Mammut schrieb am 28 Nov 2023 - 19:42:
Ich habe jetzt in die Leseprobe von "Das Portal" reingelesen. Warum würdest du die Anfangssequenz als anspruchsvoller bezeichnen? Die Sprache ist einfach gehalten, es werden entsprechende Klischees bedient und es wirkt an sich nicht besonders raffiniert.
Ich bin also gespannt auf deine Erläuterung.
Also der erste Absatz dient ja zur Einordnung von Ort und Bezugsrahmen in normaler Sprache (Verständlichkeit und leichte Lesbarkeit bei guter Sprache sind übrigens etwas, das jedes gute Lektorat zum Ziel hat). Das macht ein gutes Buch unter anderem aus. Das literarische Zerpflücken auf (meist sehr persönliche) Vorlieben in Bezug auf Formulierungen und Vokabular (ich kriege jede Woche 50+ Emails von Lesern, dass ich zu viele Fremd- und Fachwörter benutzen würde) sind eher ein Hobby von Literaturkritikern (oder selbsternannten) und nichts, was die Leser in der Breite in irgendeiner Form berühren würde. Raffiniert ist ein Buch nicht bloß durch vertrackte Sprache oder (die gibt es ja) wirklich schöne Wortmalerei, sondern durch die Fähigkeit, den Leser schnell in die Stimmung des Buches und den Konflikt hineinzuziehen. "Groschenromane/Heftromane" sind schablonenhafte Kurzromane mit sich wiederholenden Konflikten und Klischees. Man kann mir viel vorwerfen, aber nicht, dass ich mich ständig wiederholen würde. Der Benchmark für sprachliche Raffinesse (um die geht es dir offenbar) ist in meinen Augen in erster Linie, wie passend er für den restlichen Roman, seine Stimmung, sein Pacing, sein Thema, seine Charaktere ist. Ein handlungsgetriebener, wenig technischer Spannungsroman wie "Das Portal" muss schnell in die Stimmung bringen und straight forward geschrieben sein.
Bei "Singularity", der eher philosophisch-technisch angelegt ist, handelt es sich um einen komplett anders aufgebauten Einstieg:
"Luise saß auf dem Deck eines Katamarans und genoss einen vier- zig Jahre alten Chardonnay zu ihrem Steak vom Kobe-Rind, das sie in einer Pfütze aus Blut und Fett mit ihrem Messer zerteilte. Das Fleisch war wunderbar marmoriert, und jeder Bissen, den sie sich andächtig in den Mund steckte, wurde von den erhabenen Blasgeräuschen der Wale begleitet, die sich im Wasser um das Boot tummelten."
Oder "Der Unsterbliche", ein Science-Thriller mit christlicher Mystik, der Dan Brown Romanen ähnelt:
"Das Knattern der Rotorblätter hämmerte Mason Brown unerbittlich Gewissheit ein. Die Gewissheit, dass er sterben würde. Die Kabine des Helikopters war eng und von rotem Licht geflutet. Es ließ den Mann, der ihm eine Pistole an den Kopf hielt, wie einen verzerrten, dem Fegefeuer entstiegenen Teufel aussehen."
Ein guter Einstieg variiert von Buch zu Buch und hängt immer mit dem Gesamtkonzept zusammen, lässt sich also kaum nur am ersten Satz ablesen. Das ist reiner Gusto. Klar gibt es solche, die sprachlich äußerst anspruchsvoll gehalten sind, aber das ist dann nur ein Aspekt unter sehr vielen, die den guten Einstieg ausmachen. Denke mal an einen Meister wie Dan Simmons. Der erste Satz von Hyperion ist fantastisch, aber erst herausragend durch Betrachtung des Gesamtwerkes. In anderen Romanen, die nicht weniger gut sind, hat er sprachlich viel simplere, weil passendere erste Sätze gewählt, die nicht so bedeutungsschwanger waren. Trotzdem waren das keine Groschenromane.