Tags: Ende, Nacht, eRDe7, sehr, gut!
Deltus media, Leipzig, 2010
Auch wenn ich jetzt in den Verdacht der Schleimerei gerate, zumal der Autor zu den Forianern hier gehört, so muss ich zugeben, dass mich lange nicht mehr eine Story-Sammlung so beeindruckt hat!
Dabei war es für mich völlig unerheblich, dass es sich nicht immer um SF, nicht mal um Phantastik im weitesten Sinne, handelt. Ist ja eher eine Sammlung tragischer Liebesgeschichten. Das Motto zu „Wunden“ scheint mir symptomatisch zu sein für die meisten der Texte: „...Liebe bedeutet... das Bedürfnis, verloren zu sein...“ (S. 193; Zitat von G. Bataille).
Ich kann auch gar nicht sagen, welche Story mir am besten gefallen hat. Vielleicht waren es nur zwei, zu denen ich keinen rechten Zugang fand, und zwar „Alter ego“ - war das überhupt eine Story? Irgendwie ja, aber vielmehr noch ein philosophisches Essay, und „Im Sog“.
Ein paar Worte zu den Erzählungen:
â– „Balkonstaat“ ist eine Dystopie, vielleicht eine Mischung aus Kafka und Bukowski. Das Szenario wird schnell und treffend skizziert. Der totale Kapitalismus herrscht und lässt jedes Privatleben asozial erscheinen. Hier begegnen wir gleich das erste Mal den Qualen der Liebe.
â– „Altes Muster“ spielt in einem Fantasy-Postdoomsday-Leipzig. Autos fahren auf den Straßen, Supermärkte werden geplündert und ein Drache verlangt nach Jungfrauen. Eine seltsame, Aufmerksamkeit heischende Mischung, die aber sehr gut zusammen passt. Kaum zu glauben, das Ganze ist sehr stimmig. Es geht um den Wert von Vertrauen und Liebe in einer korrupten, finsteren Nach-Welt-Gesellschaft, spannend und konsequent erzählt bis zum Schluss.
â– „Im Sog“ ist eine Replik auf eine vergangene Liebe und ein vergangenes Leben, erzählt anhand der Einrichtung eines Hauses, mit dem diese verbunden sind. Schöne, melancholische Grundstimmung.
â– „Nikki oder Jeder stirbt allein“ erzählt von der seltsamen Romantik eines Killer-Pärchens a lá Bonny & Clyde / „Leon - Der Profi“. Der Killer möchte von allen geliebt werden. Der perfekte Mord ist der, bei dem sich das Opfer wohl fühlt. Ein Märchen von den „schönen Bestien“ - alles seelische Zustände, zu denen Normalsterbliche keinen Zugang haben; sicher ist das eine Form falscher Romantik, aber schön!
â– „Julia und die dunklen Spiegel“. Wieder eine Julia (wie in „Altes Muster“), wieder Leipzig. Julia und das männliche Pendant, Julian, (auch in „Altes Muster“) wird uns noch mal begegnen in diesem Band. (Also, Ralph, wer ist Julia?). Es wird der Frage nachgegangen,was Crowleys Magick bewirken kann; für den unglücklich Verliebten bringt es nichts.
â– „Kago Ai oder Das Ende der Nacht“. Großartig! Diese Story entlässt den Leer voller Bilder im Kopf. Der Autor spielt hier wohl auch mit seinen musikalischen Vorlieben und beginnt scheinbar ein Mosaik verschiedener Stories auszubreiten. Sollte dies einem verrückt vorkommen, so ist das sicher beabsichtigt, denn der Schauplatz ist eine psychiatrische Klinik. Es geht dabei auch um Drogen, wieder um eine unerfüllte Liebe, Melancholie und Selbstmord.
â– „Laura und die weiße Spinne“; hey, keine Julia. Und keine lustige Geschichte, denn die „weiße Spinne“ ist Krebs, unter dem ein einsamer Mann leidet, der seine unerfüllte Liebe wohl nur mit Stalking und Spannen seiner Angebeteten ausleben kann. Dann ändert sich aber vieles, um am Ende wieder sehr abrupt und überraschend den Leser zu schocken.
â– „Writer's Cut“. Der Titel ist eine Analogen zu „Director's Cut“ beim Film. Diesmal ist es eine sehr schöne, wenn auch ungewöhnliche Liebesgeschichte. Ungewöhnlich, weil zwischen Mensch und Android. Die Story hat was von Simak oder Bradbury.
â– „Freepolis“ ist ein Verbrecher-Utopia augensicher Couleur, in der der Autor wieder einmal eine vergebliche Liebesgeschichte ansiedelt, die im Bombenhagel endet.
â– „Wunden“ ist fast nur ein Text-Vignette, eine schöne Übung zum Thema Werwolf (und Liebe, natürlich...).
â– „Zwillinge“ gehört meiner Meinung nach zu den überragenden Stories des Bandes! Julia und Julian sind die Zwillinge, die hier im Widerstand zur Moral und Gesellschaft ihre Geschwister-Liebe ausleben wollen und scheitern. Eindrucksvoll und sicher nicht ganz unproblematisch.
â– „Zombie!Music for Zombie!People“. Diese Story erinnert mich an das was Dietmar Dath zu seiner eigenen SF sagte / schrieb, der sich der SF verpflichtet fühlt, aber auch der deutschen Literatur. Das hier könnte so etwas sein, also Phantastik Dath'scher Prägung?
Es ist keine 08/15-Zombie-Story, weder inhaltlich, noch formal. Der Form nach ist es wie der Versuch einer Story, denn der Autor selbst „spielt“ mit. Er schreibt einen Brief, in dem er über seine neue Story schreibt. Dabei führt er einige Szenen aus, aber nicht alle. Mit diesem Trick kann der Plot auf das Mindestmaß reduziert werden, was aber völlig ausreicht. Die Zombies stehen hier wohl, auch wenn das nicht explizit zum Ausdruck gebracht wird, für die an die hohle Konsumwelt Angepassten. Ein Musikprojekt richtiger Menschen versucht sich an die Zielgruppe anzupassen.
So, wie hier Zombies beschrieben und für die Story aufbereitet werden, erinnert es mich eben sehr an Dath, „Alles in Honig“ etwa. Trotzdem sehr originell und ungewöhnlich!
Ich weiß gar nicht, warum in den Autor so lange ignorieren konnte; war ein großer Fehler, den ich jetzt etwas gut gemacht habe. Nunmehr gilt es, die Augen aufzuhalten.
11 / 10 Punkte