Bei den Tor-Novellas ist im April "Every Heart a Doorway" von Seanan McGuire erschienen.
Hab' ich als Hörbuch exzellent, weil sehr ruhig vorgetragen von Cynthia Hopkins, genossen. Für mich eine der besten Novellas des Jahres. Zum Inhalt (Spoilerwarnung):
Von jeher sind Kinder/Jugendliche durch magische Portale in fantastische Welten gelangt (think Alice, Narnia etc.), meistens freiwillig, manchmal auch nicht. Dort waren sie Prinzen, Weltenretter, Superwissenschaftler, erlebten ein Abenteuer nach dem anderen. Wenn diese Kinder gezwungen werden, ihre jeweiligen Welten wieder zu verlassen und in unsere Realität zurückzukehren, bricht für sie im wahrsten Sinne des Wortes ihre Welt zusammen, denn für die allermeisten ist das ein Weg ohne Wiederkehr, öffnet sich das Tor in eine andere Welt nur ein einziges Mal in ihrem Leben. Im Internat von Miss West wird versucht, solcherart traumatisierten Kindern/Jugendlichen beizubringen, wieder ein normales Leben zu führen, obwohl die Kinder nur eines wollen: In ihre Traumwelt zurückkehren.
Neuankömmling Nancy ist von vorneherein Außenseiter, weil sie in der Welt des Lord of the Dead gelebt hat. Rückkehrer aus Unter- bzw. Totenwelten kommen so gut wie nie vor und ihre "people skills" sind idR auch eher schwach ausgeprägt, weil in Totenwelten nicht gefragt. Dennoch findet Nancy Freunde. Da passiert ein Mord ...
Seanan McGuire erzählt wunderbar einfühlsam von dem Verlust, dem Gefühl des ohne eigene Schuld verstoßen worden zu sein, der Sehnsucht, an den Ort zurückzukehren, der für die Kinder viel mehr Heimat geworden ist als die eigene Familie. Sie entwickelt einen spannenden Cast und verschafft ihren einzelnenen Darstellern Charakter und jeweils eigene Motive. Sie erfindet diverse, manchmal recht verrückte Traumwelten und scheut auch nicht davor zurück, Hauptcharaktere über die Klinge springen zu lassen. Ein Stück weit wirkt das Internat wie eine Mischung von Monster High und Buffy, allerdings auf einem deutlich depressiveren Level. Der Unterton der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und von trotzigem Optimismus wirkt einfach.
Zur Tor.Com-Collection
Wie Season One enthält die Collection wieder 10 Novellas, darunter zwei Fortsetzungen von Staffel 1, nämlich eine neue Geschichte um das Metawesen-Restaurant Sin du Jour (Matt Wallace: Lustlocked), wo beim letzten Mal ein Engel gebraten werden sollte und diesmal eine Goblin-Hochzeit auszurichten ist, und eine neue völlig überdrehte und von Mary Robinette Kowal genial vorgetragene Genrenauts-Erzählung, bei der die Protagonisten in Storywelten fliegen, um sich falsch entwickelnde Geschichten zu reparieren (Michael R. Underwood: The Absconded Ambassador). Ansonsten begleitet man die letzte der Windzauberinnen bei dem Versuch, das von Piraten geraubte Heiligtum ihres Kultes zurückzugewinnen, was sie im Erfolgsfall das Augenlicht kosten wird (Emily Foster: The Drowning Eyes), einen Wissenschaftler, der die Wirkung seiner realtitätsverändernde Maschine am eigenen Leib zu spüren bekommt (David Tallermann:Patchwerk), begleitet englische Soldaten auf die furchbaren Schlachtfelder des 1. Weltkriegs, wo sie nicht nur gegen die Deutschen sondern auch gegen Dämonen bestehen müssen (Andy Remic: A Song for No Man's Land), einen Schwarzen im New York der 20er Jahre, der nach zahlreichen Demütigungen und der Ermordung seines Vaters hilft, einen der Alten Götter lovecraftscher Art zu beschwören (Victor LaValle: The Ballad of Black Tom), einen berühmten Philosophen, der mit einem Diener der Hölle, welcher zufällig sein größter Fan ist, um seine Seele schachert und diesem dabei die Hölle heißmacht (K.J. Parker: The Devil you know), im Wilden Westen lernt man den entstellten Gabriel kennen, der seit 600 Jahren den Dämon Temple, Mörder seiner Familie, jagt, mit dem er auch an Bord eines Piratenschiffs in der Karibik schon ein Duell ausgefochten hat (Tim Lebbon: Pieces of Hate) und schließlich kämpft man an der Seite des Ritters Quinn mit Schwert und Pistole gegen Zombies einer postapokalyptischen Welt (Guy Haley: The Emperor's Railroad).
Die Sprecher erbringen fast alle gute Leistungen. Bei der Geschichte von K.J. Parker war es recht schwierig, dem Wechsel der Erzählperspektive von Dämon zu Alchimist zu folgen, da beide gleich gesprochen wurden. Die Wildwesterzählung mit deutlichem US-Landei-Akzent hat mir besonders gefallen, und Kowal gehört ohnehin zu den besten Hörbuch-Interpretinnen. Schade, dass ausgerechnet die von ihr vorgetragene Genrenauts-Geschichte zu den eher schwachen Geschichten gehört. Überhaupt war für meinen Geschmack die erste Staffel (mit Hugo-Gewinner Binti von Nnedo Orokafor) hochkarätiger besetzt.
Ansonsten wäre für nicht-hörbuchaffine noch zu erwähnen, dass all diese Novellas natürlich auch in Textform und einzeln erworben werden können.