Geschrieben 09 Mai 2011 - 13:14
Exakt. Das Richtige zu wissen und es dann auch zu tun, sind zwei paar Schuhe. Man muss sich vor Augen führen, was für eine moralisch-ethische Leistung hier (in Friedenszeiten in einem sozialen Rechtsstaat vom bequemen Computerstuhl aus) verlangt wird: Da soll ein mit Propaganda dauerbeschallter und mit selektierten Fakten versorgter, nicht zwingend aus durchgeistigten Kreisen stammender Landser das Verbrecherische seines Tuns erkennen und gegen die sozialen Bindungen mit seinen Kameraden und um den Preis seines eigenen Lebens und um den des Wohlergehens seiner Angehörigen - zur Erinnerung: das Regime praktizierte Sippenhaft oder kümmerte sich zumindest nicht um das Wohlergehen von "Verräterwitwen/-kindern" - aktiven Widerstand leisten. Ist doch klar, dass man da die Klappe hält, maximal passiv-heimlichen Widerstand leistet und hofft, nicht in eine konkrete Situation zu kommen, in der man seine Einstellung entweder mit potentiell tödlichem Ausgang offen legen oder um den Preis des guten Gewissens beiseite schieben muss. Die Sicht, welche die Nachwelt auf einen haben wird, beschäftigt in diesem Moment niemanden.
Ganz anders sieht es natürlich aus, wenn man als Überlebender später aus einer sicheren Position heraus Stellung beziehen könnte. Zwischen den Extremen, sich selbst (rechtlich) zu belasten und die ganze frühere Dienstzeit als sauberes Kräftemessen mit dem damaligen Gegner schönzureden, gibt es sicherlich etliche gangbare Wege, mit der Erinnerung umzugehen. Ich für meinen Teil halte weder Verklärung noch Verteufelung - kurz: Revanchismus - für keinen guten Weg, egal aus welcher Richtung er kommt. Ausstellungen wie "Verbrechen der Wehrmacht" sehe ich schon deswegen kritisch, weil damit die Verantwortung des ganzen damaligen Volkskörpers auf einen kleineren Teil delegiert wird, von dem heute nicht mehr genug leben, um sich ggf. verteidigen zu können und daher lieber die Klappe halten, anstatt sich als überlebende Verbrecher zu outen - ob sie nun welche waren oder nicht. Körperschaften der Wirtschaft beispielsweise geben sich neue Namen, um sich in den Augen der Öffentlichkeit von ihren damaligen Mittäterschaft zu distanzieren. Als Wehrmachtsangehöriger jedoch war, ist und bleibt man nun Verbrecher, sofern man nicht bereits damals die Möglichkeit hatte, sich als Regimegegner und somit als "Widerständler in Uniform" zu profilieren.
Gegen solche summarischen, pauschalisierten Verfahren sträubt sich mein Gerechtigkeitssinn. Warum darf die Geschichte das, was unser Rechtssystem nicht darf, nämlich das Ganze für die Taten von Teilen verurteilen? Ist das Unvermögen, alle Täter spezifisch zu benennen ein hinreichender Grund, um das Ganze - sei es nun die Wehrmacht oder das ganze deutsche Volk - in Täterschaft zu sehen? Auch wenn unsere erbliche Volkstäterschaft inzwischen gnädigerweise als "historische Verantwortung" gesehen wird, fühle ich mich dadurch dennoch gelegentlich - Verzeihung - angepisst. Daher lehne ich als Nachgeborener jede historische Verantwortung ab und verantworte mich für das, was ich selbst denke und tue. Das ist praktischerweise vollkommen unabhängig davon, ob mein Großvater im KZ nun Gefangener oder Wärter, ob er Flakhelfer oder in der Waffen-SS, ob er Parteimitglied, Mitläufer oder Widerstandskämpfer war, da ich an keiner dieser Situationen etwas hätte ändern können. Ich sorge lieber dafür, dass in ferner Zukunft niemand entscheiden muss, ob meine Kinder und Enkel das eine oder das andere waren.
Im kleinen Bereich dieses Themas bedeutet diese Haltung, dass ich den Landser ganz allein deshalb nicht lese, weil mich das, was ich davon mitbekommen habe, nicht interessiert. Ob darin nun geschönt oder dramatisiert wird, ist für mich nicht von Belang. Es wäre für mich von Belang, wenn ich als aktiver Leser über Passagen stolpern würde, die eine Anzeige erforderlich machen. Offenbar gab es das, denn damals wie heute erfolgt eine Indizierung nur aufgrund einer Prüfung, der eine Anzeige vorausgeht. Daraus schließe ich, dass es damals Leser des Landsers ab, die das dort gezeichnete Bild der Wehrmacht als nicht grundsätzlich falsch empfanden, sich jedoch der Geschichtsverfälschung oder neonationalsozialistischer Propaganda verweigerten.
Letzteres halte ich für gesünder, als wenn sich das Urteil aus der eigenen politischen Färbung, der eigenen grundsätzlichen Haltung zum Themenkreis, dem eigenen literarischen Geschmack und weitestgehender Textunkenntnis zusammensetzt. Wo diese Option nicht existiert, reden wir von Lektüre ausschließlich für ideologisch ohnehin gefestigte Kreise, wogegen bei "Der Landser" allerdings etliche Umstände sprechen. Man sollte es akzeptieren können, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft Leute mit Interessen und Geschmäckern gibt, die man nicht teilt, die deshalb aber trotzdem nicht dem Reich des Bösen angehören, auch wenn sie womöglich an dessen Grenze bewegen. Um festzustellen, wann diese Grenze überschritten wird, haben wir Gesetze. Und wenn wir meinen, dass die Grenzen zu stark verwischen, gehören diese Gesetze auf den Prüfstand, nicht die moralische Integrität von Autoren, deren Wille zum Boykott von einer anderen Intensität des Sich-gestört-fühlens bestimmt wird.
Though my soul may set in darkness, it will rise in perfect light;
I have loved the stars too fondly to be fearful of the night.
(Sarah Williams: The Old Astronomer To His Pupil)