Danke für den Start dieses sehr spannenden Threads, Michael, der schon eine Vielzahl hochinteressanter Antworten hervor gebracht hat. Aus diesem Grund bitte ich um Nachsicht für jetzt recht viele Quotes, ich versuche, mich kurz zu fassen:
Die Vertreter des Exploitation-Genres waren künstlerische Zweit- und Resteverwerter. Sie haben
keine eigenen thematischen Innovationen gesetzt, sondern sich an vorhandene Erfolge, Themen
und Diskussionen angehängt, seien es Sex, Crime, oberflächliche Exotismen oder was auch immer.
Ich würde die Aussagen in Deinem Ausgangsposting gerne modifizieren und differenzieren wollen. Modifizieren insofern, auch anhand Deiner Beispiele, dass es für mich schon einen Unterschied macht, welche "Spähren" ein Autor anspricht: Natürlich sind fast alle Themen immer schon "da" gewesen, sie aber im Rahmen eines populären Bestsellers größeren Kreisen zur Diskussion zu stellen, halte ich schon für eine originäre Tat und keine Nachahmung, die insbesondere dann nicht verwerflich ist, wenn der Autor famos zu unterhalten weiß. Sicher gab es Gender-Debatten und Dino-Dauerbrenner schon vor Crichton, meine im wahrsten Sinne des Wortes durchwachten Nächte mit "Disclosure" und "Jurassic Park" würde ich aber nicht missen wollen. In der Breite hat sich Crichton eben nicht 'dran' gehängt, sondern das Thema in breitere Kreise überführt. Ähnliches gilt für Andreas Eschbach: Wenn er einen alten Topos wie die Zeitreise so verpackt wie im "Jesus Video" - da kann ich nichts Kritikwürdiges empfinden. Ein Zeitreiseroman mit einem so befriedigenden Ende (gerade, weil es so ambivalent ist), das soll ihm erstmal jemand nachmachen.
Und, Andreas, Du solltest die Titulierung als "deutscher Michael Crichton" ruhig als Ehre empfinden. Zum einen kommt so niemand mehr auf die Idee, Dich immer noch als 'Shooting Star'
zu bezeichnen und zum anderen trifft die Titulierung Deine Romane zwar nicht genau, aber zumindest so ungefähr.
Und Differenzieren würde ich gern solche Autoren wie eben gennant zu wirklichen Resteverwerten, also die wirklichen Schattengewächse: Das sind für mich Autoren, die sich dann DARAN noch dran hängen, wie die diversen Dan Brown-, Tom Clancy und auch Stephen King-Epigonen der letzten Jahrzehnte die entweder bewusst epigonal schrieben, oder von den Verlagen so verkauft wurden (wofür sie dann natürlich nur zum Teil etwas konnten). Das ist jetzt etwas willkürlich in einen Topf geworfen, aber zwischen einem Michael Crichton, der gekonnt populäre Themen besetzt und einem John Saul, der einfach Kings Erfolgsrezepte kopiert, liegen schon noch Welten. Für den Deutschen Markt könnte man die ganzen Autoren nennen, die sich jetzt noch an den Fantasy-Völker-Romane-Trend anhängen, weil es sich eben gut verkauft. DA treffen Deine Vorwürfe (geistige Unbeweglichkeit usw.) dann alle zu.
Hin und wieder mal was Außergewöhnliches, na gut. Aber bei 90 % meiner Lektüre hätte ich gerne immer wieder nur das, von dem ich genau weiß, dass es mir zu lesen Spaß macht. Und das soll auch bitte fleißig weiter geschrieben werden.
Bis vor einige Zeit habe ich sehr ähnlich gedacht, aber je älter ich werde, desto mehr ermüden und langweilen mich solche Wiederholungen. Du würdest als Analogie vermutlich verwenden, dass Literatur da vergleichbar ist mit Sex oder Schnitzel mit Pommes (bzw. in Deinem speziellen Fall: gut gewürzte Grashalme), also dass etwas Schönes auch immer wieder Spaß macht. Ich würde im Gegensatz dazu immer mehr zur Analogie mit dem mehrfach aufgebrühten Teebeutel greifen: Man weiß, dass der Tee schmeckt, aber jedes Mal wird es etwas fader und labbriger. Der Spaß an dieser spezifischen Form von sich wiederholender Schönheit nimmt kontinuierlich ab, für mich. Etwas Außergewöhnliches zu lesen hat für mich also (da müssen wir mal ehrlich sein, oder, das spielt bei vielen durchaus eine Rolle!) immer weniger etwas mit "Abgrenzen von der Masse" zu tun (auch dieses Forum ist voll mit Postings mit "Mainstream"-Schelten...), sondern mit Notwehr, weil mich vieles sonst anödet. Und um S.T. Joshis Begriff des 'negativen Elitismus' zu benutzen, bevor Du wieder mit dem Schnösel-Argument kommst, Dirk: Gewisse Arten von Bestsellerfutter lese ich nach wie vor für mein Leben gerne und werde mir das auch nicht nehmen lassen (Eschbach, Clancy, Grisham - Crichton geht ja leider nicht mehr, seufz), aber es wird zumindest bei mir weniger. Und einfach weniger lesen möchte ich gar nicht. Da kann ich mich Michael anschließen: Ich möchte auch immer mehr davon lesen, wo ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Allerdings muss man natürlich rechtzeitig die Reißleine ziehen, wenn das, was da ankommt, Mist ist. Du wirst jetzt sagen, Dirk, dieses Mist-Risiko umgehst Du durch Deine Lesestrategie ein wenig. Das ist dann halt eine Frage unterschiedlicher Abwägungsentscheidungen.
Die Welt und die Kulturen sind enger zusammengerückt. Heute schadet ein eingeschränkter bildungsbürgerlicher/eurozentrischer Blickwinkel nur. Will sagen, die Schüler sollten nicht nur etwas über
Klassiker sondern auch über Genreliteratur lernen, sie sollten nicht nur europäische oder amerikanische Topnotches lesen,
sondern auch asiatische oder afrikanische Literatur, damit sie kulturell etwas mehr auf die Welt vorbereitet sind, mit der
sie es heutzutage unweigerlich zu tun bekommen werden.
Ich weiß, alles sehr utopisch
Alles richtig, aber alles wirklich sehr utopisch. Vielleicht müssen wir uns in Europa einfach auf eine eurozentrischen Standpunkt konzentrieren, denn ein Schuljahr ist kurz und wenn man von einem Lehrer auch noch erwartet, neben den europäischen Klassikern auch noch Weltliteratur wie das indische Mahabharata oder die chinesischen Klassiker von Luo Guanzhong parat zu haben, das dürfte Lehrer, Schüler und Unterrichtspläne schlicht überfordern. Es muss nun wirklich nicht immer Goethe und Schiller (oder, je nach politischer Einstellung des Lehrers: Heinrich Böll und Gudrun Pausewang) sein, aber irgendwo muss man ja mal anfangen - und dann ist die Schulzeit auch schon wieder vorbei.
Ich würde darunter aber auch die "Abschöpfer" zählen, die vom Erbe und der Orginalität eines anderen Autoren schöpfen, bis alles kaputt geschrieben ist, was noch an Würde da war. Frank Herberts Dune ist so ein Beispiel, wo aus jedem Bierdeckel, den Herbert angeblich mal bekritzelt hat, eine Trilogie hervorgebläht wird
Das wäre für mich nochmal eine andere Kategorie als die, die ich oben meinte. Diese Autoren sind für mich nicht gedankenfaul, sondern, sagen wir es mal ganz vorsichtig, "geschäftstüchtig". Dass sie im Zweifel einen zuschanden gerittenen Gaul noch zu Tode reiten, wenn der sich schon nicht mehr bewegt, steht auf einem anderen Blatt. Dies wäre einen eigenen Thread wert, dem ich dann wohl den Titel "Literatur-/Autorenfranchising" geben würde - kein neues Thema (sowas gibt es seit Jahrzehnten, siehe V.C. Andrews etc.), aber eines, was definitiv die letzten Jahre mehr geworden ist (Zimmer Bradley, Ludlum, Robert Jordan). Weil sich Autoren nicht mehr einfach vom Schnitter verbieten lassen, nach ihrem Tode weiter "Neues" zu publizieren - bzw., genauer, publizieren zu lassen. Danke übrigens für die lobende Erwähnung meines Blogs, Lucardus.
DPP und Jugendbuchpreis? Wir werden es bei der Diskussion für 2011 mal andenken.
Erst einmal: Oates verkauft sich von den dreien mit Abstand am schlechtesten - und verglichen mit Autoren wie Schätzing könnte man sagen, sie verkauft sich überhaupt nicht (in Deutschland) ...
Houellebecq verkauft sich, zumindest wenn ein neues Buch kommt, meiner Meinung nach in erster Linie, weil die Menschen einen Skandal erwarten, bzw. weil das Erscheinen seiner Bücher meistens von irgendeinem Skandal begleitet werden. Desweiteren erhoffen sich die meisten Welthass und Sex in den Büchern zu finden, das hat weniger mit seiner literarischen Qualität zu tun, denke ich.
Roth - das ist ein anderes Phänomen. Komischerweise höre ich dauernd von Leuten, die seine Bücher kaufen, genervte Kommentare, wenn sie reingelesen haben. Möglicherweise kaufen sie ihn aus so einer Art "Pflichtbewusstsein", weil er dauernd im Feuilleton besprochen wird?Nebenbei bemerkt: Ich finde es nicht sonderlich schlimm, wenn Autoren schreiben, um Geld zu verdienen und sich deshalb anbiedern. Ich muss sie ja nicht lesen.
Dass Verlage wirtschaftlich denken, mag für einige Autoren bedauerlich sein, aber nicht zu ändern. Autoren, die da mitmachen, obwohl es gegen ihre Ansichten verstößt, sind selber "schuld". Aber die müssen selbst wissen, was sie tun.
..und wir müssen es nicht kaufen. Yep. Zu Deinen Ansichten oben kann ich Dir eigentlich nur beipflichten. Joyce Carol Oates habe ich selbst für mich erst vor einiger Zeit entdeckt und lese nur die Originale, weil ihre deutschen Verlage ihren gigantischen Output, der jährlich stark anwächst, nach meiner Beobachtung nur sporadisch publizieren. Dass trotzdem eine Menge Titel von ihr auf Deutsch erhältlich sind, sagt da nicht viel, weil es noch viel mehr Bücher von ihr gibt, die nicht übersetzt wurden oder werden. Und wenn, dann nicht so schnell. Ein untrüglicher Indikator für nur mäßige Verkaufszahlen. Bei Houellebecq glaube ich auch an das "Skandal-Argument" und genervt sein bei Roth kann ich aus eigener Erfahrung etwas bestätigen, wobei ich seine alten Klassiker nicht kenne, seinen neuen "The Humbling" aber zum Beispiel tatsächlich nervig fand.
Anders verhält es sich bei Retorten-Thrillern von Schlage eines "Schwarmes", die konkret auf die Bedürfnisse einer breiten Leserschicht angelegt sind, und geschickt die Erwartungen z. B. zumeist grün wählender Mülltrenner und Delphin-Freunde bedienen, garniert mit einem leichten Touch Antiamerikanismus, um auch die 68er und Alt-Hippies sowie den akademischen Nachwuchs zufriedenzustellen. Hier sehe ich im Gegensatz zu Andreas nicht die Spur einer Idee oder gar einer Vision, denn was hier extrem pseudowissenschaftlich als vermeintliche Aufklärung daherkommt, ist m. E.. knallhartes Kalkül, von der Seitenschinderei, die heutzutage wohl en vogue ist, ganz abgesehen. Ich habe das Buch allerdings nicht bis zu Ende gelesen; vielleicht enthält es doch ungeahnte Qualitäten, die mir deshalb entgangen sind ...
Danke, Frank, für die grandiose "Schwarm"-Zusammenfassung und Deutung. Du hast mit allem Recht, Frank ich habe das nur selten so schön deutlich und amüsant gelesen und sehr gegrinst. Ich würde das aber nicht als Kritik am Roman ummünzen wollen, denn auch das von Dir beschriebene Publikum möchte halt seine Bionade-Blockbuster und auch wenn man Schätzing Kalkül untersellt, es ist immerhin handwerklich gekonntes Kalkül. Von der Seitenschinderei und dem wirklich schwachen Finale abgesehen, habe ich den "Schwarm" mit großem Vergüngen gelesen, obwohl ich nicht zu dem von Dir korrekt identifizieren Zielpublikums Schätzings gehöre und mit Bionade (oder Indianern und Delphinen) weder als politische Geisteshaltung, noch geschmacklich etwas anfangen kann und Müll nur trenne, weil ich mir sonst schwersten häuslichen Ärger zuziehen würde.
Du siehst, man kann Schätzings Romane sogar dann unterhaltsam finden.
Ich sehe hier ein weiteres Beispiel für die von mir an anderer Stelle beklagte Geschichtsblindheit, vor
allem im kulturellen Bereich. Das eigentlich Absurde an den von Frank immer wieder gern genannten
"Feuchtgebieten" besteht ja nicht darin, daß ein dummes Mädchen ihre Leser mit allerlei Unappetitlichkeiten
zuschleimt, sondern daß diesem dummen Mädchen überhaupt jemand zuhört. Es gibt praktisch keinen
Skandal und keinen Tabubruch, der in der Kunst/Literatur des 20sten Jahrhunderts nicht spätestens bis
zu den Vierzigerjahren abgehakt worden ist. Wer heute noch meint, einen einigermaßen gebildeten und
intelligenten Menschen durch Skandale schocken zu hocken, ist ungefähr so weit hinter der Zeit zurück
Das ist zwar richtig, ich glaube aber, Du übersiehst da was. Jede Generation möchte ihre eigenen Skandale haben und natürlich betritt das 'dumme Mädchen' keine Gebiete, die nicht vorher schon von den von Frank erwähnten beiden Herren Bukowski und Burroughs abgegrast wurden. Da kann man Burroughs noch so viel neu auflegen und er sich mit um Reifen gewickelte Hämorriden (yuck!) noch so antrengen - es ist halt
alte Literatur.
Sagte Frank ja auch.
Tja, mit Blick auf die verkaufte Auflage der Bild-Zeitung und eben jenes „Feuchtgebiete“-Werkes - letzteres habe ich übrigens auch gekauft - ist man dann überrascht, wie sehr sich die Zahlen auf die „Dösis“ und auf „alle anderen“ verteilt. Mir stellt sich in dem Zusammenhang in letzter Zeit verstärkt die Frage, ob es nicht schlicht und einfach schöner wäre, zu den „Dösis“ zu gehören. Aber das ist ein anderes Thema.
Womit ich gerne noch einmal die Frage stelle, wozu diese Diskussion hier in diesem Thread eigentlich geführt wird. Erzähl doch mal, was Du eigentlich mit diesem Thread erreichen willst. Ich kratze mich die ganze Zeit am Kopf und komme nicht so richtig dahinter.
Ein spannender anregender Thread reicht Dir nicht als Raison d'être? Mir persönlich auf jeden Fall schon. Und ob Du zu den "Dösis" gehören willst Henrik, hängt wohl ganz davon ab, wie Du das von Dir gebrauchte Wort "schön" definierst.
Sorry für die Länge. Aber dann dürft ihr halt auch nicht einfach so viel schreiben.
Bearbeitet von Oliver, 12 Oktober 2010 - 10:47.