Thomas Ziegler - Stimmen der Nacht
#61
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 11:37
http://defms.blogspo...blick-2023.html
#62
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 21:17
Die Frage ist, wieviel beim Ziegler die Sprache ausmacht. Nur mal angenommen, der Roman hätte stilistisch das Niveau eines durchschnittlichen Perry Rhodan (oder von mir aus das des Henkel). Was ja nicht schlecht ist, sondern einfach nicht so gut.
Wäre dann die Gefahr größer, dass sich ein Leser daran stößt, dass die Hauptfigur passiv ist, keine besonderen Charaktereigenschaften hat, dass alle Nebenfiguren eindimensional sind, dass der Hintergrund fast nur indirekt beschrieben, aber nicht gezeigt wird, und dass überhaupt im ganzen Roman ziemlich wenig geschieht?
Bearbeitet von Uwe Post, 13 Dezember 2015 - 21:19.
#63
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 22:05
#64
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 22:32
Ja, vermutlich schon, aber das versteht sich doch eigentlich von selbst. Wenn ein bestimmter Aspekt eines Romans als besonders herausragend empfunden wird, dann steigert das den Gesamteindruck. Wenn ich hier die Sprache des Autors toll finde, dann gefällt mir das Buch trotz einiger Kritikpunkte besser, als wenn diese nur mittelmäßig wäre. Sie hat mich demnach nicht von möglichen Schwächen abgelenkt, sondern einfach nur dazu beigetragen, dass ich den Roman mochte. Anders ausgedrückt: Wenn mir von (beispielsweise) sechs Kriterien, nach denen ich beurteile, fünf gut gefallen haben, dann finde ich den Roman besser, als wenn mir nur vier gefallen hätten.. Abgesehen davon stimme ich dem Vorwurf, dass hier dir klassische "Show, don't tell"-Regel nicht beachtet wurde, absolut zu; deine übrigen o.g. Kritikpunkte habe ich persönlich allerdings nicht als negativ empfunden.Die Frage ist, wieviel beim Ziegler die Sprache ausmacht. Nur mal angenommen, der Roman hätte stilistisch das Niveau eines durchschnittlichen Perry Rhodan (oder von mir aus das des Henkel). Was ja nicht schlecht ist, sondern einfach nicht so gut. Wäre dann die Gefahr größer, dass sich ein Leser daran stößt, dass die Hauptfigur passiv ist, keine besonderen Charaktereigenschaften hat, dass alle Nebenfiguren eindimensional sind, dass der Hintergrund fast nur indirekt beschrieben, aber nicht gezeigt wird, und dass überhaupt im ganzen Roman ziemlich wenig geschieht?
#65
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 22:57
"Show don't tell" (in der hier im Thread vorliegenden Interpretation) ist eine Pseudoregel. Das Ziel ist, Immersion beim Leser zu erzeugen. Wenn man als Autor gut genug ist, das über Sprache oder Weltkonstruktion zu erreichen, dann kann man auch "tellen", bis der Arzt kommt.
#66
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 23:49
"Show don't tell" (in der hier im Thread vorliegenden Interpretation) ist eine Pseudoregel. Das Ziel ist, Immersion beim Leser zu erzeugen. Wenn man als Autor gut genug ist, das über Sprache oder Weltkonstruktion zu erreichen, dann kann man auch "tellen", bis der Arzt kommt.
Furchtbar, wie sich das in den Köpfen vieler Leser und Autoren festgesetzt hat. Mit die schönste und größte Literatur widerspricht dieser "Regel" fundamental. Es gibt für mich nicht Schöneres, als einem begnadeten Erzähler zu lauschen, der einen in kunstvoller Sprache mit wenigen Worten über Jahre und Jahrhunderte hinweg springen lassen kann. Habe kürzlich "Honig" von Ian McEwan gelesen, wo auch ganz viel sehr kunstvoll "getellt" wird. Was für ein Vergnügen. Bei Ziegler geht es mir genauso, mit so einer lebendigen, mitreißenden Sprache kann der Autor von mir aus so viel erzählen, wie er will.
Mein Blog: http://translateordie.wordpress.com/ Meine Buchbesprechungen: http://lesenswelt.de/
#67
Geschrieben 13 Dezember 2015 - 23:53
Gibt natürlich auch Geschichten, bei denen "show don't tell" besser funktioniert. Ich denke da z. B. an Action/Erlebnisromane von Autoren wie Dan Brown oder James Rollins.
Bearbeitet von Pogopuschel, 13 Dezember 2015 - 23:53.
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#68
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 01:06
#69
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 12:16
Ach herrje - da habe ich wohl einige Autoren hier aufgeschreckt. Das war nicht meine Absicht.
Was ich in diesem Fall meinte war einfach nur das, was ich weiter oben schonmal geschrieben hatte: Für meinen Geschmack wird in diesem Roman etwas zu viel mit reinem Info-Dump gearbeitet (na hoffentlich benutze ich DIESEN Ausdruck jetzt wenigstens richtig...). Es wird manchmal zu viel "erklärt". Selbst wenn das mit gekonnter Sprache passiert, ist es mir trotzdem negativ aufgefallen. In dem Punkt stimme ich Uwe Post zu (sofern ich ihn richtig verstanden habe).
Ich hatte das nun "show, don't tell" genannt - mag ja sein, dass das als Erklärung hier nicht ganz zutreffend war. Aber es ist hoffentlich trotzdem (jetzt) klar, was ich meinte.
#70
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 13:39
#71
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 13:41
Das "furchtbar" hatte ich jetzt auch nicht auf dich bezogen, Ender, sondern generell zu diese immer wieder geäußerte "Regel".
P.S. bin übrigens keine Autor.
Bearbeitet von Pogopuschel, 14 Dezember 2015 - 13:42.
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#72
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 14:08
Ich bin ganz entspannt
Hatte nur etwas Sorge, dass ihr euch zu sehr an dieser einen Formulierung reibt und darüber meine brillante Gesamtanalyse untergehen könnte...
#73
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 14:24
Wie immer man das Buch jetzt bewertet: Der Lesezirkel hat sich auf jeden Fall gelohnt wie ich finde. Es haben viele mitgemacht, es wurde kontrovers diskutiert und es war ein lohnenswertes Buch. Und ein paar sind ja noch bei der Lektüre.
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#74
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 14:48
Und ich wollte das Buch sowieso immer mal lesen
Dass eine gute Sprache den Gesamteindruck aufbessert, ist kein Wunder. Die Sache ist nur die: Wenn (wie hier) drei verschiedene Bewertungen möglich sind, nämlich einmal Gesamteindruck, einmal Sprache, einmal Figuren, dann finde ich, gehört letzterer Punkt unabhängig von den beiden ersten bewertet. Darauf wollte ich hinaus
Ich habe Kauf und Lektüre jedenfalls auch nicht bereut. War sogar lehrreich für mich als Autor: Wenn ich sprachlich besser schreiben könnte, könnte ich mir die ganze Arbeit mit Figurenentwicklung und komplexer Handlung schenken Ähnlich das Thema. Obernazis als drogensüchtige, schleimige Arschlöcher darzustellen, wird nie bei einem Leser auf Ablehnung stoßen.
Bearbeitet von Uwe Post, 14 Dezember 2015 - 14:48.
#75
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 16:31
Wenn ich sprachlich besser schreiben könnte, könnte ich mir die ganze Arbeit mit Figurenentwicklung und komplexer Handlung schenken
Ja WENN. Aber so.... mit diesen begrenzten sprachlichen Mitteln... da müssen es dann wohl doch Figuren und Handlung rausreißen
(Kleiner Scherz, höhö)
#76
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 17:15
Komme jetzt auch endlich dazu, etwas zu schreiben, hatte den Zirkel aber verfolgt.
Ich stimme im Wesentlichen Uwe zu und damit ja quasi allen.
Das Setting ist cool, obwohl mich fiktive Nazi-Geschichten eher abstoßen, da sie für mich in der Regel zur Verharmlosung neigen. Ziegler gibt sich immer wieder ganz große Mühe, jegliche Form der Verniedlichung oder Verflachung des Holocaust auszumerzen. Mir ist das an etlichen Stellen ganz explizit aufgefallen.
Und es ist seiner großen Schreibkunst zu verdanken, dass es ihm auch glaubwürdig gelingt. Ich spürte immer, dass er das ernst meint und nicht nur schreibt um einen moralischen Codex zu befolgen.
Diese sprachliche Meisterschaft lässt auch die Art und Weise, wie er den Hintergrund ausbreitet, als nicht störend erscheinen. Ich stimme euch zu, dass es mit weniger literarischer Brillanz ziemlich öde geworden wäre. Teile des erzählens erinnerten mich an Heart of Darkness (Herz der Finsternis von Joseph Conrad, der literarischen Vorlage zu Apocalypse Now).
Die Passivität der Hauptfigur selbst störte mich gar nicht, da er ja wie auch der Leser bis fast zum Schluss keine Ahnung hat, was er überhaupt bewirken kann oder sollte. Dass es insgesamt überhaupt keine befriedigenden Antworten auf die beherrschenden Plotfragen gibt, stört mich hingegen sehr. Etwa: Sind die Kletten nun Maschinen oder nicht? Warum Elizabeth? Warum die Nazis? Warum muss Bormann erst den Führer für einen Krieg hören?
Die restlichen Figuren bleiben blass nur nachher im Bunker präzisiert Ziegler in schnellen Skizzen die Antagonisten.
Elizabeth hat natürlich wunderschön elegische Monologe, aber die verpuffen für mich, da es keine Motivationsauflösung gibt. Der zentrale Figurenkonflikt wird zum Schluss über den Haufen geworfen und bleibt ungelöst.
Die Plotwende zum Ende kam unerwartet und wirkt durch den, durch Sorgen bestimmten, Epilog doch etwas unbefriedigend. Sie machen den Roman im Nachhinein zu einer Art psychoanalytischen Untersuchung der Frage, wie fruchtbar der Schoß noch ist, samt knallharter, zynischer Antwort. Natürlich sollte man bei solch einem Thema einen klaren Standpunkt haben. Aber dafür hätte es dann nicht des ganzen Geeieres durch eine Alternativwelt benötigt.
Ich glaube, hier wurden Sprache und Setting als preiswürdig empfunden, das Gesamtpaket aber bleibt für mich ambivalent. Allerdings gab es 1994 nur drei Nominierungen und von beiden anderen Werken hab ich noch nie etwas gehört. Durchaus möglich, dass es kein besseres Werk in diesem Jahr gab. Ich kenne den Jahrgang nicht.
Überlicht und Beamen wird von Elfen verhindert.
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#77
Geschrieben 14 Dezember 2015 - 21:47
Ich bin ebenfalls durch und ich schließe mich der allgemeinen Bewertung an.
Viele Stellen haben auf mich einen geradezu psychedelischen Eindruck wie bei P. K. Dick gemacht, nur hier ist wenigstens die Welt "stabil" geblieben.
Ärgerlich ist für mich die Feststellung, dass ich ohne diesen Thread nie gemerkt hätte, dass der kursive Text am Ende erst 1993 angefügt wurde. Diese Textpassage bietet die Deutung als Traum an und sonst wäre einfach Schluss gewesen.
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