

Hofmanns Leseliste Sommer bis Herbst 2025
Gunnar Decker Primo Levi Gustav Meyrink Yvan Goll
Da ich etwas säumig in Sachen Leselistenführung bin, teile ich jetzt mal meine letzten Einträge seit dem Sommer. Für alle, die tatsächlich meine Notizen lesen, soll es ja nicht zu viel werden, zu viel Text auf einen Haufen hält ja keiner aus...
Hier also ab Sommer, bis ca. Herbstanfang. Der Rest (bis heute - 3.Oktober) etwas später.
Der Blickfang oben ist eine Skizze, die ich vor über 10 Jahren - eher noch früher - gezeichnet hatte und die ich jetzt, aus keinem vernünftigen Grund, quasi zu Ende gezeichnet habe. Einfach so. Mit dem INhalt der hier vorgestellten Bücher hat dieses Vampirwesen nichts zu tun.
Gunnar Decker: „Houellebecq. Das Ungeheuer“
Gunnar Decker ist sicher DER Biografien-Autor – na ja, so viele kenne ich nicht (also, weder „Biografien-Autoren, noch Biografien von Decker), ist mir halt nur aufgefallen, dass er sehr viele geschrieben hat. Wobei er sicher „seine“ Persönlichkeiten abhandelt, die ihm liegen und ihm was zu sagen haben. Kennengelernt hatte ich ihn durch seine Franz-Fühmann-Biografie, die mich absolut fasziniert hatte. Fasziniert hatte mich Fühmann, natürlich, aber eben auch die Art & Weise, wie Decker schreibt. Seine bildgewaltige, mitunter zu Aphorismen neigende Sprache, die aber – so mein Eindruck – dennoch genau ins Schwarze, in Herz trifft, hat mich in ihren Bann gezogen, sogar über viele Seiten hinweg. Kann ja ermüden, so ein gewählter Schreibstil. Mich nicht, kann nicht genug davon kriegen und schaue deshalb, was er sonst noch so schrieb. Neben dem Fledermausbuch hat es mir nun also seine Monografie zu Houellebecq angetan.
Von Houellebecq selbst habe ich so viel noch gar nicht gelesen, weiß aber nach der Lektüre dieses Buches, dass ich da was nachholen werden; 2 Titel sind es erst einmal die demnächst fällig sind.
Mich hat natürlich der durchaus reißerische Untertitel, „Das Ungeheuer“, angesprochen. Und auch wenn Decker absolut eine, viele Lanzen für Houellebecq bricht, so lässt er es nicht aus, auf die Ambivalenz der Resonanz, die Houellebecq bei seinem Publikum und in der Öffentlichkeit hat, hinzuweisen. Aber Decker tut alles, um seinen Lieblingsautor (Houellebecq ist offensichtlich einer seiner Lieblingsautoren, aber bei weitem nicht der einzige) zu unterstützen, vor übler Nachrede zu bewahren und zu reinigen, Interesse für seine mitunter harsche Gesellschaftskritik zu wecken, die eben nicht reaktionär ist, wie oft unterstellt.
Wie auch immer, ich habe selten eine so anregende, Interesse weckende Bio gelesen, über einen Schriftsteller, die selbst großartig geschrieben ist und in der ich am liebsten jeden dritten Satz unterstrichen und mir auf ewig würde.
10 / 10 Punkte
Brian Aldiss: „Dr. Moreau’s neue Insel“
Roman von 1979/80, dt. 1981. Ist ja eine Hommage an den Wells-Klassiker, der hier direkt verarbeitet wurde, ähnlich wie in Aldiss‘ Frankenstein-Adaption, aber auch ein Zeitzeugnis seiner Zeit des Kalten Krieges. Habe das Buch im Rahmen der NEUER-STERN-Challenge zum 100. Geburtstag des Autors gelesen. Nach seinem Frankenstein also nun sein Dr. Moreau.
Ach ja, den gab es also wirklich, auch seine Insel und die Tiermischwesen. 1996, als der 3. Weltkrieg gerade ausbricht, hat diese Insel ein gewisser Mortimer Dart in Beschlag genommen. Dorthin verschlägt es einen (Raum-) Schiffbrüchigen, wie weiland bei Wells.
Am Ende geht es auch um die Frage, dürften wir Menschen – hier mittels Gen-Technologie, also schon etwas realistischer gedacht als von Wells – „Gott spielen“ und selbst intelligentes Leben erzeugen, schaffen? Dart handelt nicht im Eigensinn, sondern im Auftrag einer kriegführenden Macht und das Ziel ist die Schaffung von Menschen, die effizienter und sparsamer existieren könne und vor allem in einer atomar versuchten Nachkriegswelt. Ja, schöne Aussichten…
5 / 10 Punkte (Es gibt wegen es angeschnittenen Thema ziemliche Abzüge, die mir die Lektüre verhagelt haben; wer mehr erfahren will, den verweise ich auf das Aldiss-Spezial des Neuen Sterns, der noch 2025 erscheinen wird.)
Primo Levi: „Ist das ein Mensch?“
Das Buch musste ich nun endlich nachholen, nachdem ich seine phantastischen Stories gelesen habe (zum wiederholten Male). Was der Autor da erzählt, hat er selbst erlebt und ist erschütternd. Was er durchmachen musste, kann ich aber auch nach der Lektüre wahrscheinlich nur ansatzweise nachvollziehen. Ich kann hier auch nicht „normal“ darüber berichten; die Kurz-Rezi muss ich also schuldig bleiben, sorry. Für mich war diese Lektüre sehr wichtig und ich bin dem Autor sozusagen dankbar, dass er ohne abgrundtiefe Verbitterung berichten konnte, obwohl er alles Recht der Welt hätte, viel konsequenter verbittert und hasserfüllt zu sein.
Keine Wertung
Gustav Meyrink: „Fledermäuse“
Ullstein 1992
… und ein paar Texte aus „Tschitrakarna, das vornehme Kamel“ (Reclam, Leipzig 1978)
Im April 2022 meinte ich noch: Lies mehr Meyrink! – nach einem tollen Vortragsabend im Buddehaus. Und ich habe das ernst gemeint, auch für mich.
https://scifinet.org...s-mehr-meyrink/
Nur, wie so oft, braucht es bei mir etwas länger. Und so viel „mehr Meyrink“ wurde es auch nicht denn ich habe ihn mir als Reisebegleitung rausgesucht. Erfahrungsgemäß lese ich aber auf unseren Urlaubsfahrten gar nicht so viel. Auch wenn wir mit dem Zug durch Südpolen fuhren und ich eigentlich recht viel Zeit hatte, kam ich nicht viel zum lesen.
Aber Meyrink, soviel habe ich mal wieder mitbekommen, lohnt auf jeden Fall! Wobei mir die komischen, satirischen Sachen, vornehmlich aus des Deutschen Spießers Wunderhorn, gar nicht so dolle gefallen, die mystischen, okkulten Sachen dann doch mehr. Von den Erzählungen habe ich ein paar sogar gleich mehrmals gelesen; ich fand die großartig! Schauen wir doch mal rein:
„Der Herr Kommerzienrat Kuno Hinrichsen…“ ist so ein reicher, bürgerlicher Fan indischer Religion und Philosophie. Seine Versuche, ohne Fehl zu leben, gestalten sich schwierig, denn wenn man bestimmte Regeln wörtlich nimmt, ist das Essen von Gras schon Diebstahl, da man es den Kühen wegessen würde, die ihrerseits die Milch für die Kinder produzieren.
Ansonsten ist das Tun des Bonzen alles andere als ohne Fehl und Tadel. So entwickelt seine Fabrik z.B. eine Maschine, mit der man aus 10.000 Pinguinen Fett gewinnen kann. Der Sohn schießt derweil in Afrika Dickhäuter en masse ab, so zum Spaß.
Ja, irgendwie hat diese Satire ziemlich viel Aktuelles, oder?
Am Ende droht ihm der große Börsenkrach. Auf einmal ist er gar nicht mehr so gleichgültig gegenüber irdischen Besitztümern und leidet unter Verlustängsten. Doch er hat den Dreh raus und macht, dass sein Konkurrent den Verlust erleidet. Sein philosophisches Weltbild dreht er sich natürlich so, wie es ihm passt.
„Meine Qualen und Wonnen im Jenseits“. Der Ich-Erzähler begeht Selbstmord und kommt in den Himmel. Das ermöglicht ihm, zu beobachten und zu kommentieren, was seine auch schon toten Zeitgenossen dort so anstellen und wie sie sich verhalten. Viele Seitenhiebe sind sicher tagesaktuell interessant für Meyrinks Zeit.
„Die vier Mondbrüder“ ist ein kleiner esoterischer Geheimbund von vier Parawissenschaftlern. Die leben und handeln und denken nach dem Grundsatz: Sonne = gut, weil Symbol des Lebens und der Natur und Mond = böse, weil stellvertretend für seelenlose Maschinen- und Technikwelt und Umweltvernichtung.
Ist in der Vorkriegszeit 1914 angesiedelt und zeigt deutliche Anti-Kriegs-Haltung des Autors, der sich vor allem gegen die inhumane Kriegsertüchtigung und -Begeisterung seiner Zeit artikuliert.
Erzählt wird aus Sicht eines Dieners eines der vier Herren. Aber am Ende stellt sich heraus, dass der Erzähler wohl selbst einer der Männer ist, der aber dem Wahnsinn anheimfiel. Eine kurze, aber vielschichtige Erzählung – wie so viele von dem Autor.
„Der Kardinal Napellus“. Auch über geheimen okkulten Orden, deren Mönchsbrüder eine Art Symbiose zusammen mit einer giftigen Blume leben. Die Pflanze ist Symbol für die Seele. Der Erzähler spürt den Geheimnissen des Ordens und des Lebens allgemein nach – hat in seiner Ausgabe fiel von modernen Skeptikern. Sehr vielschichtig.
„J.H. Obereits Besuch bei den Zeit-egeln“. Mittels indische Yoga- / Fakir-Lehre kann man sich vom Irdischen lösen und damit dem Tode entrinnen – oder so ähnlich. Erst wenn man sich durch Enthaltsamkeit vom Leben befreit – lebt man ewig… (?)
„Lämmergeier“ ist so eine Karikatur auf einen bürgerlichen Esoteriker in Form einer Tier-Fantasy. Der angesehene Bürger einer kleinen Stadt – der Lämmergeier – entpuppt sich am Ende als das, was er „von Natur (?) – ist – ein massenmordender Raubvogel.
„Das Grillenspiel“ ist die Rache aus dem Fernen Osten an das koloniale „Mutterland“. Jemand, der die Geheimnisse der fernöstlichen Philosophie und Spiritualität persönlich erfahren möchte und echte Kontakte sucht, begegnet einem Guru, der ihn aber instrumentalisiert und dafür sorgt, dass das Verderben in Form kriegerischer Insekten nach Europa gelangt.
Der Hammer ist aber die erste Erzählung im Band, auch die längste mit 50 Seiten: „Meister Leonard“. Die habe ich gleich dreimal gelesen. Hier geht es um die Erinnerungen eines Erben aus adliger Familie. Die Familie ist aber ziemlich verkommen, insbesondere die Mutter, die eine irrational agierende, herrschsüchtige Furie ist. Dass der Sohn zusammen mit seiner Geliebten, die sich als seine Schwester entpuppt, sie umbringt, wundert nicht. Die Mordtat belastet natürlich das Karma – ist aber Teil der „Familientradition“, in der die Frauen keine rühmliche Rolle spielen.
Der Vater, ein okkulter Kreuzritter, der aber auch über Leichen gehen kann, ist ein zahnloser Tiger mit viel esoterischem Wissen, das sich sein Sohn aneignen wird – aber wozu?
Ein Text, in dem ich mir viel angestrichen habe, um ihn mir einzuverleiben. Einfach wunderbar in seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität, dabei hat die Story auch etwas Kolportagehaftes und ist spannend.
Ergänzt wird der Band durch essayistische Texte, Vorworte zu Lieblingsautoren von M. auf dem okkulten Sektor und autobiografische Texte. Eine tolle Sammlung.
10 / 10 Punkte
Yvan Goll: „Die Eurokokke“
Was für ein Buch! Kurz und lyrisch-episch knackig. Hatte meine Mühe reinzufinden, aber – den Weg gefunden, mich drauf einzulassen – mit so viel Genuss gelesen. Allerdings muss man eine Ader für gepflegten Nihilismus haben; davon gibt’s hier echt viel und massiv und geballt.
Einen Plot könnte man – vor allem zu Beginn – durchaus vermissen. Das machte es mir auch schwierig. Aber dann gibt es einen, da wird der Ich-Erzähler nämlich vermeintlich einer schweren Straftat beschuldigt und polizeilich gesucht. Er weiß von nichts, geht aber lieber in Deckung. Am Ende… ja, ich verrate da sicher nicht zu viel, denn der Plot ist wirklich nicht so wichtig, am Ende ist alles ein Missverständnis. Das hat was Kafkaeskes, und das passt ja zu dem allgemeinen Lebensgefühl der Generation, die nach dem 1. Weltkrieg in Paris lebte. Der Autor lebte immer irgendwie zwischen den Welten, heimatlos im Grunde.
Das ist in Prosa gegossene Lyrik und ein Fest für Menschen, die sich eher zu den „Schluchten und … Dunkelheiten des Lebens“ hingezogen fühlen (S. 44)
Satte 10 / 10 Punkte und Anwärter dafür, auf noch einmal gelesen zu werden!!
G.S. Viereck & P. Eldridge: „Meine ersten 2000 Jahre. Autobiographie des Ewigen Juden“
Übersetzer: Gustav Meyrink, 1928
Wow, was für ein Klopper – 650 Seiten – 2000 Jahre Handlung / Plot, die ganze Weltgeschichte in einem Ritt. Der eine der beiden Autoren dürfte etwas umstritten sein: Viereck war Deutsch-Amerikaner mit Hang zum Deutsch-Nationalisten und prodeutschen Propagandisten. Aber auch ein bekannter Dichter seiner Zeit, befreundet und bekannt mit Tesla und Siegmund Freud.
Aber kein Antisemit! Das wird auch in dem Buch so gespiegelt. Die Aussage ist anti-christlich, ziemlich sexuell und mehr oder weniger versteckt homosexuell; „uranisch“ hieß das damals. Der Ewige Jude, der einst Jesus verlacht und vertrieben hat, ist verflucht, so lange auf Erden ruhelos zu wandeln, bis Jesus zurück kommt und Gericht hält. Ist das nun ein Fluch oder Segen? Den Mann, den das Schicksal ereilte, leidet vor allem unter Langeweile und unstillbares sexuelles Verlangen. Ganz allein ist er nicht, es gibt noch andre Unsterbliche, sein Begleiter aus Afrika und die verführerische und Feme fatale Salomé. Ansonsten begegnet er – und damit der Leser – allen möglichen historischen Persönlichkeiten. Die Geschichte wird durch seine Anwesenheit doch etwas anders interpretiert, als wir es in den Geschichtsbüchern lesen können.
Insgesamt bizarre Lektüreerfahrung, die ich ohne den Umstand, dass das Buch von Meyrink ins Deutsche übertragen wurde, nie gemacht hätte.
8 / 10 Punkte.