Marskinder
von Charline Winter
Charline erzählt uns einfühlsam eine Szene aus dem Leben eines stark antriebsgeminderten Menschen, wie er liebevoll von der eigenen heroischen Schwester umsorgt wird, mit der er sich vergleicht, was im Kontrast besonders frustrierend für diesen Menschen ist.
Den Titel finde ich in dieser Szene nicht richtig wieder, denn es geht um das erzählende Erdling-Ich und seine Schwester Sila, die auch nicht wirklich ein Marskind ist, da sie einer der ersten Menschen auf dem Mars war, dort auch nicht geboren wurde und kein Kind mehr ist. Der Text schildert im Wesentlichen die alltäglichen Einschränkungen, Gedanken und Gefühle der betroffenen Person. Dafür hätte es des SF-Kontextes nicht bedurft, der ausschließlich die Diskrepanz beim Vergleich mit der Schwester vergrößert, da natürlich Astronautinnen, erst recht wenn es heroische Entdeckerinnen sind, besonderes Ansehen genießen, wobei der Effekt noch hätte auf die Spitze getrieben werden können, wenn es sich um die eineiige Zwillingsschwester gehandelt hätte. Diese Funktion der Marsheldin ist aber eventuell ein bisschen zu schwach, um das Potential eines SF-Kontextes auszuschöpfen.
Ich frage mich auch, wie dieser Text Jols Anliegen stützt, eine Zukunft zu präsentieren, die mehr Raum für individuelle Unangepasstheit bietet als unsere heutige Realität. Diese Szene hätte genauso in unserer Gegenwart stattfinden können, ginge es nicht um den Mars, was nebensächlich ist. Auch der Sieg über die Finsternis wird für mich nicht deutlich. Vielleicht ging es um ein anderes Anliegen, nämlich mehr SF-Texte zu schaffen, in denen psychische Leiden das zentrale Thema sind, um sie sichtbarer zu machen. Das wäre zwar gelungen, aber bar jeglichen gewinnbringenden Impulses und ohne neuen Denkanstoß finde ich diesen Zweck allein zu knapp und meine, dass eine Chance vertan wurde. Man schreibt ja auch keine Liebesgeschichte, die nur randständigen Attributen nach eine solche ist, weil die Liebe keine wesentliche Rolle in der Geschichte spielt.
Der Aspekt des frustrierenden Vergleichens hätte einiges Potential geboten. Er wird aber lediglich angeschnitten. Hier hätte man entwickeln können. Dass solche Vergleiche nicht hilfreich sind, liegt auf der Hand. Aber warum ergibt es grundsätzlich wenig Sinn seine Situation, sein Tun, sich selbst auf diese Weise zu bewerten? Unabhängig davon ist die ausgeprägte Antriebsminderung für die betroffene Person nicht vorteilhaft. Es kann also nicht darum gehen darzulegen, dass dies gar kein Problem sein sollte, sondern darum, wie damit am besten umgegangen werden kann und welche Kompensationsmöglichkeiten es in Zukunft geben könnte, falls es nicht möglich wäre, den Antrieb zu steigern, denn kaum jemand wird ernsthaft bezweifeln, dass dies die beste Lösung wäre. Möglich wäre es auch gewesen, falls die Antriebsminderung wesentlich auf psychologische Faktoren zurückgegangen wäre, einen schlüssigen und innovativen Weg ihrer Veränderung anzubieten.