Ich habe gestern noch bis 4 Uhr früh gelesen und bin wirklich schwer begeistert. Ich hatte selten, oder vielleicht sogar noch nie, eine Anthologie in meinen Händen, die mit einer solchen Vielzahl an unterschiedlichen und herausragenden Kurzgeschichten glänzen konnte.
Spannend finde ich, dass sich mein Leseeindruck bei den nächsten Geschichten ganz extrem von meinen Vorredner*innen unterscheidet.
Beginnen wir mit:
Der Bjakuda von J. A. Hagen
Die kurze Geschichte konnte mir ein Schmunzeln entlocken. Sie funktioniert in ihrer Erzählform und enthält eigentlich alles, was notwendig ist, um sie zu erzählen. Etwas wie diese habe ich in dieser Anthologie auf jeden Fall nicht erwartet und trägt zum bunten Mix bei. Mein erster Gedanke hingegen war: Alien, die gerne Katzen fressen? Also Alf? War der Alf-Bezug beabsichtigt und wenn ja, wie passt er in die Geschichte? Sonst finde ich sie grundsolide. Niemand in dieser Geschichte kommt gut weg und genau das zeichnet ein spannendes Bild unserer Gesellschaft. Der rohen Ehrlichkeit, die besteht, wenn der Schatten der Moral fällt (oder der Mensch 5 Bier intus hat und der Trieb regiert). Zugegeben, mein Zugang ist ein ganz anderer, denn ich habe mit dem Male Gaze nicht das geringste Problem. Ich nehme mich beim Lesen fremder Werke persönlich völlig raus. Stellenweise finde ich den Male Gaze erfrischend.* In geschriebener Form jedenfalls. In Hollywoodfilmen ist es mir meist zu viel Klischee.
*Mir kommt er allerdings seltener unter.
Der sensible Planet von Christian Hornstein
Diese Kurzgeschichte gehört definitiv zu meinen bisherigen Highlights. Die Wortwahl, die Emotionen, die geweckt werden, die Erzählform. Hat für mich alles gepasst. Am Ende der Geschichte wollte ich mehr von diesem Autor. Mehr von dieser Geschichte. Es liest sich fast wie ein Prolog, der aber in sich abgeschlossen funktioniert und Raum gibt, um diese Geschichte im Kopf weiterzuspinnen.
Die Anspruchsvollen von Moritz Boltz
Ein weiteres Highlight. Die komplexe Beziehung zwischen Vater und Tochter ist vom ersten Moment an spürbar. Fantastisch, wie diese Dialoge für sich sprechen, den Charakter des Vaters mit jedem Wort transportieren, ohne Erklärungen liefern zu müssen und ohne, dass sich der Autor bemüßigt fühlt, weitere Erklärungen einzustreuen. Optimale Spannungskurve, großartige Auflösung. Wow.
Die Reisenden von Sophie Fendel
Die Geschichte gehört irgendwie auch zu jenen, die das Thema der Anthologie treffen, aber den Gehalt der vorherigen beiden nicht erreicht. Eine solide Geschichte, gut erzählt, aber hier gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Klassische Erstkontakt-Story eben. Gut gemacht, aber nicht mein Genre.
Ein Augenblick in Kuun von Kornelia Schmid
Gefiel mir. Das Kolonialisierungsthema von dieser Seite anzugehen, fand ich sehr erfrischend. Spannend erzählt. Eine Geschichte, mit moralischer Prämisse, mal ganz ohne erhobenem Zeigefinger auf die Gesellschaft zu richten. Gut umgesetzt.
Familienhilfe von Jol Rosenberg
Interessant finde ich, dass diese Geschichte, die eigentlich wenig Plot besitzt, so viel Stoff für Diskussionen oder Interpretationen liefert. Was Jol beherrscht, ist Emotionen zu wecken. Die Beklemmung, das Chaos, den Kontrollverlust. Auch spannend finde ich, wie viele Charaktere in diese Geschichte eingeflossen sind, ohne Charakteristiken zu besitzen und dass es meiner Interpretation zufolge genau darum ging, ihnen kein Gesicht zu verpassen. Denn gerade die Vielzahl an Kindern ist relevant, um ebenjene Emotionen zu wecken, die ich vorhin erwähnte. Auf die Intention hinter der KG bin ich gespannt.