@Simi:
Puh, es beruhigt mich, daß ich ab und zu doch noch was Korrektes zusammenbringe. Ich finde diese ganze "richtig und falsch"-Leseweisen-Entscheiderei gerade bzgl. Nicht-Sachmedien sehr problematisch. Romane, Spielfilme, Comics usw zu unterstellen, daß es sie betreffend EINE richtige Lesart gibt, empffinde ich als mitunter ziemlich irrational und emotional lesender Mensch schlicht fatal.
Wo schreibe ich, daß Cazottes Novelle keine oder nur EINE metaphorische Lesart nahelegt? Ich schreibe lediglich, daß die eine mögliche metaphorische Lesart (Mädchenhandel) nicht nahegelegt wird. Cazotte schreibt in seinem Nachwort zur zweiten (oder dritten Version?) der Novelle selbst, daß sie in zweifacher Hinsicht allegorisch lesbar ist. Und es gibt viel Sekundärliteratur dazu, daß seine Novelle den Zwist zwischen kirchlichen versus aufklärerischen Strömungen thematisiert.
Konsens mit Dir Simi wähne ich ja was den Umstand angeht, daß
"Leseweisen immer differieren (können) und es gibt keine gesicherte Methode festzustellen, welches die richtige ist." Kurz: man hat es mit Spannung zu tun, nicht mit Eindeutigkeiten.
Was aber die Sache mit der (nicht-)metaphorischen Lesart und der Phantastik betrifft, bin ich noch sehr am Grübeln, also nicht ganz sicher, und könnte hier nur laut vor mich hindenken dazu, was heißt: es ist wieder Schwurbelgefahr angesagt. Prinzipiell versuche ich dazu z.B.
Ecos Warnung zu beachten:
»Man kann aus Texten herauslesen, was sie nicht explizit sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineinlesen«
Immerhin wird das "herauslesen" andauernd gemacht. Die "Sopranos" z.B. werden immer wieder als großer Kommentar auf die heutige US-Gesellschaft verstanden. Das ist so eine Fuzzi-"Logik"-Sache. Nebenbei: ich habe Konrads und Deine "binäre" Versuche mit großem, angenehmen Amusement gelesen. Imho eine fruchtbare Illustration, daß es bei Literatur (und Kunst im weiteren Sinne) eben nicht um 0 und 1, wahr oder falsch geht, sondern um "Stimmungswetterzauber". Es sind die ganzen emotionellen, subjektiven Aspekte, weshalb das Spiel des "richtigen" Interpretierens so schwer zu umreissen ist. Manchmal glaub ich ja, daß ich als umerzogener Linkshänder schlicht versaut wurde für klares Argumentieren, nicht nur was Literatur und Kunst betrifft. Ich bin nun mal ein großer clownesker Zweifler.
Grenzverschiebungen liegen sicherlich vor. Nur befinden sich für mich eben alle Fiktionen jenseits der Realitätsgrenze. Ein Text ist real, im Sinne von Buchstabenanordnung. Seine Inhalte und (möglichen) Verhältnisse zur tatsächlichen Wirklichkeit aber sind immer fiktiv. Das Dublin von Joyce, das Berlin von Döblin oder das Wien von Doderer hat es nie wirklich gegeben; diese "Spiegelwelt"-Städte sind fiktiv, sind Phantasien. Auch die Waschmaschine von der eine Waschmaschinengebrauchsanleitung spricht, ist "eigentlich" fiktiv, auch wenn wir als Leser von Waschmaschinengebrauchsanweisung den Text der Weisung (hoffentlich auf nützliche Art) auf die reale Waschmaschine beziehen. Die Rahmungen bei all diesen Interpretationsproblemen sind derart komplex, daß darüber zu schreiben so gut wie immer längere Texte als den zu interpretierden Text erzeugt. Schauspieler kennen ja die Übung, jeden einzelnen Satz eines Stücks zu interpretieren, indem sie draufzukommen versuchen, was eine Figur tatsächlich denkt. Was wir Menschen denken und was wir tatsächlich äußern, ist selten (imho nie) 1 zu 1 deckungsgleich.
Dann sie Sache mit GOtt, Gandalf und Ion Tichy. Das ist eben so eine Frage der Konvention, was als "wahr" gilt und was nicht. In dem Sinne, daß man sich diese Wesen vorstellt, sich von ihnen faszinieren läßt, mit ihnen fibbert, sie sympathisch oder unsympatisch findet usw,
können sie für Leser eben durchaus "real" sein. Imho ist eben das Sprachvermögen zu grob, um die diskreten Schritte des Spektrums zwischen "wahr" und "als ob" genau auseinanderzuhalten. Wiegesagt: denkt dabei nicht nur an Logik und rationalen Verstand, sondern eben auch an Gefühl und Faszination. Die Bedeutung, der Grad an "Wahrhaftigkeit" und Orientierungswürdigkeit für Einzelne wird eben zu einem Gutteil von den Einzelnen in einen Text, eine Medienbotschaft hineingelegt. -- Nehmen wir z.B. Gandalfs weise Worte dazu, daß der Einzelne sich nicht anmaßen sollte über Leben und Tod zu entscheiden. Da ist es völlig egal, ob so eine moralische Maxime von einer religiös-fiktiven Instanz oder von einer literarisch-fiktiven Instanz geäußert wird. Wer Gandalfs Aussage befolgenswert findet, wird sich an ihr als etwas für ihn, den Leser, Wahres orientieren. Beides, Gandalfworte und GOttes-Worte sind nun mal nicht mehr als Buchstaben auf einer Buchseite.
Ich stimme Dir, Simi, sehr innig zu, daß das Problem damit anfängt, was man "für bare Münze" nimmt. Hier muß/kann ich als "Phantasten-Bright" wieder persönlicher werden: die Bibel ist für mich in gleicher Weise ein fiktiver Text wie LOTR. Viele Christen (Monotheisten und andere Religiöse), die nicht den Gefahren des Fundamentalismus verfallen sind, sehen das meinem Vermuten nach ganz ähnlich, auch wenn das ausdrückliche Feststellen dieser Ähnlichkeit für sie ein ungleich größeres Tabu darstellen dürfte. Und fundamentalistische Christen zweifeln nun mal eher an den Erkenntnissen z.B. der Geologie und Biologie, als an der Bibel. Für diese sind Geologie und Biologie Fiktionen, Lügengebilde, die der Wahrheit des Wortes GOttes zuwiderlaufen. Siehe die Streitigkeiten zwischen den absoluten teleologischen Offenbahrungswahrheiten und den pragmatischen, vorläufigen Wissenschaftserkenntnisssen.
Aktuell erleben wir mit der Finanzkrise ganz ähnliches. Die einen bezeichnen die hochriskanten Hedgefonds-Praktiken als "raffinierte Finanzprodukte", für andere sind es schlicht "Betrügereien auf hohem Niveau". Für die einen sind diese Börsenvorgänge schon "verbrecherisches Casino", für andere noch "seriöses Geschäft". Was stimmt nun? Wer macht da wem den Vorwurf, daß man SO oder SO nicht von Hedgefonds und Finanzwelt sprechen sollte/darf ? -- Wie alle Interpretationsfragen eine Frage des Vertrauens und der Perspektive (sprich: Einbettung). Die Vogelperspektiven sind dabei imho immer fiktiver, "großraumphantatischer" als die Froschperspektiven.
In Deinem Buch, Simi, berührst Du z.B. was "sprechen über die Zukunft" selbst sehr anschaulich diese Probleme (
"Die Konstitution des Wunderbaren" S. 65/66), wenn Du den Gegensatz zwischen dem ehemals hierarchischen Wahrheitsanspruch der religiösen Rede (Neues Jerusalem) dem pluralen Utopiespekulieren gegenüberstellst. Auch hier wieder am Grunde des Gegensatzes: Vertrauens- und in diesem Falle Machtfragen bzgl. Deutungshoheit.
Nochmal zum Beispiel Bibel und LOTR: was ist denn DIE Intention des Textes? "Nur zu unterhalten und Kurzweil zu bereiten" ist eine Antwort, aber eine vielleicht ziemlich verflachende, wenn man die Absicht des Autoren bedenkt, oder? Auf der anderen Seite: was hindert z.B. mich daran, die Bibel rein zwecks des Amusements zu lesen? Hier driften Interprations-Fragen auf das heftig umstrittende Terrain der Profanisierung und Sakalisierung. Was die einen als heilig würdigen, ist für andere Kokolores. -- Übrigens: ich pflege keine eindeutige Lesart von LOTR. Ich bin nicht mal sicher, ob ich ein eindeutiges Geschmacksurteil zu LOTR habe, denn es kommt eben auf den Kontext an, in dem ich dieses Buch bewerten soll. Als Werk des 20. Jhd ist mir LOTR wertvoll und wichtig. Als Keimtext der Fantasy gesehen aber sind meine Urteile schon abfälliger (Gerd kann da sicherlich stöhnen, angesichts meiner manchmal in der Vergangenheit zu ungestümen Miéville-Fanboyparteilichkeit. Das ich da aber Partei beziehe und nicht etwa objektive Wahrheitsaussagen treffe, ist mir aber bewußt und entsprechend beäuge ich mich da selbst zuweilen skeptisch und halte meine Aussagen für nicht ganz koscher).
Ich bewundere jeden, der sich bei all diesen Fragen sicherer ist als ich. Meine Verfassung zu all diesen Großraumphantastik-Problemen pulst allerweil zwischen gallopierender Paranoia und zähneknirschender Skepsis. In diesem Sinne bitte ich, meine Gedankenspielereien NICHT als ideologische Anwürfe zu verstehen.
Grüße
Alex / molo
Bearbeitet von molosovsky, 20 August 2007 - 12:03.