Sorokin, mit Hammer & Nagel, in Leipzig
Sorokin; Hammer und Nagel; Telluria; Haus des Buches Leipzig;
Foto von mir: Ãœbersetzerkollektiv "Hammer und Nagel" mit Sorokin
Sorokin
und seine Übersetzer-Garde in Leipzig, 2. März 2016, Haus des Buches.
Eine Lesung von V. Sorokin war schon recht lange so eine Art geheimer Herzenswunsch von mir. Wobei ich mich immer fragte, wie so eine Lesung aussehen sollte; mein Russisch kann man gut und gerne vergessen. Wenn dann immer passagenweise gelesen und dann übersetzt wird, stellt sich sicher schnell ein Ermüdungseffekt ein, oder?
Nun, mein Herzenswunsch wurde erfüllt - und zudem auf eine Art und Weise, die meiner Befürchtung zur Art und Weise des Vortrags voll und ganz den Wind aus den Segeln nahm.
Ja, Sorokin. Irgendwie - fast unmerklich - ist er einer meiner absoluten Lieblingsschriftsteller geworden. Es gibt kaum einen anderen, von dem ich inzwischen so viele Bücher gelesen habe. „Unmerklich“ auch deshalb, weil ein „Sorokin“ zwar immer ein „Sorokin“ ist, aber dennoch auf sehr unterschiedlich Weise in Erscheinung tritt.
Also, es gibt da den rotzig frechen, dadaistischen S., der auch mal lange Passagen in absolutem Buchstabenmüll versinken lässt. Das ist dann mitunter deutlich jenseits der Grenze des Erträglichen. Dann gibt es den S., der auf deftig satirische Weise Russland und den Rest der Welt aufs Korn nimmt; aber vor allem Russland, das er wohl auf dem Weg in ein neues Mittelalter sieht, wobei durchaus technische und wissenschaftliche Errungenschaften genutzt werden können, gern z.B. die der Genforschung. Seine Zukunftsentwürfe sind bizarr, sowohl was den Background anbelangt, aber auch die gesellschaftlichen Beziehungen, die da geschildert werden. Satire trifft SF, auf äußerst deftige Art und Weise, teilweise unter Gebrauch von Fäkalsprache. Ja, das ist sicher nicht jedermanns (-frau) Sache, keine Frage...
Fast eine Sonderstellung nimmt der alternativ-historsiche Romanzyklus um die 23000 ein. Hier ist der Stil regelrecht konventionell. Das ist allerdings auch nicht neu oder ungewöhnlich für ihn; fast mein Lieblingsbuch von ihm ist ein gutes Beispiel, dass er (zumindest über weite Strecken des Buches, am Ende driftet er dann doch ziemlich ab...) sehr wohl und sehr gut konkret, unaufgeregt, einfach auch mal schön schreiben kann: „Marinas dreißigste Liebe“.
Auf alle Fälle: mir gefällt's. Er lässt mich oft genug mit offenem Mund staunend zurück.
Sein neueste Werk, „Telluria“, ist sozusagen ein Mosaik möglicher Gesellschaftsentwürfe für Russland und Europa im 21. Jahrhundert. Ein paar davon schrammen ganz nah an der Wirklichkeit, andere scheinen so weit weg, aber wenn man mal eine Reportage aus Russland sieht, glaubt man, er beschreibt eigentlich doch nur die Wirklichkeit. Ich denke da an diesen reichen Russen (Oligarchen, so werden die reichen Russen ja gern genannt; warum eigentlich nur in Russland?), der eine Pferde-Straße durch Russland bauen will. Tja, ich dachte, als Sorokin über ganz kleine (Der Schneesturm) und ganz große Pferde schrieb, dass das so was von albern wäre...
In „Telluria“ macht S. noch etwas, was er zuvor auch schon getan hat: Er kolportiert bekannte russische Schriftsteller, also ihren Stil und nutzt dies als Mittel der Satire. In „Telluria“ widmet er sich auf diese Weise wohl auch Zeitgenossen, also geht nicht nur in den russischen Realismus des 19. Jh. z.B. zurück; Pelewin ist z.B. eines seiner „Opfer“.
Die mitunter sehr kurzen und sehr unterschiedlichen Kapitel wurden daher konsequenter Weise von verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzern übertragen, die nun auch auf der Lesereise Sorokins durch Deutschland das Buch nicht nur einfach vorlesen, sondern regelrecht performen - na, ich hasse dieses Wort eigentlich, aber hier passt es durchaus. Die Lesung ist eine Inszenierung, in der drei Übersetzerinnen und und der eine Übersetzer, Andreas Tretner - sicher DER Übersetzer für Pelewin und Sorokin schlechthin - schauspielerisches Talent beweisen. Tretner leitete offensichtlich auch die Inszenierung, machte zumindest die „Regieanweisungen“ und agierte manchmal fast wie ein Dirigent.
Die drei Übersetzerinnen, die diese Lesung ebenso mitgestalteten, waren übrigens Christiane Körner, Gabriele Leupold, Olga Radetzkaja; zusammen mit Tretner bilden sie das Übersetzerkollektiv „Hammer und Nagel“ - was das mit dem Nagel (statt Sichel) auf sich hat, weiß man natürlich, wenn man Telluria kennt; wenn nicht, muss man jetzt also Telluria lesen.
Die Lesung wurde flankiert von Interview-Einlagen, in denen die vier Übersetzer Sorokin Fragen stellten - und zwar zur Welt des Buches; in der Form eines fiktiven Interviews, also so, als wäre das alles real. Dabei konnte der Autor sein Buch vorstellen, aber auch Stellung zu aktuellen Problemen beziehen, immer gebrochen durch diese Telluria-Sicht.
Na ja, vielleicht wären „echte“ Fragen zu „echten“ Problemen besser gewesen, mitunter wirkte das Alles etwas gestelzt und unbeholfen. Doch muss man bedenken, dass ein Übersetzer eben kein Schauspieler ist; und dafür war die Vorstellung sehr gelungen.
Erstaunlich, wie Sorokin das alles bewältigte. Er kam gaaaaanz anders rüber, als ich es mir vorgestellt hatte. Wenn man bedenkt, wie er mitunter formuliert, wie frech, kompromisslos, die Grenzen des „guten Geschmacks“ überschreitend, so völlig anders sprach er nun live: Er wirkte sehr zurückhaltend, fast introvertiert, wählte sehr genau seine Worte, die auch ausgewogen waren, nur selten kam so etwas wir eine ironisch-satirische Spitze zum Vorschein. Mitunter schien er regelrecht um Worte zu ringen. Wenn er mit seinen Texten die Leser schon mal ordentlich vorn Kopf stößt, so sympathisch und rücksichtsvoll erschien er nun. Das fand sich sehr bemerkenswert.
Foto von mir: Sorokin signiert Telluria