SF? Ein bisschen - Leseliste, Fortsetzung
2016 Kunert Kracht
27) Günter Kunert: „Vertrackte Affären“
Wie komme ich denn zu diesem Buch? Bin kein Kunert-Leser oder gar -Kenner. Aber ganz spontan und grundlos kam es auch nicht zum Buchkauf.
Der Grund war der Wells-Geburtstagsstammtisch des ASFC am 8. September. Ich suchte nach einem vorlesbaren Text; es sollte keine Story von Wells sein, kein Primärtext, sondern etwas Anderes - über Wells, oder eben etwas, was Wells aufgreift. Meine Recherche ließ mich auf dieses Buch stoßen.
Hat es sich gelohnt? Nun, gemessen an der unmittelbaren Absicht: Nein, denn: Ein anderes Clubmitglied kam auf den gleichen glorreichen Gedanken. Das ist schon kurios, wenn man bedenkt, dass Kunert sicher nicht der erste Autor ist, wenn man an SF oder H.G. Wells denkt, oder? Ich ließ meinem Kollegen den Vortritt und las das Buch dennoch mit großer Freude.
Der Band umfasst Geschichten aus dem gesamten Schaffenszeitraum des Autors. Die Stories sind alle schon irgendwie besonders und haben oftmals Anklänge an phantastische, unheimliche, makabre Perlen der Weltliteratur; u.a. eben auch eine Zeitmaschen-Story, nach Wells. Die ist übrigens mal so gerade 2 Seiten lang†¦
Die meisten Stories sind sehr kurz und eignen sich für kleine Lektüreausflüge; sie sind oft humorig, noch öfter hintersinnig. Man begegnet z.B. auch Odysseus, wie er - in die Jetztzeit versetzt, - als alter Mann den Abenteuern von damals nachsinnt†¦ (kann man das so sagen? Aber man kennt das ja, wenn man in solch einem Alter ist, wo einem bewusst wird, dass es so wie früher nie wieder werden kann, aber auch erkennen muss, dass der Blick auf das, was von früher geblieben ist, eben nicht mehr derselbe ist†¦)
Noch mal unterm Strich: Der Band ist amüsant, aber hat mich nicht zum überzeugten Kunert-Fan werden lassen.
7 / 10 Punkte
28) Horst Hoffmann: „Entscheidung auf Hades“
Das waren noch Zeiten! In gerade mal gut 60 Seiten wird die gesamte Menschheit vernichtet - und auf ein höheres Niveau der kosmischen Existenz gehoben. Heftroman! Na ja, den und einen weiteren habe ich mal vor Jahren auf dem Flohmarkt erworben, dann lag er noch mal gut ab (ist Terra Astra 280). Und? Ja, war irgendwie toll!
Also, da gibt es eine Raumschiffbesatzung, die sich in höchster Not teilweise retten kann. Sie waren dabei Hades zu erforschen. Es kommt zur Katastrophe, und man findet sich auf einer paradiesischen Welt wieder. Diese Welt ist, wie sich herausstellt, die gleiche, die man eigentlich verlassen will, nur halt verändert. Da stimmt was nicht.
Die Erde ist gleichzeitig gerade dabei unterzugehen, die Sonne bläht sich auf und droht die Erde sogleich zu verbrennen. Chaos Herrschaft auf der Erde.
Das ist doch mal ein Setting! Die Rettung für die Menschheit, aber nicht für alle Menschen, bringen Super-Aliens, die halt als kollektive, entmaterialisierte Superzivilisation so was kann: andere Vernunftbegabte in ihren Kreis aufnehmen, sozusagen.
Eine runde Sache, für 60 Seiten eigentlich überambitioniert, trotzdem sind die Figuren gut rausgearbeitet; irgendwie stimmt da alles.
8 / 10 Punkte
29) Christian Kracht: „Die Toten“
„Imperium“ (noch immer gar nicht von mir gelesen, d.h., gerade jetzt, in diesem Augenblick, bin ich - endlich - dran) machte Furore. Seitdem wird Kracht, wie es mir scheint, argwöhnisch von der Kultur-Presse beobachtet: Ha, ein neues Buch von Kracht? Was kann man da wieder drin finden - an Bösem, an Kritikwürdigem? Unlängst - mittelbar - auch so geschehen und hier im SF-Netzwerk ja auch diskutiert (etwa ab hier); da ging es aber eher um Formalitäten des Literatur/Kultur-Geschäfts. Leider musste Krachst neuer Roman herhalten.
Über mangelnde Aufmerksamkeit braucht sich Kracht nun auf keinen Fall mehr zu beklagen. Kaum eine Zeitung, wo nix über sein neues Buch steht, ob nun mit oder ohne Denis Scheck.
Über den Inhalt will ich hier in meiner Leseliste gar nicht viel verlieren, wäre bei der Unmenge der Rezis, die man im Netz findet so eine Eulentragerei.
Habe übrigens gerade festgestellt, dass meine Lieblingsautoren in deutscher Sprache und aus dem eher nicht-phantastischen Sektor (mit Über- und Einschneidungen ins geliebte Genre) alle mit „K“ anfangen: Krausser, Kehlmann, Kracht, manchmal auch Kunkel (aber da bin ich mir nicht mehr so sicher). Komisch, wa?
Ähnlich wie Kehlmann, der ja auch nur selten mal was schreibt, und sich dann meist kurz fasst, macht es Kracht. Der Roman ist mal gerade gut 200 Seiten dick.
Der Roman erscheint mir nach der Lektüre weit weniger rätselhaft, als es mir nach den vorherigen Ankündigungen etc. erschien. Im Grunde handelt es sich um einen normalen Personen-Entwicklungs-Roman, der in den 30er Jahren des 20. Jh. spielt. Im Filmgeschäft. In Deutschland, Japan und den USA. Ich habe gleich ein paar Referenzen im Kopf: Zum einen Ned Beaumans „Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort“ (Hier darf man gern noch mal nachlesen, was ich damals zu meinte), den ich nicht so wirklich gut fand und Jürgen Alberts „Hitler in Hollywood“ (der fairer Weise eher „Brecht in Hollywood“ heißen müsste), den ich damals saustark fand - müsste ich doch glatt mal wieder lesen.
Krachts Hommage an diese Zeit / Epoche / Kulturwelt würde ich nach meinem Empfinden zwischen den beiden Werken ansiedeln. Was Kracht Alberts voraus hat, ist seine Schreibkunst, die enorm verdichtet und auf den Punkt gebracht ist. Alberts Thema ist aber auch umfänglicher.
Die Reminiszenzen an japanische Literatur in „Die Toten“ kann ich nicht nachvollziehen, dazu fehlen mir die Hintergrundkenntnisse. Einige der Protagonisten sind mir auch nicht wirklich geläufig. Kracht präsentiert einen ganzen Haufen mehr oder weniger bekannter, real einst existierender Menschen. Nicht alle kannte ich davon zuvor. Aber es gibt ja das Feuilleton, da kann man was lernen. Z.B. Kracauer. In dem Artikel in der Züricher Neuen Zeitung wird er hervorgehoben. (danke dafür!)
Wie ich schon vorher wusste, bekommt Charlie Chaplin sein Fett weg. Das stimmt auch: ganz ordentlich. Kein Sympathieträger im Buch. Ebenso Heinz Rühmann nicht, der ist aber noch mehr Nebenfigur als Chaplin.
Unsere Helden sind Personen, die es nicht wirklich gab. Beide machen ihre Entwicklung durch. Kracht - Meister der Verdichtung - entwirft komplette Biografien in diesem Kurz-Roman. Alle Achtung! Und er spielt mit der Erwartung seiner Leser/innen; denn beide Biografien nehmen einen anderen Verlauf, als man vielleicht geneigt ist zu denken.
Es gibt noch eine dritte Hauptfigur, die zwar erst recht spät eingeführt wird, deren Schicksal aber auch einem drastischen Ende zugeführt wird; eine Frau, die zwischen den beiden Männern, dem Schweizer Regisseur und dem superbegabten Japanischen Filmmenschen, steht.
Apropos „drastisch“: Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Da wird sozusagen ein Snuffvideo hergestellt, obwohl es ja noch gar kein Video gab. Puh. Heftig. Und zimperlich geht der Autor mit seinen „Helden“ dann auch nicht um. - Die - schon erwähnte - verdichtete Schreibform lässt dies alles aber mit einer gewissen Distanz erfahren. Aber okay, muss ja nicht jeder Roman wie von King geschrieben erscheinen.
Ich bin ziemlich angetan vom Ganzen.
10 / 10 Punkte