Es wird mal wieder Zeit…
Helmut Krausser
…Helmut Krausser zu lesen!
Ein paar Gedanken nach der Lesung von
Helmut Krausser im Literaturhaus Leipzig am 7.Juni 2023
Ich bin Krausser-Fan! Allerdings ist mein Fandom abgestumpft. Leider scheint das vielen anderen Krausser-Fans auch so zu gehen. Einst, so erinnere ich mich, hat der Literatur-Pop-Star Helmut Krausser echt Säle gefüllt. Ich erinnere mich an meine erste Krausser-Lesung in Leipzig. Ich war recht früh da, hatte einen guten Platz ergattert und staunte nicht schlecht, wie sich der in meiner Erinnerung recht große Raum dann füllte. Am Ende hatten nicht mal alle Leute einen Sitzplatz. Und auch eine nächste Lesung, zu einer Leipziger Buchmesse – wieder voller Saal (da erschien ich bewusst frühzeitig, weil ich mir schon dachte, es wird voll). Das war zu „UC“-Zeiten. Ich denke, das war sein Höhepunkt? Und wie es aussieht, sieht er es selbst auch so. Auf die Frage, welches von seinen Werken er selbst als das beste, bedeutendste ansieht, meinte er „UC“. Natürlich wird von den frühen Fans (von mir auch) „Melodien“ genannt. Dazu meinte er aber, dass er den Roman damals recht schnell abschloss und an den Verlag gab, weil er das Honorar dringend benötigte. Erst Jahre später konnte er den Roman so vollenden, wie er es sich vorgestellt hatte – und ich muss mir jetzt also den Author’s Cut besorgen und das Buch in vollendeter Form noch einmal lesen. Ja, muss ich, mach ich!
Diesmal kamen kaum 20 Leutchen zur Lesung ins Literaturcafé im Literaturhaus Leipzig. Heute 20, damals locker 200 würde ich mal behaupten. Leider habe ich keine Tagebuchnotizen dazu angefertigt. Warum eigentlich nicht? *
Das neue Buch – „Wann das mit Jeanne begann“ – könnte ein würdiger „Melodien“-Nachfolger werden. Thematisch schlägt es wieder eine großen, metaphysischen Bogen, ist historische Erzählung, besitzt eindeutig phantastische Elemente (wer wird schon Jahrhunderte alt?), widmet sich interessanten historischen Persönlichkeiten, die zum Teil sehr populär sind = Jeanne d’Arc, zum Teil komplett von der Geschichtsschreibung in die Fußnoten verbannt wurden = Jeanne de Belleville, eine Korsarin, die der französischen Krone recht lang erfolgreich die Stirn bot, um ihren Ehemann zu rächen. Glaube ich gern, dass sie überaus interessant ist, nachdem der Autor ein wenig über sie erzählte. Mich hat er absolut neugierig auf den Roman gemacht, der schon bereit liegt, und bald gelesen wird.
Der Autor wundert sich, dass ihn das Feuilleton quasi vergessen hat. Er war ein Popstar (das sagt er nicht selbst von sich, aber ich kann ihn nicht anders nennen = ein Literatur-Popstar, aber nicht zu verwechseln mit den Pop-Literatur-Stars; dazu zählt er nicht).
Übrigens ist es eine Wonne, ihm beim Lesen zuzuschauen (und natürlich auch zuzuhören), er liest gestenreich. Er hatte allerdings mit einer Erkältung zu kämpfen und brachte seine Papiertaschentücher so ganz nebenbei zum Tanzen. Am Ende verneigte er sich vor dem Publikum dankend, wie ein Schauspieler am Ende seiner Vorstellung.
Vielleicht hat er es sich bei den Kritikern mit seinen Texten in „Deutschlandreise“ verdorben?, meint er. Das Buch gehört zu denen, die ich nicht mehr mochte. Vielleicht sollte ich es doch noch mal hervorkramen, denn darin kritisiert er die Kritiker. Die haben ihm das übel genommen?
Ich möchte nicht glauben, dass „mein Star“ erloschen ist. Für mich persönlich ist das nicht wirklich ein Problem, denn ich werde auf jeden Fall seine Romane, die ich gern las, noch einmal lesen: „Thanatos“, „Fette Welt“, „Die wilden Hunde von Pompeji“, natürlich „Melodien“ (in der „richtigen“ Fassung!) und dessen Quasi-Fortsetzung „Alles wird gut“. Jetzt widmet er sich mehr der Musik. Na, auch gut. Aber ich muss gestehen, das ich doch mehr auf neue Literatur des Meisters erpicht bin; da wird mein Interesse, meine Neugier auf Neues von ihm, nicht so schnell erlahmen.
„Wann das mit…“ ist übrigens KEIN Vampirroman, auch wenn der Moderator das meinte. Dem widersprach der Autor vehement. Aber was sind das für Leute, die das Blut von jungen Leuten in einem Ritus (auf dem Ararat?) zapfen und trinken wollen? Und die zumindest sehr lange leben, länger als Methusalem? Nein, kein Vampire, niemals!
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Habe übrigens für das SOLAR-X recht oft Krausser-Romane besprochen; war mir gar nicht mehr so bewusst. Mal sehen, vielleicht stelle ich die Rezis hier Stück um Stück ein. Kann ja nicht schaden, oder?
*) Stimmt gar nicht. Ich hatte zwar nichts in meinem Tagebüchern gefunden, aber dafür einen Bericht über meine erste Krausser-Lesung im SOLAR-X 137. Ich stell die mal als Kommentar hier mit ein. (BTW: Für mich interessant, was mir aktiv in Erinnerung bleib und wie es sich tatsächlich zugetragen hatte.)
Krausser – das nächste Kapitel
Beitrag von Thomas Hofmann
Es fing mit einer Sendung des Deutschlandfunks auf einer dieser langweiligen Fahrten auf der A 9 zwischen Berlin und Halle an. Da hören wir immer DLF, am liebsten Beiträge über Literatur, Theater, Film, oder Hörspiele. Da wurde also das neue Helmut Krausser-Buch vorgestellt: "Schmerznovelle". Nun beteten wir, daß wir noch genügend Zeit im Auto verbringen mußten, um alles mitzubekommen.
Dann kam also dieser Beitrag – offensichtlich von Leuten verfaßt, die noch nie Krausser gelesen hatten. Das Buch fiel durch; Krausser gehöre zu den Autoren, die einmal gut und eine große Hoffnung der deutschen Literatur waren, dann aber von Buch zu Buch schlechter wurden. Komischerweise nannten der oder die Autoren des Beitrages (zwei Sprecher waren es wohl...) mal das eine, mal das andere Buch als sein Erstling; man schoß sich dann auf "Melodien" als sein Debüt ein, was ja wohl irgendwie nicht stimmte. In Folge machten die Kollegen noch ein paar Fehler, auf die ich hier nicht eingehen will; wichtig ist die Quintessenz: Das neue Buch braucht man nicht lesen. Also, dachten wir, nischt wie’n Buchladen und kaufen. Na ja, dummerweise erschien das dünne Büchlein (heißt nicht umsonst Schmerz-Novelle) als Hardcover und war nur für ca. 30 DM zu haben. Also doch erst mal auf Eis gelegt...
Dann kam die Leipziger Buchmesse; dort hatten wir den Stand des Rowohlt-Verlages schnell entdeckt und standen vor dem doppelgesichtigen Cover des neuen Buches des Meisters. Jetzt bekam das Eis Risse.
Nun, soviel sei verraten, ich war es am Ende nicht, der die monetäre Eismauer ignorierte und in den Buchladen lief, um es dann doch zu holen. UND - das half bei der Kaufentscheidung: Helmut Krausser kam zur Lesung nach Leipzig, im Keller einer Innenstadtkneipe, die zu finden nicht leicht war. Markt Neun soll die Adresse sein; nun ist das Haus "Markt 9" fast ein kleiner Stadtteil. Aber wir fanden es, nachdem uns die schon ledrig braune Sonnenstudio-Schickse nicht sagen konnte, wo hier was von der Leipziger Buchmesse sein könnte.
Bereits 17.30 Uhr waren wir von Halle losgefahren, eingedenk des vortägigen Erlebnisses, daß man bis Leipzig doch mehr als eine Stunde braucht (zumindest in der Rush Hour), als wir zur Lesung mit Thomas Lehr wollten, aber das ist eine andere Geschichte...
Wir hatten also nun das Buch zum Signieren und waren pünktlich kurz vor 19 Uhr im überfüllten Lokal angekommen. Im Keller der Kneipe, wo die Lesung sein sollte, war aber noch niemand, außer die leicht verunsicherte Buchverkäuferin, die auch nicht wußte, was los war: denn, wir waren alle eine Stunde zu früh da, Tippfehler im Programmheftchen.
Laut Buchhändlerin sollte es sogar Eintrittsgeld geben, was uns veranlaßte, sogleich den Keller aufzusuchen und uns hinzusetzen. Diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig, denn die Bude füllte sich, bis irgendwann niemand mehr rein kam, weil die Tür verrammelt wurde. Kurz vor 20 Uhr stürmte das vor der Tür wartende Publikum den Keller; die Stühle reichten bei weitem nicht. Der Keller insgesamt auch nicht; scheinbar konnten viele nicht rein.
Kurz vor 20 Uhr steuerte ein Mann mit schwarzem Anzug und einem Buch unterm Arm geklemmt auf das Podium zu, nahm Platz, erklärte, daß er jetzt anfange, da ohnehin niemand mehr rein kommen könne und er aus seinem neuen Buch "Schmerznovelle" lesen werde, was ohnehin alle wüßten und wer er sei, wüßte man sicher auch. Kein ‘Luft holen’, kein "Guten Tag", sondern Buch auf und los!
Eine dreiviertel Stunde las er so viel, daß man sehr genau mitbekam, worum es in dem Büchlein ging, doch nichts verriet er davon, wie es ausging, wohin der Hase läuft. Na ja, sicher wird demnächst hier auch eine Rezi zum Buch zu finden sein, dann sicher wieder unter der Rubrik "Horror", auch wenn Krausser vehement von den Feuilletonisten als Mainstream behandelt wird, was ihm finanziell sicher zu Gute kommt, so ist es glatter Psychohorror, den er da anbietet, vielleicht noch als Krimi zu deklarieren - eben als Psycho-Krimi.
Es geht um ein Pärchen, die Palms, die aber als Pärchen schon lange nicht mehr persönlich existieren, sondern als Personenfragmente in einer Frau – Schizophrenie. Doch dazu später mehr.
Die Lesung war ein Genuß; auch wenn der Autor scheinbar kein großes Vergnügen dabei hatte, diesem leicht alternativen, recht jungen, bürgerlichen Bildungspublikum vorzulesen, so steigerte er sich in seine Story rein, und entwickelte am Ende fast schauspielerische Qualitäten, zumal dann, als er "Herrn Palm" auftreten ließ.
Am Ende der Lesung: Wenn jemand was signiert haben will und Fragen hat, können wir das machen. Sprang auf: Aber nicht hier drin und rannte raus.
Und draußen: ich wartete auf Jutta, die ja das Buch nicht umsonst gekauft haben wollte, fragte ich mich bald, was das für eine Welt ist, in die wir da geraten waren. Da stand plötzlich der junge Mann mit dem grünen Pullover neben mir, der so ähnlich aussah wie Krausser, auf den ich vor der Veranstaltung gewettet hatte, daß er der Autor sei. Und der, als Jutta ihn damit konfrontierte, verwundert und verschmitzt fragte, warum wir ihn nicht gleich darauf angesprochen hätten. Außerdem kenne er den Autor gar nicht, wollte aber dennoch seine Lesung miterleben, halt mal was Neues hören. Dann kam noch ein betrunkener Kerl auf uns zu und fragte, wer der Autor eigentlich sei. Welcher Autor? Krausser? – Als ihm das irgendwie klar wurde, erklärte er, er sei ein Groupie. Wir verzichteten auf weitere Worte und drängelten uns laut lachend aus der immer noch überfüllten Kneipe.
Krausser wird gefeiert wie ein Popstar und will doch keiner sein. Aber wieso eigentlich nicht? Er hätte es verdient.
aus: SOLAR-X 137, Mai 2001