Kriminelles Utopia meets Psychophantastik
Dieser Beitrag gehört zu meiner "Leseliste 2012", da mir beide Bücher so gut gefallen haben, kann ich ja mal drauf aufmerksam machen...
Greg F. Gifune: „Die Einsamkeit des Todbringers“
Ich mag ihn! Immer mehr, echt.
Eigentlich dachte ich, das wird so ein Psycho-Thriller. Doch es beginnt mythisch, phantastisch. Ja, und dann wird es sicher ziemlich psycho-pathologisch und am Ende stehe ich etwas ratlos da. So richtig aufgelöst wird da nichts. Ist aber ok; Buch ist trotzdem (oder gerade deswegen) sehr gut.
Was mich sofort auch für das Buch eingenommen hat, ist der Protagonist, in dem ich mich gut hinein versetzen kann: Der in die Jahre gekommene, gar nicht erfolgreiche, vom Leben und der Liebe enttäuschte Mann. Die Lebens-Sinnfrage steht im Raum. Und dann kommt da so was wie eine Chance, die etwas verändern könnte, grade was seine Beziehung zum weiblichen Geschlecht ausmacht.
Was allerdings immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist die Horror-Kindheit des Protagonisten und seines Bruders, der inzwischen zur Schwester wurde. Aus dieser psychisch belastenden Mühle kommt er nicht raus. - Übrigens, ähnlich wie in dem Buch, das ich davor von ihm las, „Blutiges Frühjahr“, werden wieder Tote zur materiellen Gewalt (wenn auch nicht so wie im „Frühjahr“).
Sehr gut erzählt, spannend, nicht ausufernd. Richtig gut.
10 / 10 Punkte
Nicolai Lilin: „Sibirische Erziehung“
„Freier Fall“ hatte ich zuvor von ihm gelesen, was mich sehr beeindruckte. Daher musste ich dieses Vorgängerbuch nachschieben, zumal dieses den „Ruhm“des Autos begründete. Es erschien zuerst in Italien, wo Lilin heute lebt, in Italienisch. Es ist dort mit einem Vorwort versehen, das ein in Italien populärer Autor, der auch über die Mafia schrieb, verfasste, R. Savianos. Das erregte wohl die Aufmerksamkeit der Italiener.
Hier schreibt der Autor autobiografisch über seine Kindheit und Jugend in dieser Schatten- / Neben-Gesellschaft der sibirischen Urki in Transnistiren. Das ist so ein Landstrich, den es fast gar nicht richtig gibt. Natürlich gibt es ihn, aber was weiß man darüber? Heute ist das eine Art Staat, der fast von niemanden anerkannt ist, worum aber schon mal Krieg geführt wurde.
Die Story Lilins begann in der sowjetischen Zeit, was mich - wie so oft in solchen Fällen - sehr erschütterte.
Die Sibirer, als sie noch in Sibirien lebten, aber auch später in Transnistiren, sperrten sich gegen Staat und staatliche Gesetze und Organe. Sie waren antikommunistisch, aber nicht, weil sie sonderlich politisch waren, sondern weil sie gegen jedes Regime waren, das ihnen aus Moskau (oder Petersburg) übergestülpt wurde. Ihre Alternative ist eine Art Gegengesellschaft, die auf organisiertem Verbrechen fußt.
Wie man in dem Buch so nebenbei erfährt, ist das organisierte Verbrechen (auch anderer ethnischer Gruppen) durchaus ein großes Problem auch in der UdSSR gewesen, Odessa z.B. soll so eine Hochburg gewesen sein. - Nebenbei: Jetzt kann ich fast verstehen, dass es selbst den Bürgern der UdSSR nicht immer so einfach gemacht wurde, in „ihrem“ Land herum zu reisen, da brauchte man ja mitunter ein Visum.
Die Urki, dieses sibirische Volk, lebte von kriminellen Machenschaften: Bank- und Zugüberfälle, Handel mit verbotenen Dingen etc. Sie schufen sich eigene, strenge Regeln, die irgendwie so zwischen urtümlichen, eigentlich basisdemokratischen Regeln und sogar vernünftig klingenden Hierarchien changieren. Der Glaube spielt eine große Rolle, der eine Mischung aus orthodoxem Christentum und archaischen Naturreligionen ist. Natürlich: Ehre und Treue, ohne geht es gar nicht. Es gibt recht komplexe Verhaltensregeln. Doch wenn man in dieser Gesellschaft aufgenommen wurde, kann man darin sehr gut auskommen und kann sich gegen die „richtige“ Gesellschaft behaupten. Das geht so weit, dass die männlichen Vollmitglieder der Urki nicht mit Vertretern der Staatsgewalt (Polizisten werden immer nur als „Köter“ bezeichnet) reden dürfen. Auch wenn ein Urki von einem Polizisten angesprochen wird, antwortet er ihm nie direkt, nur über Mittelspersonen und in der dritten Person. Irgendwie absurd...
Was man dann aber auch über die Lebensbedingungen, oder den Knast, über regelrechte Straßenschlachten lesen kann, lässt einem behüteten Mitteleuropäer wie mir den Atem stocken. Unglaublich, das so was in der UdSSR schon möglich war.
Nun muss es noch einen dritten Band geben: Wie konnte sich Lilin aus dieser Welt befreien; in „Freier Fall“ wird seine persönliche Situation als Soldat bei der Spezialabteilung der „Saboteure“ in Tschetschenien nicht besser. Bin gespannt, wie es ihn nach Italien verschlug!
10 / 10 Punkte