Ja, ich weiß, allgemeiner Auffassung nach ist die Unterscheidung in E und U Quatsch. Ich bin allerdings nicht dieser
Auffassung, meiner Meinung nach ist das eine sinnvolle und sogar einigermaßen trennscharfe Unterteilung. Und zwar
ist das Kriterium schlicht, worauf ein Roman (oder allgemeiner: ein Werk) abzielt. Ein Roman der U-Literatur zielt
auf einen Leser, will diesen fesseln, unterhalten, belehren, von redlicher Arbeit abhalten, faszinieren, träumen
lassen, was auch immer - jedenfalls: ihm oder ihr ein möglichst unvergessliches Leseerlebnis bereiten. Ein Roman
der E-Literatur dagegen zielt darauf ab, die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks zu erweitern - er ist
ein Experiment, dem ein Leser beiwohnen darf, wenn er dies möchte; ob er dabei seinen Spaß hat, muss er selber
wissen.
Gerade das sehe ich nicht so und stehe damit möglichweise quer zu den üblichen literarischen Kategorisierungen.
Die Schaffung einer neuen Sprache ist
ein Aspekt, aber sicher nicht der Haupt- und erst recht kein Selbstzweck,
sondern ein Mittel, um ein intensiveres Leseerlebnis zu erreichen. Gerade lese ich Joseph Conrads "Herz der
Finsternis" und warum? Weil mir ein Erähler von diesem Farben- und Nuancenreichtum und einer so geschliffenen
erzählerischen Rhetorik ein Leseerlebnis bieten kann, das ich bei geringeren Autoren nicht finde. Ich bin ein
ausgesprochener Story-Liebhaber, und einer meiner all time favorites ist "Der Tod des Iwan Iljitsch" von Leo Tolstoi,
weil die Geschichte einen Sog entwickelt wie wenig anderes in der Literatur.
Solche Erlebnisse gibt's aber eben nicht umsonst und sind oft auch mit Anstrengungen und Erschütterungen
verbunden, denen sich auch der Kulturbeflissenste nicht ständig und nicht ausschließlich aussetzen kann. Eine
der höchsten Formen von Kunst, die ich kenne, ist die klassische japanische Musik für Shakuhashi und Koto,
aber diese Musik ist derart schicksalstrunken und schmerzerfüllt, daß man als europäischer Zuhörer nach einer
halben Stunde aus dem Fenster springen möchte.
Demgegenüber weiß ich auch sehr solche Bücher zu schätzen wie etwa (kleiner Geheimtip) die Anthologien des
Inders Khushwant Singh, der ein untrügliches Gespür für schlackefreie und witzige moderne Kurzgeschichten
hat. In der SF lese ich gern die Geschichten von Paul Di Filippo, den ich für keinen überragenden Autor halte,
der aber immer originell, handwerklich geschickt und sprühend vor Ideen ist. Im Mainstream geht's mir ähnlich
mit den Geschichten von Coragesshan Boyle.
Ein anderes Argument gegen die U/E-Dichotomie ist die Beobachtung, daß die Pole Unterhaltung und Anspruch,
Innovation und Konvention etc. mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer enger zusammenrücken. Ein heutiger
Musikhörer kann nicht mehr recht nachvollziehen, warum Charlie Parker viele Zuhörer seiner Zeit so schockiert
hat, daß vom "Ende der Musik", vom "endgültigen Einbruch des Chaos" die Rede war. Shakespeare hatte zu seiner
Zeit ungefähr den Stellenwert wie Krimi- und SF-Autoren heute. Einer der größten französischen Klassiker, Francois
Rabelais, war ein Suffkopp und Lüstling und sein Werk vor allem ein äußerst spaßiger Ausdruck von Lebensfreude.
Literaturfreunde haben dämlichste Verrenkungen unternommen, um abzustreiten, daß Dostojewski (auch) Kriminal-
romane geschrieben hat. Ein Antagonismus von Kunst und Unterhaltung wurde oft behauptet, aber von jedem Künstler
von Rang immer wieder aus Neue widerlegt.
Mein liebster Kurzgeschichtenautor überhaupt ist William Sommerset Maugham, den vermeintliche Literaturkenner
gern in die Ecke des Nur-Unterhalters geschoben und mit dem Vorwurf getadelt haben, er habe zuviele und zuviele
schwache Geschichten geschrieben. Glaubt ihnen keinen Wort! kann ich da nur rufen. Ich finde (um nur ein paar
Beispiele zu nennen), daß Maughams geschmeidiger, flüssiger Erzählstil nicht gegen sondern für ihn spricht, daß
er die erstaunliche Fähigkeit hat, Figuren auf ein paar Seiten so zu charakterisieren, da0 dabei zugleich ein Epochen-
oder Millieuportrait entsteht, und daß er in seinen besten Geschichten (etwa "The Alien Corn", "The Pool", "The Book
Sack" etc.) ohne stilistische Extravanzen und ohne jede abstrakte Psychologisierung eine Intensität erreicht, an
die nur wenige heranreichen.
All dies sind vielleicht nachvollziehbare Gründe, warum ich mir den U/E-Schuh nicht anziehen will und ihn für
einen oft mißbrauchten Vorwand halte, von Pseudoliteraten einerseits, die Kunst über eine Verdammung jeglicher
Unterhaltungsaspekte definieren wollen, von Stümpern andererseits, für die Unterhaltung eine Entschuldigung für
jeden Müll ist. Derlei haben weder die Kunst noch die Unterhaltung verdient.
Gruß
Michael