Joa, was habe ich zu einen Roman zu sagen, den ich in zwei Tagen durchgelesen habe?
Kritik! Nur Kritik, natürlich 
Ich muss aber ehrlich sein: Wäre nicht Frank Lauenroth über dem Titel gestanden, hätte ich es mir nicht gekauft. Und das meine ich nicht böse. Eine neurodivergente Ermittlerin, die in einem Wohnblock eingeschlossen einen Täter und die Ursache eines Virusausbruchs finden muss? Mein Ersteindruck wäre gewesen, dass sich jemand an eine über-progressive Interpretation von "Verschließ jede Tür" oder natürlich "Highrise" gewagt hat – mit einem großen Löffel Tumblr-Psychologie. Das meine ich nicht böse, nur hatte ich einfach genug "mental issues give you superpowers".
Aber nicht nur hat Frank Lauenroth eine der mit Abstand besten SF-Kurzgeschichten des letzten Jahres abgeliefert, sondern mich dann auch noch mit "Laden! Zielen! Feuern!" in der Weltenportal beeindruckt. Und weil der Zug auf dem Rückweg zur BuCon stehenblieb, hatte ich mehr Zeit als erwartet und somit die passende Gelegenheit.
Der Thriller beginnt etwas üppig. Eine deutsche Ermittlerin mit fast neurotischer Fixation auf Farben will ihre demenzerkrankte Mutter nach Hause holen und gerät dabei nicht nur an einen Virusausbruch, sondern auch noch ins Fadenkreuz eines Serienmörders? Puh. Das sind zwei dick aufgetragene Handlungsstränge. Ich war gespannt, ob und wie die sich vereinen lassen. Und, ob das Ganze dann am Ende noch Sinn ergibt.
"Im Innern der Bestie" erzählt sich dabei ein wenig wie ein J.J. Abrams-Film, nur von einem deutlich dichter verwobenen Synapsengitter entworfen: Langeweile kommt keine auf. Interessante Charaktere werden vorgestellt, ausgespielt, ein Mysterium aufgebaut und Schritt für Schritt aufgedeckt. Der Zeitgeist ist zudem gut eingefangen: Die OnlyFans-Creator ist klasse beschrieben; dass sie allerdings ihre Zuschauer nicht als Subs bezeichnet, ist etwas, das einem Frank Lauenroth nicht entgangen sein kann. Vermutlich, weil er wusste, dass nicht jeder seiner Leser "terminally online" ist, wie man sagt.
Und das merkt man: Ab etwa Seite 50 bemerkte ich diesen gewissen Nachgeschmack intellektueller Vorsicht: Hier wollte der Autor offensichtlich nicht über seine eigenen Logiklücken stolpert und das machte Spaß. Wie in einem guten Krimi timt Lauenroth exakt die Begegnungen ab, wer, was und wann gesagt hat. Ich habe mich zwei-, dreimal selbst ertappt, wie ich die Zeiten miteinander verglichen habe, nur um vielleicht doch eine kleine Überschneidung zu finden (und mich schlau zu fühlen), konnte aber nichts entdecken. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht. Und mit jemand meine ich den Autoren.
Die Charaktere sind dabei jetzt nichts Neues, von der By-the-books-Ermittlerin bis zum Roten Hering, machen aber Spaß und haben mich oft motiviert, das Buch jetzt nicht doch langsam mal aus der Hand zu legen und schlafen zu gehen. Claudia ist alles andere als der eindimensionale Girl Boss, der aktuell die Kinokassen verstummen lässt, sondern sich durchaus ihrer Schwächen bewusst. Ihr stets taktisches Vorgehen, die den Fall oft in eine gute Schachpartie verwandeln, macht auch ihre Handlungen nachvollziehbar und realistisch. Sie weiß durchaus nicht weiter, fürchtet um ihr Leben oder den Mörder, wenn er wieder ihre Schritte vorausgesehen zu haben scheint. Mit dem Deuteragonisten Aaron hat sie nicht ganz die Chemie, wie ich sie mir vielleicht gewünscht hätte, was aber auch schlicht ihrem sehr, ich möchte fast sagen, neurotischem Wesen geschuldet ist. Die beiden pflegen eine interessante Dynamik, kommen sich auch schön erzählt näher, aber eine so inspirierende Synchronisation wie Nara und Forsaken in "Chorus" oder Shinji und Asuka in "Neon Genesis Evangelion" entwickeln sie nicht. Dazu ist auch das Setting zu geerdet und die Geschwindigkeit zu hoch. Die Nebencharaktere, von Helliwell bis Chief Stone, machen dafür durch die Bank Spaß.
Gegen Mitte gefiel mir sehr, dass sich Frank Lauenroth durchaus seine Krallen bewahrt hat. Auch wenn das Jahrzehnt erst zur Hälfte vorbei ist: Die 2020er waren für mich bisher eine Epoche der Weichspül-Phantasien, in denen nichts mehr provokant, offensiv, bösartig oder erregend sein wollte. Gerade bei Thrillern hat das in den letzten Jahren zu Werken geführt, denen ich direkt eine Themaverfehlung attestieren würde – weil sie wirklich keine Zeile lang versucht haben, Spannung zu erzeugen. Könnte ja für Menschen mit Herzschwäche zu viel sein
Frank Lauenroth hat anscheinend dahingehend das Memo nicht erhalten und Zähne gezeigt. Autor und Mörder zeigen keine Gnade, nie. Der ganze Roman wird zur Triggerwarnung.
Zum Schwachpunkt entwickelt sich leider der Handlungsstrang mit dem Virus. Was zuerst noch als Plot Device fungiert, ergibt am Ende leider kaum noch Sinn – und wird mir auch etwas zu einfach abgehandelt. Mag sein, dass er als gute Verarbeitung für die Pandemie und den Lockdown fungiert, aber vor allem die finale Auflösung passte mir aber nicht in das wirklich hohe Niveau, das Frank Lauenroth bis dahin gehalten hatte.
Das Ende hingegen ist wieder, was es sein sollte und passt ziemlich exakt zur Erzählgeschwindigkeit. Mir wurde bereits gesagt, dass, ich zitiere, "es vor allem die Enden sind, in denen sich Frank treu bleibt", und das ist auch hier definitiv der Fall.
Alles in allem: Ein erstklassiger Thriller, kurzweilig und leichtgängig zu lesen.
Und, um nun die Frage zu beantworten, die sich ganz Deutschland und die westliche Hegemonie stellen: Ist "Im Innern der Bestie" besser als "Boston Run"?
Ja und Nein. Während "Boston" war Frank jünger, wirkte wütender, mit sich nicht im Reinen und von Zweifeln gehetzt, als wäre hinter ihm ein Feuer, das ihn verschlingt, sobald er nur stehen bleibt. Inzwischen brennt es wohl nicht mehr ganz so heiß, was die "Bestie" bedeutend taktischer und reifer geschrieben macht, jedoch mit einem Quant weniger Energie. Die Mauern, die früher eingerannt wurden, werden jetzt umgeschubst – im wahrsten Sinne des Wortes. "Im Innern der Bestie" ist aus meiner Sicht daher nicht besser oder schlechter, sondern lediglich anders – aber dennoch ein echter Frank Lauenroth.