir:
Die Schönheit besteht darin, daß das Kunstwerk die Ideen der Welt überhaupt, die Dichtkunst besonders die Idee des Menschen deutlich wiedergiebt und dadurch auch den Hörer zu Erkenntniß der Ideen hinleitet.
… Hingegen interessant nennen wir ein Drama oder eine erzählende Dichtung dann, wenn die dargestellten Begebenheiten und Handlungen uns einen Antheil abnötigen, demjenigen ganz ähnlich, welchen wir bei wirklichen Begegenheiten, darin unsere eigene Person mit verflochten ist, empfinden. … wir erwarten mit Anspannung die Entwicklungen der Begebenheiten, verfolgen mit Begierde ihren Fortgang, empfinden wirkliches Hezklopfen und Herannahen der Gefahr, unser Puls stockt, wann solche den höchsten Grad erreicht hat, und klopft wieder schneller wann der Held plötzlich gerettet wird; wir können das Buch nicht weglegen, ehe wir zum Ende gekommen, wachen auf diese Art tief in die Nacht aus Antheil an den Besorgnissen unseer Helden, wie wohl sionst durch unsere eigene Sorgen.
… Es ist offenbahr, daß, was von einer Dichtung dieser Art in Bewegung gesetzt wird, unser Wille ist nicht nicht bloß die reine Erkenntniß. {…} Wäre das Interessante ein Mittel zur Erreidchung des Schönen; so müßte jede Interessante Dichtung auch schön seyn. Das ist sie aber keineswegs. Oft fesselt uns ein Drama oder Roman, durch das Interessante, und ist dabei so leer an allem Schönen, daß wir uns hinterher schämen dabei geweilt zu haben. Dies ist der Fall bei manchem Drama, welches durchaus kein reines Bild vom Wesen der Menschheit und des Lebens giebt, Karaktere zeigt die ganz flach geschildert oder gar verzeichnet und eigentlich Monstrositäten sind, dem Wesen der Natur entgegen: aber der Lauf der Begegenheiten, die Verflechtungen der Handlung sind so intrikat, der Held ist userem Herzen durch seine Lage so empfohlen, daß wir uns nicht zufrieden geben können, bis wir das Gewirre entwickelt, und den Helden in Sicherheit wissen: der Gang der Handlung ist dabei klüglich beherrscht und gelenkt, daß wir stets auf die weitere Entwicklung gespannt werden und sie doch keineswegs errathen können, so daß zwischen Anspannung und Ueberraschung unser Antheil stets lebhaft bleibt und wir, sehr kurzweilig untergalten, den Lauf der Zeit nicht spüren.
… Vereinbar mit dem Schönen ist also das Interessante allerdings … bei dramatischen und erzählenden Werken {ist} eine Beimischung des Interessanten nothwenidig, wie flüchtige, bloß gasartige Substanzen einer materiellen Basis bedürfen um aufbewahrt und mitgetheilt zu werden. … {Das Interesassante} soll zur Verbindung der Bilder, durch welche der Dichter uns die Idee zur Erkenntnis bringen will, nur so dienen, wie eine Schnur, auf welche Perlen gereiht sind, sie zusammenhält und zum Ganzen einer Perlenschnur macht. Aber das Interessante wird dem Schönen nachtheilig, sobald as dieses Maas überschreitet: dies ist der Fall, wenn es uns zu so lebhaftem Antheil hinreißt, daß wir bei jeder ausführlichen Schilderung die der erzählende Dichter von einzelnen Gegenständen macht, oder bei jeder längeren Betrachtung, die der dramatische Dichter seine Personen anstellen läßt, ungeduldig werden, dem Dichter anspornen möchten, um nur rascher die Entwicklungen der Begebenheiten zu verfolgen. Denn in epischen oder dramatischen Werken, wo das Schöne und das Interessante gleich sehr vorhanden sind, ist das Interessante der Feder in der Uhr zu vergleichen, welche das Ganze in Bewegung setzt, aber, wenn sie ungehindert wirkte, das ganze Werk in wenigen Minuten abrollen würde: hingegen das Schöne, indem es uns bei der ausführlichen Betrachtung und Schilderung jedes Gegenstandes festhält, ist hier was in der Uhr die Trommel, welche die Entwicklung der Feder hemmt.
Das Interessante ist der Leib des Gedichts, das Schöne seine Seele. {Fußnote Schopenhauers: Im epischen und dramatischen Dichtungen ist das Interessante, als nothwendige Eigenschaft der Handlung die Materie, das Schöne die Form: diese bedarf jener um sichtbar zu werden*.}
(Aus dem Nachlass; »Über das Interessante«, 1821)
* Man beachte dazu, daß ›phantastisch‹ eben ursprünglich ›erscheinen lassen‹, ›sehen machend‹ bedeutet.
Als wunderbares Exempel eines Autoren, der Interessantes UND Schönes in seinen Werken wohlfeil vermengt, führt Schoppi Walter Scott an (genauer: dessen »The tales of my Landlord«).
Es ist das interessanteste Dichterwerk das ich kenne, an ihm kann man am deutlichsten alle {…} Wirkungen des Interessanten wahrnehmen; zugleich aber ist dieser Roman durchwegs sehr schön, zeigt uns die mannigfaltigsten Bilder des Lebens, mit frappanter Wahrheit gezeichnet, und stellt höchst verschiedene Karaktere mit großer Richtigkeit und Treue auf.
Grüße
Alex / molosovsky
Bearbeitet von molosovsky, 01 Januar 2007 - 22:49.