Ich bin jetzt durch.
Ich hatte bis zum Schluss "gehofft", dass die Stimmen aus Lautsprechern von Nanobots (o.ä.) kommen würden. Das wäre die einzige "technische" Lösung gewesen (aus meiner Sicht), wobei dann noch die Erklärung dafür gefehlt hätte, wer warum z.B. die Aufzeichnung der Goebbels-Rede auf diese Weise wiederzugeben für nötig hält usw.
Die tatsächliche Auflösung ist schlicht - überirdisch. Genauso könnte man sagen: Wenn ich im Moment meines Todes nur ganz doll bete, werde ich mit den Engeln und Frank Sinatra singen. Also, wenn ich zum richtigen Gott bete. Ansonsten werde ich zur Strafe als Made oder Neonazi wiedergeboren. Kann man machen, ist mir aber keinen donnernden Applaus wert. Zumal Plotlücken bleben. Warum sollten ausgerechnet die Nazi-Größen, Kennedy, Morgenthau und Elizabeth diese "Daseinsform" erreicht haben aber sonst keiner? Warum wiederholt Goebbels wortwörtlich seine gequirlte Scheiße vom "totalen Krieg"? Warum sollte Gulf so eine Art "Erlöser" sein? Man kann das alles einfach hinnehmen - oder man kann es als esoterischen Quark bezeichnen. Stimmen der Nacht = Echos ohne plausible Ursache. Deus ex machina.
Der kursiv gesetzte Epilog wurde ganz offensichtlich nachträglich in der Angst verfasst, die Wiedervereinigung könnte mittels Nationalstolz und massenhaft wehender Fahnen zu einem erneuten Extremrechtsruck führen. Ein zwar nachvollziehbarer Gedanke, aber er wirkt für mich aufgesetzt. Da kann ich nur sagen: Schade, dass der Autor die WM 2006 nicht mehr erlebt hat.
Zur Erzählung. Die Hauptfigur ist passiv und hat keine besonderen Eigenschaften, keine Motivation, keine besonderen persönlichen Ziele. Mir fallen auf Anhieb mehrere Lektoren, Autorenkollegen, Amazon-Rezensenten und andere Leser ein, die dergleichen normalerweise mit einem Satz in Stücke reißen und von jeder Nominierungsliste streichen. Hier aber nicht. Ich komme nachher zu der Frage, wieso. Zunächst noch: Die Nebenfiguren sind alle ziemlich blass, bis auf Elisabeth, die bereits bei ihrem dritten Auftritt gehörig nervt mit ihrem nöhlenden Tonfall, und natürlich die Nazis, die alle abgrundtief böse Führerarschkriecher sind. Diese letztere Charakterisierung gelingt dem Autor am überzeugendsten - Bormann&Co verursachen dem Leser im letzten Kapitel starke Übelkeit. Gelungen, aber auch nicht besonders ... subtil.
Die alternative Geschichtsschreibung, so detailliert sie ausgedacht ist, so plausibel sie wirkt, wird selten tatsächlich gezeigt. Es wird hauptsächlich darüber geredet (was in einem komplexeren Werk durch versehentliche oder absichtliche Verfälschung der erzählenden Figur dem Leser sogar falsche Informationen unterjubeln könnte, hier aber können wir davon ausgehen, dass alles so stimmt, wie es da steht, weil eigentlich der Autor redet, niemand sonst, deshalb sprechen auch fast alle Figuren im gleichen Tonfall). Es ist Ziegler hoch anzurechnen, dass die Welt trotzdem lebendig (bzw. tot oder zumindest ziemlich tödlich) wirkt. Das gelingt freilich hauptsächlich durch die zugespitzte Sprache. Ein längerer Roman (dieser hat geschätzt nur 200.000 Zeichen) hätte so früher oder später sicher gewisse Längen produziert oder zusätzliche Handlungsebenen erfordert, umfangreiche Rückblenden etwa, oder eine weitere Hauptfigur. Eigentlich also erzählerisch eine relativ einseitige Sache mit wenigen Wendungen oder Höhepunkten.
Warum also schafftte es der Roman, seinerzeit die KLP-Stimmberechtigten, zahllose Leser und auch die meisten von uns (auch mich) positiv zu beeindrucken? Es ist ja sicher nicht nur die unbestrittene Meisterschaft der Sprache.
Meiner Einschätzung nach ist es die Tatsache, dass wir Deutsche gerne über Nazis lesen. Wir lesen gerne, was für Arschlöcher das sind. Warum? Weil es ja stimmt, weil es unsere Meinung exakt bestätigt. Auch wenn diese Nazis die Weltherrschaft an sich reißen wollen oder die nukleare Totalvernichtung heraufbeschwören - das ist doch genau jene wichtige Warnung vor diesem teuflischen Gesocks, die viel mehr geschrieben gehört, nicht wahr? Anders ausgedrückt: Der Roman polarisiert nicht. Man ist seiner Meinung. Man fühlt sich bestätigt, entsprechend positiv bewertet man den Roman. Man stelle sich nur eine Sekunde lang vor, in dem Buch wären die Vorzeichen umgekehrt. Die Nazis hätten in Südamerika ein liebenswertes Utopia aufgebaut und die amerikanischen Juden wären geldgeile Bänker, die dieses Utopia vernichten wollen, und Hitlers Stimme würde sich in einem fort in aller Form für die bedauerlichen Missverständnisse in den 40er Jahren entschuldigen. Bei gleicher sprachlicher Qualität wohlgemerkt. Das Buch würde als Hetzschrift verdammt werden oder auf dem Index landen.
Als würde man einem Fan von Schalke 04 eine Anthologie in die Hand drücken mit Geschichten, in denen Schalke immer gewinnt. Da ein anderer Fan das Buch nie lesen wird, wird es jedem Leser automatisch gefallen.
Das ist natürlich kein Vorwurf an Ziegler - es ist ein Vorteil des gewählten Themas. Hierzu sei aus aktuellem Anlass ergänzt, dass "The Man From The High Castle" (die Amazon-Serie) die Nazi-Thematik deutlich differenzierter aufgreift - vielleicht mal gar keine so schlechte Idee, aber ganz sicher deutlich riskanter.
Mein Fazit ist also gemischt: Ja, gut geschrieben, aber kein Meilenstein der deutschen SF.