Dazu fällt mir noch eine nette Anekdote aus der Praxis ein: Das schlechteste Manusssskript (*pssst* nein, ich seziere aus Prinzip nicht kleinlich die Rechtschreibung in Postings. Ich versuche lieber, ganz unauffällig darauf hinzuweisen, wenn man mal auf etwas schauen könnte), das mir je bei einem Verlag untergekommen ist, wurde veröffentlicht.Ein Verleger (Lektor, mitunter in Personalunnion) hat idR vermutlich ein deutlich breiteres Spekrum von erlebten Manusskripten als der Durchschnittsleser, da er auch Manusskripte zu lesen (zu erleiden) bekommt ...
Jeder Band der Reihe, zu der es gehörte, wurde im Durchschnitt viermal lektoriert, bevor man ihn für druckfähig erachtete. Für jeden Band musste man neue Bearbeiter suchen, vorzugsweise Lektoren, die noch nichts davon wussten, weil zufällig alle, die den Autor schon mal bearbeitet hatten, im Urlaub waren/ausgelastet/schwerhörig waren/klemmende Bürotüren hatten etc., wenn wieder Bearbeiter für einen Teil gesucht wurden. Ich bekam das Manuskript dann von einer fassungslosen Kollegin gezeigt, die die Gerüchte über den Autor für Übertreibung hielt und den Auftrag angenommen hatte. Meine persönliche Einschätzung war, dass man mit so einem Text als außergewöhnlich schlecht auffallen würde, wenn er im Fandom veröffentlicht wird. Meine Einschätzung vom fertigen Buch, nachdem mehrere Lektoren daran gearbeitet hatten, war dann: "Alle Achtung, sie haben es ja tatsächlich noch auf das Niveau eines schlechteren Heftromans anheben können."
Die Verkäufe in Hardcover und Taschenbuch gingen in den 6stelligen Bereich. Wenn der Autor auf sein Konto schaut, findet er u.a. für jeden Band einen hohen 5stelligen Vorschuss.
Kann sich dieser Autor also "seines Handwerks sicher sein"?
Das als Denkanstoß für diejenigen, die die Frage gerne ganz allein auf Verkäufe und Kontozahlen reduzieren wollen. Wie gesagt, solche Kennzahlen sind im Prinzip auch für mich die verlässlichste und vor allem beruhigendste Größe in dieser Frage. Aber die Realität schlägt mitunter seltsame Kapriolen, und wie oben gesagt: Je länger ich in dem Gewerbe bin, umso mehr praktische Beispiele habe ich erlebt, die doch nicht in ein allzu einfaches Weltbild passen und die geeignet sind, bisherige Überzeugungen zum großen Themenkreis "Handwerk und Qualität" zu erschüttern.
Es gibt durchaus mit einiger Berechtigung konkurrierende Merkmalsysteme für "handwerkliche Qualität", und die kommen nicht immer zu denselben Ergebnissen.