Christian, danke für deine detaillierte Rückmeldung und Gesamteinschätzung .
Zum Allgemeinen:
Ich bin etwas überrascht, dass du das Heft ausschließlich als "SF"-Publikation wahrnimmst. "Weltenportal" war und ist als breit aufgestelltes Magazin in der phantastischen Literatur konzeptioniert. Das erlaubt weit mehr als Speculative Fiction oder Science Fiction.
SF und Fantasy können extrapolieren oder spiegeln - aber sie können noch viel mehr bieten. Die Geschichten dieser Ausgabe sind in Ton und Absicht sehr unterschiedlich. Manche verstehen sich als Satire, andere als Spiegelung des gesellschaftlichen Zeitgeists, thematisieren "große" oder "kleine" Themen, wollen "primär" unterhalten oder "auch" Gedankengänge anregen. Ich schätze, dich interessiert primär die Extrapolation - das ist aber eben nur ein Teil dessen, was dieses Magazin ausmacht und ausmachen soll. (Kurzer Querverweis: Ein deutlich schärferes Konzept hat das "Future Fiction Magazine". Aber das ist Uwes und Sylvanas Ding, nicht meines. Weder lese ich nur Geschichten, die in eine Richtung und Absicht tendieren, noch möchte ich sie herausgeben).
Nach meiner Auffassung bündelt die fünfte Weltenportal-Ausgabe vorstellbare Social Fiction in naher Zukunft ("Die Geburtstagsparty"), spiegelnde Low-SF ("Eine Person, eine Karte"), phantastische Satire mit verwurzelter Aussage ("Die Hitze der Bürokratie"), Spekulationen über möglichen, gesellschaftlichen Gesamteinfluss Künstlicher Intelligenz außerhalb von Skynet-Dystopien ("S. A. I. S"), eine Geschichte über den Zeitpunkt vor und die damit verbundene Furcht einer persönlichen Veränderung ("Harmonien"), eine Future-History mit bissiger Pointe ("Herrschaft der Algorithmen"), eine Geschichte über den Wert von menschlichem Zusammenhalt ("Fly me to the dune"), skurille Phantastik ("Pisauridae"), einen schmutzigen Steampunk Krimi ("Opium"). Wobei ich bei letzterem durchaus auf meine lektorische Kappe nehme, dass die Steampunk-Elemente dezent sind ...
Manche Geschichten nutzen den phantastischen Rahmen intensiver, andere dezenter - aber nicht jede phantastische Geschichte ist hinsichtlich des Settings starr bzw. bedingt es. Ray Bradburys "Die Mars-Chroniken" kannst du problemlos in ein Fantasy-Setting übertragen, ohne inhaltlich viel an den Geschichten verändern zu müssen. Dito "Die Tribute von Panem". Lena Richters Novelle "Dies ist mein letztes Lied" würde als Fantasy ebenfalls - vielleicht sogar besser! - funktionieren.
Phantastik hat für mich den Vorteil, Themen auf eine Weise ansprechen zu können, die Gegenwartsliteratur nicht vermag. Das wusste schon Äsop (so es ihn gab).
Letztendlich geht es mir um die Frage: Ist die Geschichte lesenswert? Wenn die Antwort "ja" lautet, ist es für mich von geringerer Bedeutung, ob die Möglichkeiten der SF im Speziellen oder der Phantastik im Allgemeinen vollständig ausgeschöpft werden. Ich akzeptiere, dass diese Ansicht nicht von allen geteilt wird.
Über die Problematik der Güte von Einsendungen habe ich in diesem und einem anderen Thread schon genug gesagt. Ich werde die Autor:innen, die zu meinen bisherigen Publikationen beigetragen haben, nicht brüskieren und möchte es gerne bekräftigen: Im "Weltenportal" wird nichts veröffentlicht, hinter dem ich nicht stehen kann. Dennoch - und auch das muss ich sagen - werde ich keine WP-Geschichte beim KLP nominieren. Dafür lassen sie zu viel Luft nach oben.
Die objektiveren Kritkpunkte in diesem Thread - Grammatik, Stil, Rechtschreibung, Handlungskonsistenz - habe ich mir notiert. Was mich betrifft: Ich gehe die Lektorate künftig intensiver an, habe mir versierte Verstärkung organisiert bzw. netterweise auch angeboten bekommen und hoffe auf eine qualitative Steigerung.
Auf meinem derzeitigen Stapel für die sechste Ausgabe liegen einige Geschichten, denen zumindest niemand Originalität wird absprechen können.
Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich verstanden habe, welcher Text deiner Meinung nach der Ausreißer nach unten war (für mich gab es in diesem Heft zwei Ausreißer nach unten: Opium und S. A. I. S.). Wobei ich auch den Horrortext ziemlich langweilig und generisch fand, aber in dem Genre habe ich einfach zu wenig Ahnung, um fundiert etwas dazu zu sagen.
Jol, ich erwarte nicht, dass jeder Text jede:n anspricht. Bei einigen deiner Kritikpunkte gehe ich mit, aber beide Texte (bzw. auch "Die Staffel") haben für mich eine klare Struktur und eindeutige Prämissen.
Galax ging das KI-Thema auf eine erfrischende Weise an, indem er eine Future History mit einer Alltagssituation verband und - wie es auch Roland bemerkt hat - mit der Pointe nicht in vertraute Bahnen / Erwartungen lenkte.
Deine Einschätzung, "Opium" wäre ein Sherlock-Holmes-Epigone, ist mir rätselhaft. Sherlock Holmes ist ein rationaler Denker und ein emotionsloser Charakter - das ist der eher impulsive Thorsten Keyser nicht. Die Kriminalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle sind auf eine deduktive Herangehensweise der Ermittlung hin konzeptioniert, während "Opium" darüber hinaus Elemente von Hard-Boiled-Krimis aufweist. Bei Holmes-Geschichten steht das Rätsel im Vordergrund, bei Keyser der menschliche Faktor. Charlie ist zwar durchaus als Reminiszenz an Wiggins, den "Anführer" jener obdachlosen Straßenkinder, die sich Holmes als "Informationsnetzwerk" zunutze macht, konzeptioniert, aber in dieser Geschichte wird eine Zuneigung thematisiert. Holmes hätte (bzw. hat) nie um Wiggins getrauert. Im Gegenteil: Wiggins und die Straßenkinder wurden nach "Im Zeichen der Vier" (zweiter Sherlock-Holmes-Roman) nie wieder erwähnt. Keyser wird am Tod von Charlie zu knabbern haben. Um Parallelen zu einem überaus bekannten Werk der SF zu ziehen: Dieser Mittelteil ist wie "Das Imperium schlägt zurück" eine handlungstechnisch geschlossene Einheit, der - wie der Star Wars Film - jedoch Fäden offen lässt, die in der dritten und abschließenden Geschichte aufgegriffen werden. (In "Imperium" waren das u. a. das Verhältnis von Luke zu seinem Vater, der Weg hin zu und die finalen Entscheidungen von Vater und Sohn, die Beziehung von Han Solo und Leia Organa - und auf der handlungstechnischen Seite natürlich der entscheidende Schlag der Rebellen)
Bearbeitet von ChristophGrimm, 30 November 2023 - 10:34.