Der reaktionäre J. Swift - nachgereichte Erklärung und Aufruf
Jonathan Swift George Orwell
Gestern war ich dann mal sprachlos*. Und das kam so:
Gestern, also am 2. Februar 2017, war Lothar Powitz aus Berlin beim Leipziger Freundeskreis SF Leipzig zu Besuch. Er erzählte uns, anhand einiger Filmzitate, von SF-Filmen, in denen der Mars eine gesonderte Rolle spielt. Das hat er prima absolviert (davon wird noch gesondert die Rede sein müssen in diesem Blog).
Freudiger Weise war Erik Simon als interessierter Zuhörer anwesend. Und in der Wartezeit vor dem Vortrag unterhielten wir uns ein bisschen. Da kam auch die Sprache auf den NEUEN STERN - recht ausführlich - und den Umstand, dass wir im Andromeda SF Club auch in diesem Jahr eine Jahresveranstaltung anlässlich eines anstehenden SF-lastigen Jubiläums durchführen; so im kleinen, clubinternen Rahmen - mit Texten des oder üben den Jubilaren, und mit einem Schwerpunktthema im NEUEN STERN.
Bernd Wiese hatte da im letzten STERN ein paar Vorschläge unterbreitet. U.a. wird Jonathan Swift am 30. November 350 Jahre. Nun, also, wenn ihr mich fragt: Hätte was! Ein schöner runder Geburtstag, ein wichtiger Mensch und Autor und Satiriker und zumindest (auch) eine große Inspirationsquelle für die SF und Phantastik allgemein. - Wen hat er nicht beeinflusst? - muss man ja fast fragen†¦
Spontan fiel mir dabei ein, dass ich vor gar nicht langer Zeit einen Essay von George Orwell über Swift las. In dem Band „Rache ist sauer“.
Spontan plauzte ich raus: „Orwell hat Swift als Reaktionär bezichtigt!“ - oha? Echt? Die Reaktionen waren fragende Skepsis, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Und ich? Ähm, tja, mir fiel dann so erst mal gar nicht mehr ein, wie Orwell das meinte. Kennt Ihr so eine Situation? Ach, echt peinlich.
Das Ganze ließ mir keine Ruhe und ich habe es einfach noch einmal gelesen. Also, wer es nachvollziehen will; in Deutsch im Diogenesband...
„Rache ist sauer“
Titel des Aufsatzes: „Politik contra Literatur: Eine Untersuchung von Gullivers Reisen“ (S. 109 - 135, erschienen ist es 1946)
(siehe weiter unten: Link zum Buch)
Und da stehen tatsächlich die Sätze: „Die reaktionäre Seite von Swifts Denken tritt jedoch nicht hauptsächlich in seiner politischen Stellung in Erscheinung. Wichtiger ist seine Einstellung zur Wissenschaft und im weiteren Sinne zur intellektuellen Neugier.“ (S. 114)
Orwell erklärt noch, wie er das meint, wie er zu so einer - für meine Begriffe ziemlich harten - Auffassung gelangen konnte.
Swift, so Orwell, zeigte vor allem in der 4. Reise des Gullivers (zu den Houyhnhnms und Yahoos), mit den Mitteln der Satire, dass er „†¦die gesamte Wissenschaft und philosophische Spekulation für wertlos†¦“ (S. 115) hält.
Die vernunftbegabten Pferde bei Swift haben eine Gesellschaft, die in sich ruht - so könnte man dies positiv formuliert ausdrücken. Aber im Grunde, und das erschien Orwell in Swifts satirischer Utopie wohl so ätzend, stagnieren sie einfach - und dies absichtlich und selbstbewusst. Swift stellt die Houyhnhnms als wünschenswertes Ideal seinen Landsleuten und Lesern vor.
Und nun kommt ein Gedanke, der mich sehr stark an heute erinnert. Vielleicht ist es ja beruhigend, dass diese Denkart, die ich nun meine, eben nicht neu ist. - Was ich meine? Kennt Ihr diese Leute, die gern mal Erkenntnisse der Wissenschaft, Forschung, auch gern statistische Daten negieren, indem sie ihren „normalen Menschenverstand“ einsetzen? Ich denke mal, das ist am Ende auch das, was mit „postfaktisch“ aktuell beschrieben wird.
Ja, sicher, oftmals ist es so, dass man durch die eigene Lebenserfahrung Dinge, Antworten auf Fragen etc. skeptisch betrachtet. Aber Leute mit so großem Selbstvertrauen auf ihren Menschenverstand“ - auf ihr Ego im Allgemeinen - ihre antrainierte Skepsis in blanken Intellektuellen-Hass verkehren, sind mir auch suspekt. So einer scheint - nach Orwell - Swift gewesen zu sein.
Der Mann war demnach stockkonservativ, alles, was über den Status Quo hinausweise, machte er lächerlich; er strebte, nach Orwell, an:„†¦sein unausgesprochenes Ziel ist eine Zivilisation ohne Neu-Gier†¦“ (S. 117). Am Ende verteidigt Swift eine ungerechte Gesellschaftsordnung, weil sie sich seiner Meinung nach nicht verbessern lässt (siehe S. 119). Das kennt man auch aus heutiger Zeit; so wäre vielleicht Swift auch nur ein geistreicher Streiter gegen das pöööse Gutmenschentum, weil er ja sowieso weiß, dass „die“ nur Unsinn erzählen†¦ Dieser Gedanke kam mir tatsächlich erst beim nochmaligen Lesen; insofern muss ich dem missratenen abendlichen Gespräch wohl dankbar sein.
Tja, also, das hätte ich so gern an dem Abend erzählt. Ich reiche es hier einfach mal nach (schicke Erik einen Link; hallo Erik!)
Vor diesem Hintergrund sieht man so eine Illustration zu Gullivers Reisen aus dem Jahre 1894 mit ganz andren Augen, finde ich.
"Gulliver's Travels ... New edition", "Gulliver's Travels", aus dem Fundus der British Library, puplic domain.
Aber ich habe auch einen „richtigen“ Grund für meinen Blogeintrag, den ich gleich mit einem Aufruf verbinden möchte:
Hat jemand Lust, etwas für den NEUEN STERN zum Thema J. Swift - eine Hommage an Swift - eine Story im Sinne Swifts - neue Abenteuer des Gulliver etc. pp. zu verfassen? Ideen sind gefragt, Beiträge her! Bitte!!!
Wie auch immer unser Club entscheidet, also welchen Geburtstag wir bei einem SF-Stammtisch in Halle feiern werden, ich würde gern so ein Heft zusammenstellen.
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*) Nun, das ist jetzt nicht so ungewöhnlich; so viel habe ich nicht zu erzählen, von daher ist man das ja sogar gewohnt von mir†¦
Ein Wikipedia-Eintrag zum Essay:
https://en.wikipedia...liver's_Travels
Den Essay-Band von Orwell kann ich auch wegen der anderen Texte nur wärmstens empfehlen; er greift da noch andere Autoritäten an...
350 Jahre... danke für diesen "Reminder"! Orwells Swift-Kritik kannte ich auch noch nicht.