
Leselistenreportfortsetzung bis kurz vor Ostern 2025

Meine Lektüre - März bis kurz vor Ostern.
Das Bild hat - wie so oft - nichts mit den gelesenen Büchern zu tun. Eigentlich noch nicht mal mit Ostern, denn es enthält weder Hase, noch Ei. Macht aber nix, oder?
Ist eine ältere Zeichnung (von 2001) für ein Rollenspielbuch. Damals habe ich fast im Akkord gezeichnet. - Na ja, müsste mal wieder (aber keineswegs im Akkord!) ...
Kurt Vonnegut: „Der taubenblaue Drache“
(erster von drei Bänden mit Erzählungen aus dem Nachlass des Autors bei Kein & Abel, übersetzt von Harry Rowohlt)
Eine tolle Story-Sammlung! In der es sehr oft um den Krieg geht, in denen der Autor seine traumatischen Kriegserlebnisse verarbeitet hat. Er war ja nach kurzem Einsatz in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und hat dadurch die Bombardierung von Dresden miterleben müssen.
Stories sind aus “Armageddon in Retrospect” und “Bagambo Snuff Box”
Beginnt mit einem “Brief nach Hause“ und einer „Ansprache“, in der V. über seine persönlichen Erlebnisse im Krieg spricht. Er verurteilt die Bombardierung der Kulturstadt Dresden, teilt ziemlich scharf aus gegen die eigenen Landsleute.
Zum Schluss gibt es noch eine Art Nachwort, über das Schreiben von Short Stories und über seine Heimat Indiana.
Zum (für mich und andere, die es wie ich brauchen) Erinnern ein paar Stichpunkte. In den Stories geht es um …
- Verurteilung der Bombardierung Dresdens als Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und die Kulturstadt DD
- über eine vereinigte Welt, in der es keinen Krieg mehr gibt (2037), aber ein junger Rekrut trotzdem eingezogen wird, und mit Zeitmaschine ins Jahr 1918 geschickt wird, um einen Krieg mitzuerleben.
- noch mal um amerikanische Kriegsgefangene in Dresden, die sich gegen den Hunger gegenseitig Kochrezepte erzählen, was ihren deutschen Bewacher (Volkssturm, alter Mann) fast zum Wahnsinn bringt.
- über den 7. Geburtstag eines Jungen, der zeitlebens nur Krieg erlebt hat und der mit dem Geburtstagsgeschenk, einem Tag im ruhigen Wald, nichts anfangen kann.
- über einen amerikan. Kriegsgefangenen, der sich bei seinen Bewachern einschmeichelt, bis dahin, dass er ihre faschistische Ideologie nachbetet
- über Einhornjäger im England des 11. Jahrhunderts
- über das vermeintlich 1. Kind, das im Jahre 2000 geboren wurde, was in den Medien stark gefeiert wird, aber das nach 6 Monaten verstarb
- über den amerikanischen Soldaten Paul, der es nicht verstand zu plündern
- eine meiner Lieblingsstories im Band: zwei amerikan. Soldaten können kurz vor Ankunft der Roten Armee in Dresden sich aus ihrer Gefangenschaft befreien. Der eine will unbedingt die Identität des anderen übernehmen, weil er während der Gefangenschaft sich den Deutschen angebiedert hatte und nun Vergeltung befürchtet
- eine alternativ-historische Story über die Besatzung Prags, nachdem dort erst die Deutschen, dann die Russen waren., sind nun die Amerikaner dort (weil nach Ende des II. Weltkriegs gleich der Konflikt SU - USA entbrannte). Ein Tischler sollte für den russischen Kommandanten einen Schreibtisch herstellen, den dann der amerikanische übernimmt. Der unliebsamen amerikan. Kommandant wird auch abberufen; sein Nachfolger ist viel versöhnlicher und hat Verständnis für die Prager, so dass der Tischler die im Tisch eingebaute Bombe noch schnell entschärfen muss
- über die Bekämpfung des Teufels
- über die Geister, die den erdnahen Raum bevölkern, was aber niemand erfahren darf
- über die falsche Einschätzung eines alten Bekannten, dem der Protagonist unterstellt, er will sich nur durchschlauchen,
- über einen Designer, der sich sogar seine eigene Braut zurechtschneidert, die dadurch aber ihre Identität einbüßt
- über den titelgebenden Drachen, der ein teures Auto und Fetisch für einen amerikan. Jungen Mann ist, der sich durch dessen Besitz Geltung in der Gesellschaft verspricht, die ihm aber verweigert bleibt.
- über einen Dolmetscher, der gar nicht die Fremdsprache beherrscht (auch II. Weltkrieg)
- über eine kitschige Teenager-Liebesgeschichte und die große Freiheit, die man durch einen Flucht mit Auto auch nicht erreicht.
- eine böse Geschichte: über die utopische zukünftige Welt, in der es keine Sterblichkeit mehr gibt, zumindest nicht auf natürlichem Wege, aber deshalb die totale Geburtenkontrolle.
- ein Plädoyer für die Gleichstellung der Frau
Jörg Herbig: „Die dunkle Romantik einer Stadt“
Eigenproduktion, 2024
Nach Fanzines, Heften nun also „richtiges“ Buch. Hardcover, ca. 90 Seiten, dunkel-abstraktes Covermotiv. Ein echter Herbig, möchte ich hinzufügen. Es sind Geschichten, die keine Titel tragen, nur „Fragment“ soundso. Das erweckt den Eindruck eines Romans, eines Mosaik-Romans.
Jörg faszinierte mich immer durch seinen Mix aus persönlichen Erinnerungen, Berichten über Reisen und Veranstaltungsbesuche und urbanen, gegenwärtigen Horrorgeschichten. So auch hier. Die Stories sind mitunter Milieustudien vom Rand der Stadtgesellschaft. Und an diesen Rändern spukt es eben auch, auf dem Friedhof, bei einer Punk-Band, bei Obdachlosen.
Bei aller Bodenständigkeit und dem deutlichen Interesse an den sozialen Tiefpunkten, mit denen seine Mitmenschen leben müssen, existiert er auch als Bücher-Mensch, als Lesender und Schreibender. Am Ende gibt es eine Art Autobiografie – seine Lebensabschnitte als Leser-Karriere. Faszinierend! Der Stil ist lakonisch, wird von kurzen,. Prägnanten Sätzen dominiert und ich nehme mal an, am Stil der Beatniks orientiert.
9 / 10 Punkte
Jörg Herbig & Sybille Lengauer: „Ungebrochen und mutig“
Eigenverlag, 2025
Jörg hat den Kosmos „Die dunkle Romantik einer Stadt“ erweitert, schrieb er mir. Na klar, war ich neugierig. Jörgs Stadt heißt Ploogfurt. Eine fiktive Stadt, die aber – davon gehe ich mal stark aus – eine gemeinsame Schnittmenge mit der Heimat des Autors hat. Ploogfurt ist das, was z.B. für den Halleschen Autor Peter Schünemann Hallberg ist.
Der band enthält 5 Stories, wobei eine davon, die letzte und längste, eine Kooperation zwischen Jörg und Sybille Lengauer ist.
Wieder hatte ich beim Lesen durchaus den Eindruck, dass Jörg Selbsterlebtes verbreitet. Mitunter haben die Stories nicht wirklich eine überzeugende Pointe. Dafür spiegeln sie aber wider, was und vor allem wie er so Sachen erlebt und wahrnimmt. Also: mehr Situationsberichte, als erfundene Geschichten?
In „Öffnungszeiten“ berichtet er über eine Vernissage, in der interessante Leute im Publikum auftauchen. Vielleicht entsprechend der ausgestellten – dunkel-romantischen – Bilder entpuppen sie sich als „Kinder der Nacht“. Aber es bleibt alles friedlich, keine Angst.
Hier taucht auch das erste Mal jemand im Rollstuhl auf. Vielleicht ist dies ein Grundthema der Stories, die ja den Sammlungstitel „Ungebrochen und mutig“ trägt, in der es aber keine so betitelte Geschichte gibt. Also mehr ein Motto? Und die Helden sind eben auch Menschen mit Behinderung. Ja, warum auch nicht?
Es gibt noch ein zweites „Bild“, das in einigen Texten auftaucht, auch ein Lieblings-Motiv des Autors: Fledermäuse. Aber nur am Rande.
„Das Schlagen seiner Flügel“ ist eine Erinnerung an eine Freundschaft in der Kindheit. Die Freundschaft basiert auf gemeinsamen fantasievollen Spiele, in denen sich die Kinder in exotische Realitäten hineinfantasieren können. Auch hier ist einer der Beiden an den Rollstuhl – aber eben nicht gefesselt. Angst macht beiden Freunden der Donnervogel – das Gewitter.
„Hosentaschen“ ist ein – komischer? – Text. Nee, nicht wirklich komisch, eher skurril, auch wenn der Protagonist ein Clown ist, mit großen Hosentaschen, in denen er viel mit sich herumträgt. Ob ihm das aber dabei hilft, durch den dunklen Wald zu finden? Zumal hier auch beängstigende Rieseninsekten auftauchen. Ja, komischer Text, kann ihn kaum fassen oder einordnen.
„Fröhlicher Gesang“. En kinderloses Ehepaar erkundet gern den Stadtwald von Ploogfurt. Anlass gibt ihnen ihr Hobby, das Geocaching. In einem Versteck, einer Grube, steckt ein Kind, das sie retten. Aufmerksam wurden sie durch einen roten Ballon – klar, nach der Clownsstory hatte ich dann auch gleich so meine Assoziation. Und tatsächlich scheint sich jemand daran zu stören, dass die Leute da das Kind und den Ballon mitnehmen. Ein Kobold, der sie quasi angreift.
„Alien-Jenny“ ist eine waschechte SF—Alien-Entführungsstory. Warum werden da ein paar junge Leute von der Erde durch ein quallenartiges Ding entführt? Es geht um Musik.
Beim Lesen hatte ich Assoziationen zu den Musikalben von Klatuu. Diese Entführungsstory bietet dem versierten SF-Fan kaum Neues. Schön ist, dass es eine utopische Welt ist, in die die Menschen entführt werden und dass ihnen kein Unbill geschieht. So richtig Spannung will nicht aufkommen, der sense of wonder wurde bei mir auch nicht angesprochen. Alles ist recht einfach beschrieben. Aber – ich denke mal, das ist sein Part – Jörg konnte hier seine Punk-Musik-Begeisterung ordentlich ausleben Das liest sich dann durchaus überzeugend.
8 / 10 Punkte
David Gray: „Umarmung der Barbaren“
Kleine, aber feine Sammlung kurzer Texte dieses umtriebigen Autors, den man gern auch bei Lesungen trifft. Hier lohtet er die verschiedensten Genres aus, von der Fantasy bis zum Giallo. Jede Story ist einem (Film-) Genre zugeordnet; darüber hinaus könnte man sie aber noch anders sortieren. Mir hat z.B. der historische Krimi um den Marquis de Sade als „Sonderermittler“ sehr gut gefallen. Dafür war die Geschichte um den kleinwüchsigen Charter-Kapitän „für besonders schwere Fälle“ mit den Anleihen an die nordische (norwegische) Mythologie gar nicht so sehr als Fantasy erkennbar. Sie wurde es aber, als so eine Art Troll, der aus der mythischen Nebelzeit überlebt hatte, ins Spiel gebracht wurde. Aber das Ganze könnte man halt auch als Seemannsgarn etikettieren und es ist auch ein poetischer Abgesang auf die große Zeit der Ozean-Clipper. Tolle Story!
Was alle Texte besonders macht und zum Lesegenuss ist der Stil des Autors. Er schwelgt gern in Sprache und Sprach-Bildern. Besonders fiel es mir im längsten, titelgebenden Text auf. Der Genre-Zuordnung nach muss diese Story viel Autobiographisches enthalten; an manchen Stellen hoffe ich nur, dass dies nicht wirklich so der Fall ist. Harsches Nachwende-Leben… Der Autor hat seine Erlebnisse und vor allem seine Eindrücke, die er seit 1988 sammeln durfte(konnte/musste in eine teilweise sehr poetisch, metaphernreich Sprache gepackt. Ich war komplett fasziniert; gut, am Ende vielleicht etwas zu viel Metaphorik etc., aber sicherlich doch der allerbeste Text des Bandes.
Mehr zum Buch im NEUEN STERN.
9,5 / 10 Punkte
Walter Mehring: „Die verlorene Bibliothek“
„Autobiographie einer Kultur“ steht da als Untertitel. Ist sozusagen ein Sachbuch – ein Ritt durch die Literatur und Kultur des „alten Europa“, das mit dem Faschismus der 30er Jahre jäh beendet, oder zumindest unterbrochen wurde.
Der Autor macht seine kleine Literaturgeschichte an der Bibliothek seines Vaters fest, die er selbst auch ergänzte und pflegte – so lange er das konnte, denn er musste fliehen aus Nazideutschland und hat sie am Ende verloren. Aber in Form dieser wortgewaltigen, imposanten, spritzigen, sicher sehr subjektiven Darstellung bleib sie erhalten. Ein faszinierendes Buch, das man bei einem ersten Lesen gar nicht wirklich erfassen kann. Im Grunde kann man es als Nachschlagewerk nutzen; ein paar Autoren und Bücher sind mir auf jeden Fall so näher gebracht worden.
10 / 10 Punkte