Leseliste am Ende des Jahres
Ina Elbracht Daniel Bechthold HERMIT Bodo Uhse Leo Perutz Daniel Kehlmann Alex Garland
Mein Leselistenabschluss für 2024; die Gesamtübersicht nach Punkten gibt’s aber noch. Beim Lesen der Einträge (und Suchen nach Fehlern, ja ein paar habe ich gefunden, die noch drin sind, nicht) fiel mir jetzt auf, dass meine Gedanken zu den Büchern ziemlich persönlich geraten sind. Ich hoffe, das stört nicht weiter. Ich merke, dass ich immer mehr nach Relevanz für mich persönlich in der Lektüre suche, nach Bestätigungen und In-Frage-Stellungen alter Überzeugungen.
Daniel Kehlmann: „Über Leo Perutz“
Was für ein feines Büchlein! Bin ja erst kürzlich (gemessen an meiner Lese-Karriere) auf Leo Perutz gestoßen. Jetzt weiß ich, was das für ein großartiger Schriftsteller war und habe ihn gleich in den Kreis meiner Lieblingsautoren aufgenommen. Dort befindet sich Kehlmann ja schon ein Weilchen. Und nun beide Namen unter einem Buchdeckel! Was dann auch kein Wunder ist, denn wenn man sich mit Perutz beschäftigt, stößt man auf die Verfilmungen seiner Bücher von dem Vater Daniel Kehlmanns.
Perutz gehörte fest zum Hausrat der Kehlmanns, Daniel ist sozusagen damit aufgewachsen. Er ist zeit seines Lebens Fan des Autors, auch wenn der von der Literatur-Kritik etc. quasi vergessen wurde. Ob sich das mit dem „Über…“-Buch von Kehlmann jetzt ändert?
Das Büchlein hier jedenfalls bemüht sich sehr, Perutz aus dem Vergessen zu zerren. Wobei sehr wenig über das Leben des Autors bekannt ist und Kehlmann sich daher stark auf Inhaltswiedergaben einiger Titel von Perutz, insbesondere und sehr ausführlich auf „Nachts unter der steinernen Brücke“ stürzt. Insgesamt hat das Kehlmann-Buch nur 100 Seiten, also so richtig viel erfährt man dann auch nicht. Wer Angst vor Spoiler-Alarm hat, sollte es jedenfalls nicht lesen. Andererseits offenbart Kehlmann, dass man so manchen Text von Perutz bei einem ersten Lesen gar nicht verstehen kann, weil sich bestimmte Bezüge in einem Roman erst am Ende offenbaren – sofern man sich an Details vom Anfang auch noch am Ende des Lesens erinnern kann. Da hilft wohl nur – mindestens – eine Zweitlesung. Ja, auch ein guter Tipp!
10 / 10 Punkte
Jan Schomburg: „Die Möglichkeit eines Wunders“
Die fiktive Biografie des (mir bis dato un-) bekannten „Geister-Barons“ Albert Schrenck-Notzing. Ich hatte mir mehr drunter vorgestellt. Mehr von der Münchner Bohème um 1900, mehr Enthüllungs-Material zu den parawissenschaftlichen und -psychologischen Experimenten, mehr von dem auf dem Buch-Umschlagrücken versprochenen „okkulten Auswüchsen des deutschen Faschismus“.
Dass die erzählte Biografie des Protagonisten so gut wie gar nicht stimmt, habe ich dann erst im Nachgang beim (oberflächlichen) Recherchieren gemerkt. Ist aber okay, ist dann halt ein gut erzählter Roman. Ja, ist gut erzählt, obwohl mir zu viel nur angerissen und angedeutet erschien.
Dabei gibt es da so viele tolle Themen, die den Phantasten in mir triggerten: Parapsychologie und sogar Voodoo auf Haiti (war der echte Albert je auf Haiti?).
7 / 10 Punkte
Alex Garland: „Der Strand“
Im Rahmen meiner Alex-Garland-Gesamtlesung und meiner Alex-Garland-Gesamtschau nun also sein Roman-Erstling. Der verfilmt wurde, mit Leonardo DiCaprio & Tilda Swinton. Den Film hatte ich mir dann auch noch gleich angeschaut. Klar, gibt wieder Unterschiede.
Und was ist besser, Buch oder Film? Also, auch wenn das Buch meiner Meinung nach Längen aufweist, ist es doch besser.
Warum? Weil es bestimmte, für mich interessante Elemente, verstärkt darstellt, im Vergleich zum Film. Z.B. die „Apokalypse Now“- Stimmung, oder – noch extremer – das Abgleiten des Protagonisten Richard in den Wahnsinn, der sich durch seine traumartigen „Begegnungen“ mit dem toten Duffy Duck manifestiert. Kommt im Film nur sehr vorsichtig vor, im Roman ist das ein wichtiger und lang erzählter Teil. Sogar so intensiv, dass man vielleicht erst mal gar nicht merkt, dass Richard sich hier mit einem Toten unterhält.
Auch den Wahnsinn Richards angehend, wird sein Verhältnis zu Tot und Töten intensiver dargestellt. Könnte aber eindeutiger sein. Im Film ist sein „Totmachen-Handeln“ ja eher ein Akt der Erlösung für den Betroffenen und es bleibt auch bei dem einen, nicht wie im Buch.
Dafür kommt im Buch m.M.n. das utopische Element der Insel-Gemeinschaft nicht so zum Tragen.
Tja, lohnt das nun für einen 3. Teil meiner „Garland-Akten“ im NEUEN STERN? Hmm, sicher dann doch erst zum 3. Teil seiner Zombie-Filmreihe.
8 / 10 Punkte
Tatjana Tolstaja: „Rendezvous mit einem Vogel“
Boah, was für eine Poetin! Ich kann leider nicht sagen, dass ich alles komplett verstanden hätte, aber ich muss gestehen, dass ich von der Sprache und den Bildern, und vor allem von den Gefühlen, die sie erzeugen, komplett überrannt wurde.
Es mag an der Zeit liegen, es gibt so viele Dinge, die (nicht nur) mich endlos traurig machen, und ich daher beim Lesen fast Heulen musste.
So etwa bei „Peters“ – über einen unansehnlichen, dicken Jungen / jungen Mann, der auch sonst kaum Wesenszüge besitzt, die ihn für andere Menschen attraktiv machen. Er vereinsamt und leidet darunter. Hat Selbstmordgedanken. Erfüllung im Leben scheint ihm verwehrt, aber er entscheidet sich doch für das Leben und am Ende, als Alter, ist er sowas wie glücklich (?), jedenfalls sind die letzten Worte der Story ein euphorisches Hoch auf das schöne Leben. Boah – wie wundervoll – traurig!
Oder: Die Titelstory. Über eine erste Liebe, eines Jungen, der Liebe sucht. Sie – existiert sie überhaupt? Bin mir da nicht sicher, ob nur in seiner Phantasie (?) – ist exaltiert, sprüht vor Phantasie. Sie weiht ihn in ihre geheimnisvolle (Parallel-) Welt ein, in der bestimmte Vögel eine Rolle spielen.
Das alles passiert, als der Opa im Sterben liegt, vielleicht ist dies alles eine Metapher auf den Wechsel von Tod & Leben?
Sie schenkt ihm ein Ei, das seinem Besitzer „ewige Schwermut“ verleiht, und dennoch zum Sucht-Ankerpunkt wird. Boah… okay, ich wiederhole mich.
„Der Fluß Okkerwil“ – über eine Frau, die wohl mal sowas wie ein Popstar war, eine begnadete Sängerin und nun in die Jahre gekommen ist.
Eine Story, die mir gerade zu passe kommt, wo ich alternde Popstars beobachten kann – die aus meiner Sicht sehr unterschiedlich (gut) gealtert sind: Jeff Lynne und Robert Smith, die sich gerade beide auf unterschiedlichem Wege aus ihrem Popstarleben verabschieden. Ja, was bleibt vom alten Zauber? Wie hätte ich die Story gelesen, als sie rauskam und ich noch jung war (in den 80ern)? Damals war es mir unvorstellbar, dass die mal genau so alt sein können, wie meine Eltern damals waren. Aber doch, das geht.
„Sonja“ – hat sogar einen eigenen Wiki-Eintrag auf Deutsch. Auch hier ist die Protagonistin eher ein Aschenputtel, wie in „Peters“. Sie wird zudem von einer anderen, die sich als schön und unwiderstehlich wähnt, gehänselt und auch ziemlich arg an der Nase herumgeführt (die andere schreibt scheinbar Liebensbriefe als Mann an Sonja). Während der Leningrader Blockade rettet Sonja der anderen, bösen Kontrahentin das Leben und stirbt selbst. Schon heftig.
Zu jeder Story kann ich hier so eine Zusammenfassung gar nicht schreiben. Würde nur etwas ratlos wirken. Aber ich glaube, ich muss mir da keine Gedanken machen; die Autorin betont immer wieder, dass sie ihre Geschichten so offen und unklar anlegt. Wahrscheinlich ist das Leben so – unklar?
9 / 10 Punkte
Bodo Uhse: „Wir Söhne“
Noch so ein „Hobby“ von mir: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre verrückten, komplizierten, „unentschiedenen“ Charaktere und Protagonisten. Hatte mir da ja schon „vorgenommen“: Arnolt Bronnen, Felix Gasbarra und zuletzt auch Franz Fühmann. Den ersten und dritten sogar in den STERNENSPLITTERN. Wir sind ja heute gern geneigt, falsche Entscheidungen von damals zu verurteilen. Ich versuche aber immer noch dahinter zusteigen, wie diese Zeit „funktionierte“ und was da wirklich passierte – auch in den Köpfen der Betroffenen.
Mit Bodo Uhse hat es dann auch noch den persönlichen Hintergrund, dass er zu den Lieblingsautoren meiner Mutter gehörte. Konnte ich damals gar nicht nachvollziehen. Aber nun stolperte ich wieder über ihn, mit der Lektüre von „Erdling“ von Emma Braslavsky – wo er nicht auftaucht, aber sein Umfeld und bei Recherchen stieß ich halt wieder auf diesen Namen – und nun vor allem bei der Lektüre von Jens Biskys „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“, zu dessen Präsentation in Leipzig ich war und das ich jetzt aktuell lese (halt mit Unterbrechungen, wie dieser hier) und das ja thematisch komplett ins Volle bei mir traf.
Bodo Uhse ist in der DDR irgendwann angekommen, aber das dauerte und er hatte „seine Geschichte“, die ihn vom Kapp-Putsch-Unterstützer in die Redaktion einer faschistischen Tageszeitung führte, ihn dort mit der Landvolk-Bewegung und auch mit kommunistischen Funktionären konfrontierte, was ihn noch vor 1933 veranlasste, von der NSDAP zur KPD zu wechseln.
Man findet schnell etwas über ihn und sein Umfeld; will ich jetzt hier nicht vertiefen. Aber das weckte nun meine Neugier auf seine Literatur, die er selber verfasste (nicht die über ihn).
Dieser Roman beschreibt aus der Ich-Erzähler-Perspektive eines Sohnes eines Offiziers der kaiserlichen Armee eine coming-of-age-Story von Realschülern am Ende des 1. Weltkrieges. Das ist ein Roman über Freundschaften, erste Liebe, über weltanschauliche Entwicklungswege, über erste Lebensentscheidungen – die vor dem historischen Hintergrund des Untergangs des Deutschen Kaiserreichs und des verheerenden Krieges, Armut und Hungerjahre und ideologische Indoktrination und dann auch vor dem Hintergrund revolutionärer Entwicklungen – schon ziemlich weittragend sind. Wo die jungen Leute „rauskommen“, wird dann wirklich erst ganz zum Schluss deutlich.
Stilistisch? Na ja, Uhse ist kein Remarque. Trotzdem las ich es mit Genuss und Spannung; auch wenn das nun kein Abenteuerroman ist, gibt es richtige Cliffhanger und Andeutungen, die das Interesse auf das Folgende wecken sollen.
Ideell hat es mich gepackt, als der Protagonist sich abschottend von seinem Umfeld auf die Suche nach seinem Platz in der (Ideen-) Welt suchte, sich aufmachte auf eine Reise zwischen Blauer Blume und dem Verheißungen der Insel Orplid, der über „krause Wege … die über Sehnsüchte und in sinnlos widrige Abenteuer führten“, begab. (S. 53)
9 / 10 Punkte
Birgit Schmidt: „Wenn die Partei das Volk entdeckt“
Anna Seghers, Bodo Uhse, Ludwig Renn u.a. Ein kritischer Beitrag zur Volkfrontideologie und ihrer Literatur
Unrast-Verlag Münster, 2002
Was der Titel mit dem Inhalt zu tun hat, hat sich mir nicht erschlossen. Macht aber nichts, denn ich griff bewusst zu diesem Buch, weil es mir im Zusammenhang mit dem Thema immer wieder empfohlen wurde, mit dem ich mich gerade beschäftige. Welches Thema? Na, ich lese z.B. Bodo Uhse; sein „Söldner und Soldat“ liegt nun auch bereit für die Lektüre.
Es sind diese Typen, die so zwischen den Fronten jonglierten, durchaus als Protagonisten – als Täter und auch als Opfer. Über die wir heute so gern den Stab brechen und sie verurteilen, weil wir wissen, wie „das alles“ ausgegangen ist. Ja, damals aber nicht. Und übrigens nützt dieses Wissen offensichtlich auch nicht so viel, wenn man sieht, in welchen Entwicklungen wir heute stecken.
Bodo Uhse und Ludwig Renn sind solche Autoren und Funktionäre, die aus einer reaktionären Ecke stammen, sich dann aber umentschieden haben, die „dazugelernt“ haben – um dann aber, wie dieses Buch hier sehr eindringlich darstellt, sich wieder auf den Holzweg begaben.
Die Autorin beleuchtet die sog. Volksfront-Strategie der Kommunistischen Partei Deutschlands. Über die habe ich im DDR-Unterricht natürlich auch viel erfahren. In Frankreich war sie ziemlich erfolgreich, konnte eine rechte Regierung verhindern. Und Deutschland? Dort scheiterte sie. Allerdings war sie auch ganz andersausgerichtet als z.B. in Frankreich, so die Autorin.
Jetzt kommt kein Geschichtsvortrag. Ich habe aber diese Lektüre regelrecht aufgesogen. Sie eröffnete mir komplett neue Aspekte und Sichtweisen. Ich bin erschüttert und begierig, da mehr drüber zu erfahren.
Dabei geht es oft um die historischen und politischen Begebenheiten, aber immer noch viel stärker um die erzählende Literatur, die dies Politik begleitete, transportieren sollte (wirklich wirksam wurde sie gar nicht, da viele Romane etc. ihre Zielgruppen dann gar nicht mehr erreicht haben).
Die Autorin räumt – bei mir – mit Überzeugungen und Vor-Urteilen auf. Diese Literatur, die sich dann in der DDR fortsetzte, ist wohl keineswegs fortschrittlich, progressiv, wie sie gern erscheinen wollte oder auch (von der DDR-Literaturwiss.) dargestellt wurde. Da gibt die Autorin ziemlich harsche und vernichtende Urteile.
Vielleicht sieht sie ja alles aus ihrem Blickwinkel. Die Arbeit scheint einen wissenschaftlichen Anspruch zu haben, aber sie liest sich einfach auch gut, erscheint mir dann an vielen Stellen gar nicht akademisch, sondern griffig und bildreich.
Für mich klare 11 / 10 Punkte (mein Buch des Jahres 2024?)
Stefan Zweig: „Sternstunden der Menschheit“
Nachdem ich endlich mal den Film, „Vor der Morgenröte“, über die letzten Jahres von Stefan Zweig, gesehen habe, der mich ziemlich anrührte, wollte ich auch – endlich mal – sein Buch lesen, das ich bereits als Geschichtsstudent besitze, aber eben doch nie gelesen habe. Vielleicht, weil ich dachte, es bringt mir nichts an Wissenszuwachs? Wobei ich schon sah, dass da Themen angesprochen wurden, mit denen ich mich bisher nicht befasst hatte; insofern hätte es auch Wissenszuwachs gebracht.
Na gut, wie auch immer, dann eben jetzt. Ich habe es mir als Hörbuch gegönnt. Gelesen von Jürgen Hentsch.
Nach dem Hören weiß ich, dass ich Stefan Zweig mehr zu verdanken habe, als ich dachte. Viele seiner Gedanken und Sichtweisen zu historischen Figuren und Ereignissen, bis hin zu konkreten Formulierungen, kamen mir im Nachhinein ziemlich bekannt vor. Warum? Na ja, meine erste Leidenschaft – als Kind, Jugendlicher – war nicht die Phantastik, sondern die Geschichte, vor allem alte Geschichte, griechisch-römische Antike, Mittelalter, aber auch z.B. die Großen Geografischen Entdeckungen. Und mein wichtigster „Geschichtslehrer“ war mein Vater. Er war wirklich Lehrer, aber ich hatte bei ihm keinen Unterricht, aber zuhause hörte ich ihm gern zu. Er prägte meine Gedankenwelt, keine Frage, und bestimmte Schlagwörter, „Urteile“ usw., die ich von ihm quasi geerbt habe, habe ich hier bei Zweig wiedergefunden. Er muss das Buch gelesen – und quasi aufgesogen haben.
Das ist alles lange her.
Die Texte sind, anders als ich vermutet hatte, viel mehr Essays als Short Stories. Dabei sicher subjektiv, schwelgerisch, pathetisch mitunter. Aber warum nicht? Zweig liebte die europäische Zivilisation; so sehr, dass er sich das Leben nahm, als sie durch die Nazis vernichtet wurde.
Für mich bot dieses Buch also einen Ausflug in alter Erinnerungen, aber auch neue Eindrücke; wie z.B. über den US-Präsidenten Wilson und seinen Weltfriedensplan, der nicht zündete, oder über den Schweizer in Kalifornien.
Ein paar Helden der Geschichte fand ich auch langweilig, wie Händel. Aber das ist Geschmacksache, denke ich. Da konnte ich halt auch wirklich nichts Neues erfahren, deshalb fand ich es langweilig und viel zu ausufernd erzählt. Dabei müsste ich als Waldtraut-Lewin-Fan ja auch Händel-Fan sein, oder? Aber das ist eine andere Geschichte.
8 / 10 Punkte
Ferenc Herczeg: „Sirius“
… und sechs weitere phantastische Erzählungen. Hg., teilweise ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Lars Dangel. DvR, Lüneburg 2024
Was für eine faszinierende Entdeckung, die wir – also erst einmal ich hier – Lars Dangel zu verdanken haben! Ich wünsche dem Buch mehr Aufmerksamkeit. Ein ungarischer Schriftsteller, der nach dem II. Weltkrieg in Vergessenheit geriet. Warum, erklärt Lars in seinem sehr umfangreichen Nachwort ausführlich.
Sein Nachwort stellt die Fragen, ob es sich bei Herczeg um den ungarischen H.G. Wells handelt. Gerade die Titelstory, in der es um Zeitreise mittels Zeitmaschine geht, lässt diese Vermutung ja zu. Die Story entstand übrigens vor Wells! Das macht die Sache noch interessanter, oder?
Lars beantwortet die Frage aber auch gleich selbst; man kann es sich aber auch beim Lesen der Story selbst beantworten: Die „Zeitreise“ hier hat mehr von Jules Verne, weniger von Wells. Die Idee dahinter ist die, dass bei genügend hoher Geschwindigkeit des Flugzeugs, mit dem man um die Erde entgegen der Rotation der Erde fliegt, Tage, Wochen, Jahre „einsparen“ kann, bzw. halt die Zeit zurückdrehen kann.
Ob das physikalischer Unsinn ist, ist dem Autor aber egal. Ihm geht es um die Frage, was passiert, wenn man seinen eigenen Vorfahren begegnet und es dazu kommen würde, dass ein unmittelbarer Vorfahre vorzeitig stirbt. Eine der grundsätzlichen Fragen von Zeitreisen hat damit der Autor schon auf die Agenda gebracht. Allein dafür gebührt ihm Aufmerksamkeit und Bekanntheit.
Die Stories sind durchaus unterhaltsam und allesamt handfeste SF-Stories; eine über einen Unsichtbaren dann wohl tatsächlich von Wells inspiriert, aber auch mit anderer Ausrichtung als bei Wells.
Ich habe den Band mit großem Vergnügen gelesen! 9 / 10 Punkte
Bechthold & Elbracht:
„HERMIT, der Froschbarbar. Der Schrei der Schmättterlinge“
… als Buch! Gab’s ja schon mal in Kurzform im NEUEN STERN. Hier also die Langversion, der ganze Roman. Der erste einer Reihe? Hmm, wer weiß.
Habe mich jedenfalls riesig gefreut, das Werk nun endlich in den Händen halten zu dürfen. Okay, der Druck ist nicht optimal, der Bundsteg fast nicht vorhanden, die Schrift vielleicht ein bisschen zu groß, um gefällig zu sein.
Aber dafür: Die vielen, vielen, tollen Illustrationen. Fast ein Comic ist das ja. Daniel Bechthold hat sich die Seele aus dem Leib gezeichnet. Das macht echt Spaß bei der Lektüre. Dazu die vielschichtige Science Fantasy (?) Geschichte von Ina Elbracht. Eine fremde Welt – TREBORIA – mit „menschelnden“ Wesen, die auf der Erde eher als Insekten und Amphibien durchgingen, dazu irgendwie verloren gegangene Roboter. Etwas Irdisches hat sich dorthin auch verirrt. Wir haben humorige Szenen, seltsam-sexuelle Anspielungen (na ja, Insekten), aber auch handfeste Action und blutiges Geschlachte, wie in der „echten“ Fantasy üblich.
Das Genre wird nicht so ganz ernst genommen, was es mir einfacher machte einzusteigen. Bin ja nicht so der „echte“ Fantasy-Leser.
Ja, hat mir gefallen und ich möchte 9/10 Punkte vergeben; mehr Eindrücke gefällig? Ich verweise gern auf den Eintrag in den Zauberwelten, von Andreas Giesbert:
Hermit - Ein Froschbarbar schlägt zu - Der Schrei der Schmättterlinge - Zauberwelten-Online, der das Buch übrigens auch im NEUEN STERN ausführlich vorstellt.
Bodo Uhse: Söldner und Soldat“
Zum Ende des Jahres – ist ja fast mein letztes Buch in 2024; über die Feiertage komme ich erfahrungsgemäß eher weniger zum lesen – bin ich wieder in der deutschen Geschichte drin. So wie ich das Jahr angefangen hatte (mein erstes war eins von Wolfgang Harich).
Und ich habe mich wohl immer noch nicht komplett an dem Thema abgearbeitet – an dem Thema der gespaltenen, unentschlossenen historischen Persönlichkeiten, die zwischen den ideologischen Polen schwingen, die Täter und Opfer waren, die sich entwickelt haben, und über die in der Geschichtsschreibung und gesellschaftlichen Wahrnehmung mitunter schnell ein Urteil gefällt wurde, die aber auch so ambivalent wahrgenommen wurden, wie sie waren.
Hier ist es also Bodo Uhse, ein in der DDR verlegter Autor, dessen Bücher in meiner elterlichen Bibliothek zu finden waren. Ich weiß noch, wie ich die Bücher immer wieder in die Hand nahm, als Jugendlicher, aber sie nie gelesen hatte. Irgendwie ist meine Lektüre Bodo Uhses jetzt auch ein Stück Familien- und persönliche Geschichtsaufarbeitung (?); na ja, mit 60 darf man das wohl.
Diesen Roman schrieb der Autor mit so ca. 30 Jahren. Etwas früh für eine Autobiografie, die sie ja ist. Insgesamt ist er nicht alt geworden, aber wenn ich daran denke, was er auch noch nach diesen ersten 30 Jahren erlebte und machte, dann kann ich kaum glauben, dass er nicht mal 60 wurde. Er hat die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts „voll mitgenommen“ – alle Tiefen ausgelotet (Höhen gab es ja nicht wirklich), ist in alle politischen Extreme gefallen und hat sie auch ausgefüllt, ist also nicht nur einfach Mitläufer gewesen. Genau darum geht es in seinem Buch: Er war als junger Mensch in rechtsextremen Kreisen involviert und aktiv, vom „Bund Oberland“ zur NSDAP. Wobei er das mit dem „Sozialismus“ im Namen der faschistischen Partei sehr wörtlich und ernst nahm – und daher dort an Grenzen stieß. Es gab ja diesen nationalbolschewistischen Flügel innerhalb der NSDAP, um die Strasser-Brüder etc., die er auch selbst kennen lernte. Von der Position aus, quasi moderiert durch seine Konfrontation mit dem teilweise terroristischen Bauern-Widersand gegen staatliche Auflagen, der sich politisch auch sehr zwischen den polit. Extremen bewegte, gelangte er zum ihm zuvor verhassten Kommunismus. Das wird nur ganz zum Ende angedeutet; insgesamt schildert er sehr ausführlich, was diese Männern (ja, es waren ja eigentlich nur Männer) so attraktiv an einem nationalistischen, national-revolutionären und vor allem gewalttätigen „Kampf“ gegen die Weimarer Republik und die KPD fanden. Es geht um Saalschlachten, auch um seine Arbeit bei entsprechenden Zeitungen, die er zum Teil auch redaktionell leitete, und um den Kampf innerhalb der Nazi-Partei um die politische Ausrichtung.
In den Ausführungen von Birgit Schmidt (siehe weiter oben) wird ihm unterstellt, dass er sich mal von den einen, mal von den anderen instrumentalisieren ließ. So habe ich das zumindest verstanden. Als Aussteiger aus der rechten Szene hat er sich dann angeboten, anderen Ausstiegswilligen eine Brücke bauen zu wollen. Das sollte das Buch auch leisten – wirkungstechnisch kam es sicher eher selten dazu, denn es erschien im Exil und wurde höchsten nach Deutschland eingeschmuggelt; ich denke, eine große Verbreitung vor 1945 gab es nicht.
Für mich war dies ein Steinchen mehr für mein Verständnis dieser komplett unbestimmten Zeit und schwer fassbaren (Ideen-) Welt. Dazu mitunter mit sehr griffigen, fast poetischen Formulierungen. Für mich sind das 10 / 10 Punkte