Ich kann mit fast allem mitgehen, was bislang geantwortet wurde, und es freut mich, dass man in diesem Thread so anspruchsvoll ist. Schade, dass viele Herausgeber hierzulande das nicht sind und reihenweise SF-Geschichten veröffentlchen, die diesem Anspruch nicht genügen.
Wenn ich eine Anthologie oder ein Magazin komplett lesen will, stolpere ich immer wieder über "Rausschmeißer", also Faktoren, Elemente oder Aspekte, die mich veranlassen, die Lektüre abzubrechen:
- sprachliche Fehler
- sachliche Fehler (Details, die nicht recherchiert wurden und schlicht falsch sind)
- schiefe oder nicht funktionierende Sprachbilder
- Hölzerne Dialoge, meist komplexes Schriftdeutsch, das kein Mensch so formulieren würde
- schmaler Wortschatz, der zu Wortwiederholungen führt
- überflüssige Phrasen
- extreme Distanz zur erzählenden Figur
- Figuren, die scheinbar willkürlich agieren, weil deren Motivation nicht erkennbar ist
- keine stilistische Anpassung an die Handlung
- zu viele Klischees oder falsche Klischees (z.B. wenn das Klischee von einem Beruf so gar nicht der Realität entspricht)
- nur funktionale Nebenfiguren
- Infodump in jeglicher Form
- kein Abschluss, kein Ausstieg aus der Geschichte
Solche Geschichten interpretiere ich als Rohfassung, aber nicht als lektorierte und zur Veröffentlichung freigegebene Version. Leider ist die SF-Szene voll davon.
SF-Storys, die solche Stolpersteine nicht enthalten, betrachte ich erst einmal nur als "lesbar": Damit sie auch "gut oder herausragend" sind, fehlt noch einiges. Mindestens eines, besser noch mehrere Elemente der folgenden Liste:
- ein neues Element, das ich so noch nicht gelesen habe (Setting, Situation, Gimmick, Person, Twist, Prämisse)
- wenn nichts Neues, dann zumindest interessant und fesselnd geschrieben
- ein Spannungsbogen, und wenn es nur langsam ansteigt, damit ich Lust zum Weiterlesen beim Umblättern habe
- eine erzählende Figur, die so eingeführt wird, dass sie mich zumindest interessiert, im besten Falle aber mich mitfiebern oder mitleiden lässt
- ein Plot, den ich nicht in jedem Schritt vorhersehen kann, nur weil ich schon seit Jahrzehnten lese
- ein Element, an das ich mich erinnern kann, sei es der Twist am Ende, das ungewöhnliche Setting, eine neue Perspektive auf ein Thema, ein gelungener Dialog
Natürlich sollte der Storytitel passen und neugierig sein.
Und natürlich unterscheiden sich Storys von Novellen und Romanen auch dadurch, dass sie keine überflüssigen Sätze enthalten. Wenn ein Satz nicht wichig für die Handlung ist, dann sollter er zum Weltenbau, zur Charakterisierung der Figur, zur Erzeugung der Atmosphäre/Stimmung beitragen. Anders gesagt, wenn es dem Text nicht schadet, wenn man den Satz weglässt, ist er überflüssig.
Bei den SF-Elementen sehe ich es ähnlich: Wenn ich diese oder den Weltenbau durch heutige Pendants ersetzen kann, und die Story funktioniert noch immer, dann ist es keine echte, sondern nur eine aufgesetze SF-Story.
Das alles überschneidet sich in vielem, was vorher gesagt wurde. Aber da Yvonne nach einem Kriterienkatalog gesucht hat, ist dies der Versuch, eine Negativ- und eine Positiv-Liste zu erstellen. Das Ganze ist bewusst frei von Vorlieben gehalten, was Inhalt und Plot angeht, Erzählperspektive oder Stil, Ideenstory oder szenarischer Einblick. Es ist aber kein Zufall, dass meine Negativliste länger ist als die Positivliste, das spiegelt nur die aktuelle Situation wieder, dass man derzeit nur wenige SF-Storys findet, die wirklich gut oder herausragend sind. Meist ist man ja schon froh, wenn es lesbar ist.