ZITAT(simifilm @ 01.08.2011, 16:14)
- Negative Utopien wiederum, sogenannte Dystopien, tauchen erst im 20. Jahrhundert auf. Als erste Dystopie gilt im allgemeinen Wir von Jewgeni Samjatin (1920). Dystopien sind fast alle SF; spontan fällt mir zumindest keine Dystopie ein, die nicht SF wäre. Die Idee des übermächtigen Staats, der alles kontrolliert, wird dann schnell zu einem SF-Topos, so dass man sagen kann, dass zumindest Dystopie und SF ab Mitte des 20. Jahrhunderts ganz verschmelzen.
Ich weiß natürlich nicht, wie die Literaturwissenschaft darüber denkt, aber für mich können Satiren oder Komödien, die bestimmte Ausprägungen eines realen Staatssystems übertreiben auch eine Dystopie darstellen.
Als Beispiel dafür würde ich Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" nennen.
Mir fallen ganz spontan "Gullivers Reisen" bzw. "Laputa" von Swift ein. Sie lassen sich als Dystopien verstehen, die gegen die Gesellschaft seiner Zeit gerichtet waren. Die war eine Mischung aus zu Ende gehender Adelsherrschaft und beginnendem Kapitalismus, dessen Diskurse Swift mit seinem "bescheidenem Vorschlag", die Kinder der Unterschicht als Schlachtvieh zu züchten, drastisch karikierte.
Im 20. Jahrhundert richteten sich Dystopien per se nicht gegen einen übermächtigen Staat, sondern gegen das Gesellschaftssystem, das ihr Verfasser damit bloßstellen wollte. Samjatin, Karin Boye (Kallocain) und Orwell waren von der Entwicklung in der Sowjetunion enttäuscht und verarbeiteten sie in ihren Dystopien.
H. G. Wells hat mit "Die Zeitmaschine" eine auf die britische Klassengesellschaft gemünzte Dystopie geschrieben - die vertierten Morlocks sind die Nachkommen der Unterschicht und die verdummten Eloi die Nachfahren der Oberschicht. "Schöne neue Welt" von Adlous Huxley ist auf die USA "nach Ford" gemünzt und John Brunner hat sich in mehreren Werken an der postmodern-globalisierten Welt abgearbeitet, die er voraussah.
Den Faden "Dystopie als übermächtigen Staat" hat widerum Herbert W. Franke in seinen Romanen aufgenommen.
Nachtrag: Dystopien müssen nicht notwendigerweise auf der Erde spielen. In vielen Space Operas kommen recht starke dystopische Elemente vor, die zeigen, dass die Menschen (oder Nichtmenschen) die Freihet, die sie durch den Aufbruch in den Weltraum gewonnen haben, auch wieder verspielen können. Mit interstellarer Raumfahrt sind Provinztyrannen, wie sie unsere Welt terrorisieren, allerdings kein extremes Problem mehr - schlimmstenfalls steigt man ins Raumschiff und flüchtet vor ihnen auf eine Welt, wo es sich besser leben lässt.
So scheint die Welt im Universum von Barrayar bei Lois McMaster Bujold zu funktionieren. Einige Herrschaftssysteme - einschließlich Barrayar selbst - sind zwar eher finster, aber lokal begrenzt. Die Möglichkeit, vor ihnen zu flüchten und die Konkurrenz zwischen ihnen setzt Prozesse in Gang, die zu einer Verbesserung der Zustände führen.
Was ist aber, wenn es im Kosmos keine besseren Welten bzw. Systemalternativen mehr gibt?
Folgerichtig haben viele im Weltraum angesiedelte Dystopien dem Wahn vom kosmischen Imperium gemeinsam, das die Milchstraße oder sogar mehrere Galaxien erobert, so dass seine Untertanen nicht vor ihm flüchten könnnen. Das "Imperium" bei Simon R. Greens Todtsteltzer-Zyklus resp. sein Gegenstück im DUNE-Universum von Frank Herbert und das "Hetos der Sieben" bei Perry Rhodan sind solche Dystopien.
Bearbeitet von Beverly, 18 August 2011 - 08:41.