Ich versuche mal, meinen Standpunkt anhand von Beispielen deutlicher zu machen, vielleicht ist er dann besser nachvollziehbar.
Meine Prämisse ist, dass man fast immer bei einer Kommunikation dem Gegenüber etwas unterstellt. Ob und was die Person verstehen könne, wie sie das wohl gemeint hat, was ihre Absicht war, wenn sie das sagt und insbesondere, wenn sie es genau so ausdrückt. Und mein Wunsch ist, dass man dem Gegenüber eher die besten Absichten und nicht die schlimmsten unterstellt.
Wenn man also formuliert, xy hat den Text A kritisiert, dann wird relativ wenig unterstellt. Wenn man schreibt, xy prügelt auf den*die Verfasser*in von Text A ein, dann wird eine ganze Menge unterstellt. Vor allem Dinge, die der*die Formulierende gar nicht wissen kann. Motive, Absichten, Einstellungen, die der*diejenige nie geäußert hat.
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Bei diesem Autor habe ich jetzt aber schon sehr oft ableistische oder altersfeindliche Tendenzen herausgelesen. Das mag ja vielen von uns "mal passieren", aber hier ist es eben ständig der Fall.
Auch das kann man sehr unterschiedlich lesen. Aber erst mal die Fakten: Die ableistischen / altersfeindliche Tendenzen beziehen sich immer noch auf die Texte des Autors, nicht auf gesprochene Worte oder Taten. Also kann man es immer noch den Figuren zuordnen. Ob die Texte so geschrieben sind, dass sie eindeutig Äußerungen der Figuren sind, oder Teil eines figurenunabhängigen Weltenbaus, geht aus dem Zitat nicht hervor. Nur, dass es häufiger vorkommt.
Nun zur Interpretation: Alles weitere, ob der Autor ein Faible für Figuren hat, die ableistisch oder altersfeindlich denken, oder ob er selbst so denkt, und wenn ja, ob das bewusst oder unbewusst (Stichwort: Blinder Fleck) passiert, ist alles Spekulation. Dem Verfasser des Zitats eine dieser Spekulationen eindeutig zuzuordnen, ist eine Unterstellung.
An diesem Beispiel wird klar, dass ein Lesen des Zitats immer mit einer Vermutung verbunden ist, wie der*die Verfassende des Zitats die Texte des Autors gelesen hat, ob es wörtlich und rein faktisch gemeint war oder mit Hintergedanken. Und damit mit Unterstellungen verbunden ist gegenüber dem*der Verfassenden. Und meine Frage hier ist: Muss man ihm*ihr nun zwangsläufig das Schlimmste unterstellen? Kann man ihm*ihr nicht auch das Wohlwollenste unterstellen?
Und ja, bitte lasst uns Fakten und Definitionen von Meinungen unterscheiden. Das wird heutzutage immer mehr verwechselt und vermischt, das müssen wir auf einer Plattform, in der es um Literatur, also auch um Sprache und Begrifflichkeiten geht, doch vermeiden können.
Für alle Ismen gibt es eine oder mehrere Definitionen, die man leicht im Netz finden kann. Das sollte die Ausgangsbasis sein. Und dann kann man oft recht gut entscheiden, ob ein Text, eine Wortwahl explizit oder impizit diesen Ismus erfüllt. Ob jemand sich dann beim Lesen des Textes davon gestört fühlt oder nicht, das ist dann subjektiv. Aber nicht die Frage, ob der Ismus zutrifft. Zudem gilt hier, dass man als Nichtbetroffener vieles übersieht, das für Betroffene offensichtlich ist. Wenn man es nicht erkennen kann, heißt das nicht, dass es nicht da ist, man muss vielleicht erst noch lernen, es zu erkennen. Sensitivity Reader sind hier eine große Hilfe. Jeder lernt dazu, ich erkenne heute viel mehr als vor zwanzig, zehn, fünf oder drei Jahren, es ist ein schrittweiser, nie endender Prozess.
Auch hier wieder ein schon genanntes Beispiel: Eine weibliche Figur als Schönheit zu beschreiben, ist nicht per se sexistisch. Wenn sich aber alle Hinweise und Beschreibungen zu dieser Figur auf die Schilderung ihrer Schönheit beschränken und sonst nichts erwähnt wird, dann ist es sexistisch. Noch konkreter: Ich lese gerade einen Roman von Connie Willis. In einer Szene berichtet die Ich-Erzählerin, das "eine dunkelhaarige Schönheit" den Raum betritt. Das erklärt mir als Leser, warum die Erzählerin nun nicht so unbefangen reagiert wie bei einer durchschnittlich aussehenden Person. Anschließend aber verleiht Connie Willis dieser dunkelhaarigen Schönheit viele weitere Charakterzüge, von einer ruppigen Art über intelligente und schlagfertige Dialoge bis hin zu Erklärungen ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Kompetenz. Und damit ist ein Sexismusvorwurf vom Tisch. Aber: Wie viele der Geschichten haben Nebenfiguren, die nur auf das Äußere reduziert werden in ihrer Beschreibung. Und wieviele davon sind weiblich?
Diese Art von Sexismus ist systemisch. Wir haben das nie anders gelernt, alle Medienberichte strotzen davon. Wenn über die Oscar-Verleihung berichtet wird, erfahren wir, was die Schauspieler gesagt haben und welche Klamotten die Schauspielerinnen getragen haben - nicht umgekehrt. Wenn eine Ministerin auftritt, steht immer dabei, was sie anhatte. Bei ihr ist der Familienstand ein Thema, bei ihm nicht. Es ist also keine Überraschung, wenn Schreibende das für ihre Texte übernehmen. Es ist auch kein Vorwurf. Es ist nur der Hinweis, dass sie es machen. Und der ist berechtigt, weil es auch anders geht. Und ich verstehe den Wunsch vieler Lesenden, dass sie diesen systemischen Sexismus nicht mehr lesen wollen, egal von wem.
Ich bin voll bei Marianne, was einen netten und respektvollen Tonfall angeht. Es muss aber auch möglich sein, sachliche, nicht-personenbezogene Kritik zu üben. Und wenn die Mängel gravierend sind, sollte man das auch so sagen dürfen. Das ist dann immer noch nicht automatisch beleidigend. Auch sollte es möglich sein, als dritter, vierter oder zehnter Kritisierender zu sagen, dass dieser Aspekt im Text nicht gelungen war. Das ist dann immer noch kein Einprügeln, sondern ein Konsens, was den Kritikpunkt angeht.
Und ja, jeder macht Fehler. Jede*r darf einen Text mit Schwächen abliefern. Jeder darf blinde Flecken haben, was seine Ismen angeht. Und niemand muss sich diesbezüglich ändern. Aber man kann nicht von anderen verlangen, dass sie diese Ismen konsequent ignorieren und nicht benennen. Denn sie sind Fakt, keine Meinung. Eine Meinung wird dann daraus, wenn ich unterstelle, ob jemand den Ismus versehentlich oder absichtlich anwendet. Oder ob ein Dritter diesen Ismus auch erkennen muss oder nicht.
Ach ja, Interessenskonflikt. Als Treuhänder des KLP bin ich diesem Vorwurf massiv ausgesetzt, darum rezensiere ich in der Regel Texte, die nominiert werden können, eher so, dass meine Rezension erst nach der Wahl öffentlich wird. Aber ich bestimme, wann ich als Treuhänder auftrete. In Mails an die Abstimmungsberechtigten, bei der Preisverleihung auf der Bühne, etc. Wenn ich als Herausgeber der !Time Machine wahrgenommen werden will, sage ich das auch dazu. Aber weder meine Rolle ais Treuhänder noch die als Herausgeber sind eine Default-Einstellung, Diese ist Leser und SF-Fan. Da ich aber nicht verlangen kann, dass alle anderen das auch so sehen, halte ich mich eben oft zurück, was eigentlich schade ist. Aber, und hier schließt sich der Kreis, wenn man meine Äußerungen immer und in allen Zusammenhängen als die des KLP-Treuhänders liest, ist das eben auch wieder eine Unterstellung.