...Die als grundlegende Struktur beschreibbare systematische Gattung realisiert sich konkret in der historischen...
sprich: die Struktur ist die gleiche auch wenn die Benennung eine andere ist?
Siehe SF -> voyages extraordinaires bei Verne?
Nicht nur die Benennung; die konkreten historischen Gattungen oder vielmehr die Werke, die diese ausmachen, sind natürlich nicht alle identisch, sondern unterscheiden sich, die grundlegende Struktur ist aber die gleiche.
wenn man die historischen Gattung bestimmt hat - kann man sie der systematischen Gattung von Todorov zuordnen. Gibt das nicht schon ein Unschärfeproblem bei der historischen Gattung (wie wir das ja tagtäglich erleben) das sich dann bei der Zuordnung zur systematischen Gattung fortsetzt und eventuell verstärkt? Jetzt mal rein Interessehalber.
Das Unschärfeproblem existiert in der Tat und genau hier liegt ja das Problem. Einerseits sind Gattungen ja etwas, was ohne Zweifel existiert. Wir alle kennen Gattungskonventionen, die Werke bauen auf diese auf etc. Das ist das, was ich in Kapitel 2.1 darzulegen versuche. Zugleich sind aber ja schon die historischen Gattungen nicht eindeutig bestimmbar. Man nehme die
Gothic Novel. Ich weiss nicht, ab wann dieser Begriff überhaupt gebraucht wurde - wahrscheinlich relativ früh -, aber Walpole ging bei
Castle of Otranto nicht hin und sagte: "Ich erfinde jetzt ein neues Genre, das Gothic Novel heisst." Dennoch ist es offensichtlich, dass diese Erzählung sehr einflussreich war, viele Nachfolger fand - dass sich hier ein Genrebewusstsein entwickelte. Und irgendwann hat dann jemand den Begriff 'Gothic Novel' geprägt und allmählich bildete sich ein Kanon, der heute als Kernbestand der Gothic Novel gilt. Die Sache hätte aber auch ganz anders laufen können und wir könnten heute keine Gattung haben, die Gothic Novel heiss.
Todorov würde wohl argumentieren, dass er das Unschärfeproblem durch seine Unterscheidung eben behebt, weil er ja mit systematischen Gattungen arbeitet, die präzise sind.
Kleiner Exkurs: Man muss fairerweise auch sagen, dass dieses Unschärfeproblem weit verbreitet ist. Man schaue sich nur einmal an, wo das Modell, an das sich
Todorov anlehnt, ursprünglich herkommt: aus der Linguistik. Gibt es Unschärferes als den alltäglichen Sprachgebrauch?
Im Grunde hast Du dieses Problem ja immer, wenn Du die Wirklichkeit in Modellen abbildest, also so ziemlich in jeder Wissenschaft. Das wird in der Biologie und vor allem in der Medizin besonders deutlich, wo die Realität ja oft nicht genau dem Lehrbuchmodell entspricht. Krankheit x hat normalerweise die Symptome y und z, bloss in diesem Fall ist es anders. Und ein Tiger ist normalerweise so und so gross, kommt dort und dort vor und verhält sich auf eine bestimmte Weise. Und dann gibt es aber den Tiger, der grösser ist und an einem Ort vorkommt, an dem er nicht vorkommen sollte etc. Es ist ja kein Zufall, dass in Medizin- und Biologiebüchern nach wie vor viel mit Zeichnungen gearbeitet wird, denn die Realität sieht eben oft nicht so aus, wie das Idealmodell, das die Studenten lernen müssen. Die Unschärfe allein macht theoretische Modelle aber nicht per se unbrauchbar.
Kurz und gut: Deute ich Dein Post richtig, dass das Verständnisproblem ausgeräumt werden konnte, oder müsste noch was ergänzt werden?