Miévilles Ausflug nach... Orsinien?
Subjektive Eindrücke zur Lektüre
China Miéville: „Die Stadt & die Stadt“
dt. v. Eva Baucher-Eppers
Wieder einmal ist es eine Stadt, in die der begnadete New Weird Fiction Autor einlädt. Ich bin gerne seiner Verlockung gefolgt und wurde nicht enttäuscht.
In „Perdido Street Station“ und ein wenig in „Der Eiserne Rat“, in „Un Lon Dun“, aber auch in „The Scar“ ist es eine Stadt, die der Miéville als Schauplatz wählte, in letzterem halt sozusagen eine schwimmende Stadt, aus Schiffen bestehend; aber immer ein auf den ersten Blick unüberschaubares Knäuel aus Häusern, Menschen und anderen vernunftbegabten Wesen und deren Schicksale und Geheimnisse.
Wie in „Perdido...“ gibt es in „Die Stadt...“ auch einen zentralen Ort (Kopula), der auch zum zentralen Punkt der Handlung mutiert, in beiden Orten sind diese Gebäude so was wie Bahnhöfe, gewissermaßen...
Der Autor vermengt gerne vertraute Strukturen mit außergewöhnlicher Exotik, die ganz direkt den Sense of Wonder im Phantastikleser ansprechen.
„Die Stadt & die Stadt“ ist nicht nur eine Stadt. Zwei Städte sind miteinander verbunden und dennoch harsch getrennt. Was er sich da wieder ausgedacht hat! Irgendwie schwer vorstellbar - oder doch nicht?
In grauer Vorzeit war es eine Stadt, doch offensichtlich gerieten ihre Einwohner in Zwistigkeiten. Die Trennung erfolgte nicht durch eine Mauer oder den Auszug einer Gruppe, sondern verläuft auf eine magische Art innerhalb der Stadt. Es gibt Straßen, die gehören ganz zur einen, andere zu anderen Stadt, ganz in der Nachbarschaft. Einige Grenzen verlaufen aber auch durch die Häuser und Plätze hindurch. Dann gibt es Adressen, die existieren in beiden Städten gleichzeitig.
Die Menschen der einen dürfen mit denen der anderen Stadt keinen direkten Kontakt haben. Selbst wenn sie Schulter an Schulter im dreidimensionalen Raum beieinander stehen, dürfen sie nicht... Soll das gehen? Je weiter man liest, desto mehr stellt man sich diese Frage. Irgendwann war ich regelrecht genervt von diesem unmöglichen Zustand: Wie können die Leute so leben?
Grenzübertritte - im Buch „Grenzbruch“ - werden vehement unterbunden und bekämpft. Dafür gibt es eine seltsame Institution, die offensichtlich über beiden Gemeinschaften und über alle Gesetzlichkeit steht: die Ahndung. Anhänglich wird sie als mysteriöse Entität, angst einflößend und allmächtig, vorgestellt. Das relativiert sich dann aber noch etwas...
Ist die Idee von 2 Städten in einer für uns so unglaublich? Irgendwie wird man natürlich an geteilte Städte erinnert: Berlin, Jerusalem. Das gegenseitige Ignorieren und Aneinandervorbeisehen, das „Nichtsehen“ wie Miéville es ausdrückt, ist uns aus der Zeit des Kalten Krieges nicht unbekannt: Vieles vom „Klassengegner“ war Tabu.
Die Teilung der Menschen in Klassen, gerade in Ballungszentren, funktioniert aber tatsächlich fast so, wie es der Autor hier phantastisch überhöht beschreibt: Ignorieren wir nicht auch den Bettler am Straßenrand, suchen seinem Blick auszuweichen und einen Bogen um den Hut zu machen? Oder sehen wir nicht auch mal bei Gewalt auf der Straße weg? Vielleicht ist es das, was dem Autor als
Vorbild für sein Konstrukt diente.
Der gesellschaftliche Dualismus ist auch ideologisch determiniert. Auf der einen Seite haben wir einen wirtschaftlich liberalen, abgewirtschafteten Kapitalismus, auf der anderen Seite einen reformierten zentralwirtschaftlichen, einheitsideologischen Post-Sozialismus, vielleicht a lá China, das Produkt einer „Silbernen Erneuerung“ durch eine Nationale Volkspartei, die keine politischen Kontrahenten neben sich duldet, schon gar keine legalen sozialistischen, auch keine faschistischen Parteien. Brüder im Geiste sind Atatürk und Tito, der Platz an der Wand, wo einst das Konterfei Maos hing, ist verwaist...
Die fiktive Doppelstadt mag irgendwo auf dem Balkan stehen. Sie heißen Besźel und Ul Qoma. Der Legende nach gibt es eine dritte Stadt. Um deren Existenz geht es auch in diesem Roman. Sie nannte Miéville Orciny.
Hmm, klingt das nicht vertraut? Zumal andere Begriffe dieser Welt so klingen wie vertraute Wörter, sie sind nur anders geschrieben. Leider kenne ich nicht das englische Original und weiß nicht, wie dieser Name dort klingt...
Orciny soll die Ur-Stadt gewesen sein, vielleicht; die Stadt, aus der die anderen entstanden. Hat Miéville eventuell eine literarische Quelle angezapft? Genannt hat er die Autorin Ursula LeGuin in seiner Danksagung allerdings nicht. Vielleicht bilde ich es mir ja nur ein, ich finde aber, Orciny klingt mächtig nach Orsinien...
Der Plot ist ein Krimi. Es gibt einen Mord und einen, bzw. zwei ermittelnde Kommissare. Täter und Hintermänner werden erkannt. Die Auflösung des Falls erfolgt in klassischer Manier, in einer letzten Konfrontation zwischen dem Täter und dem Kommissar. Das Gespräch ist fast schon etwas langatmig.
Miéville macht gemeinhin aus seinem Herzen keine Mördergrube, es schlägt links. Diesmal erschien er mir aber irgendwie konservativ. Der absurde gesellschaftliche Zustand, in dem die beiden Städte / Staaten und deren Menschen leben, wird am Ende bewahrt. Der Aufstand der Unifikatinisten, der Vereinigungswilligen, wird niedergeschlagen. Dem Leser erscheint dies richtig; der Held ist fest in das System integriert, die mit dem System Unzufriedenen werden als etwas weltfremde Utopisten, Verschwörungstheoretiker und Späthippies dargestellt.
Das Buch war wieder ein Hit, keine Frage! Ich bin schwer begeistert. Auch wenn die Problematik überzogen klingt, waren mir die Personen und ihre Sicht auf ihre komische Welt nahe. Der Alternativwelt-Rahmen, der immer wieder durchschimmerte, stellte eine weitere Bereicherung dar: In Zeit und Raum ist es unsere „Nach-Wende-Welt“, nur halt eine ganz andere Ecke von ihr. Der Autor ist ein Könner des Erzählens; und die Übersetzerin, selbst auch Autorin, die nun meines Wissens nach lange nicht mehr selbst geschrieben hat (einst: Terranauten), hat wieder großartig gearbeitet. Die mitunter feinen Sprachspiele kamen gut rüber (wobei mir allerdings das Original nicht bekannt ist).