Fanzine-Austausch I - IF -
Tobias Reckermann Brian Deatt Whitetrain Ulf Ragnar Berlin
Natürlich könnte ich ein Fanzine, wenn ich interessiert bin, einfach bestellen, kaufen. Aber wozu soll ich das tun, wenn ich doch auch eines herausbringe, das ich gern zum Tausch anbieten kann? Peter Mordio, Whitetrain ist auf mein Angebot eingegangen, und so kam ich nun in den Genuss - was ich eigentlich ja schon sehr lange tun wollte - mir „sein“ Magazin „IF - Magazin für angewandte Fantastik“ zu Gemüte zu führen. Und? Habe es nicht bereut.
Als erstes hat es mich völlig erstaunt, denn in 2 Artikeln geht es um ein Thema, das mich zurzeit auch umtreibt: Transhumanismus.
Im Kontext von IF ist dieses Thema im Grunde die natürliche Fortsetzung des Kredos der Macher, Phantastik als „theoretische Darstellung und Ausformung nichtrealer Sachverhalte (als) eine Art angewandter Fantastik“ dazustellen. (S. 51; in Fau Topie) Natürlich: Was es nicht gibt, gehört formal erst einmal ins Reich der Phantastik. Das kann man ja so sagen. Für die Macher scheint aber jede Form der Vorstellung des Noch-Nicht-Da-Seins, dessen, was erdacht werden kann, zur „angewandten Fantastik“ zu gehören. So ist es auch zu erklären, dass der erste Sachartikel sich in dem Heft mit einer Gruppe befasst, die eine anarchosyndikalistische Weltsicht und Herangehensweise zur Lösung echter gesellschaftlicher Probleme anstrebt. Ich hatte zuvor noch nie etwas von der FAU - Freie ArbeiterInnen Union - gehört oder gelesen. Wenn ich die Worte in dem Artikel, der ihre Ideen wiederspielt, richtig verstehe, sind sie an einer evolutionären basisdemokratischen Umgestaltung vor allem der Produktionsverhältnisse interessiert. Widersprüchlich fand ich den grundsätzlich anarchistischen Grundgedanken und ihre Forderung nach einer Plan-Wirtschaft. Wobei: Unverständlich für mich ja auch nur deshalb, weil der Artikel das Thema nur anreißt. Ist wirklich nur ein Auftakt. Da wäre sicher viel mehr zu zu sagen.
Da würden mich tatsächlich mal andere Reaktionen darauf interessieren. Für mich zumindest stellt diese Herangehensweise und Aneinanderreihung von Themen kein Problem dar, Im Gegenteil! Ich mag das! Nur mehr davon!!
Ein Autor des Heftes ist Tobias Reckermann. Warum, in Dreiteufelsnamen, habe ich diesen Namen bisher kaum wahrgenommen. Tatsächlich ist er mir schon begegnet. Aber im Zuge der Selfpublisher-Überflutung der SF&F-Szene trug das Auftauchen seines Namens bei mir nur zur totalen Übersättigung bei, die ich in diesem Rahmen seit geraumer Zeit verspüre. So nebenbei erweist sich, wofür Fanzines gut sind: So kann Fan nämlich einen Autor / eine Autorin kennen lernen, sich orientieren - aber sich bin ich einfach old school und nicht am modernen selfpublishing Markt adaptiert.
Tobias steuert eine Story bei, die leider gar keine richtige Story ist, sondern ein Auszug aus einem Roman. Aber auch dieser Teil hat es in sich! Ich weiß gar nicht genau, was ich da gelesen habe? Seine Phantastik ist absolut irre - irre, im guten Sinne. Zunächst hatte er durch seine ausgefallenen Formulierungen meine Aufmerksamkeit, dann versuchte ich zu realisieren, in was für eine Traum-Welt er mich da einführt. Engel, streikende Maschinen, Bürgerkrieg, ein engagierter Zeitungsmacher. Ich muss das erst mal wirken lassen - um mich dann an den Gedanken zu gewöhnen, mir seinen Roman „Das schlafende Gleis“ (der Titel sagt doch schon sehr viel über die verrückte Phantastik des Autors, oder?) zulegen zu müssen.
Tobias schreibt auch über den sense of wonder, den er in der modernen SF nicht mehr so recht findet. Also, das erklärt natürlich auch, warum er mit seinen eigenen Werken so davonprescht. Seine Leser werden sich mit Sicherheit nicht über mangelnde Phantasie beklagen müssen.
Aber was ist der sense of wonder, wo fand er ihn, wo sucht er ihn heute vergebens. Und nun kommt†™s - am Ende ist es eine Entwicklung, die SF-Autoren prophezeien, aber eben nicht mehr nur SF-Autoren oder andere Phantasten, sondern auch „ernst zu nehmende Leute“ (wobei ich SF-Apologeten sehr ernst nehme, muss ich das hier wirklich noch betonen), die zu technologischen Singularität führt. Er nennt Venor Vinge z.B. Diese Singularität führt auch zum Ende des Phantastischen. Wo wird danach noch etwas Neues zu erwarten sein, nur noch im menschlichen Bewusstsein? Der Artikel regt zum Nachdenken an, birgt aber viele Gefahren in sich, sich zu verzetteln. Ich bräuchte jetzt viel Raum und Zeit, um alles auseinander zu klamüsern. Nö, mach ich nicht: Selber lesen, leibe Leute! Eine Diskussion wäre wünschenswert - ha, ob ich Tobias mal zur APA FAN einlade? (Zumal meine Wenigkeit genau auch dieses Thema angerissen hat†¦)
E gibt noch mehr in dem Heft. So z.B. eine Traum-Geschichte von Ulf R. Berlin. Die kommt ziemlich konventionell daher, orientiert sich an bekannte Traum-Bilder, in denen die Protagonistin sich verstrickt sieht, die eigentlich nur eine Fahrt in einer Regional-Bahn machen wollte. Ob sie aber aus dieser Traum-Bahnfahrt noch aussteigen kann?
Eine ähnliche Frage stellt Brian Deatt. Oha, dachte ich, ist ja interessant, denn diesen Autor habe ich schon woanders wahrgenommen. Allerdings eher auf einer ganz anderen medialen Ebene: Er erstellt Fotogeschichten, die sich - man verzeihe mir meine Unwissenheit in diesen Dingen - als eine Form der Industial Art erscheinen: Also Menschen in Werksumgebungen, technisiert, cyborgisiert†¦ Ist das korrekt so?
Seine Geschichte ist wieder keine richtige Geschichte, sondern nur ein Auszug aus einem längeren Werk. Nun, das ist ja gut gemeint, aber auch ein bisschen ärgerlich, wenn man doch jetzt wissen möchte, wie es weitergeht.
Die Story selbst kam mir wie eine Fortführung des Gedankens von Clockwork Orange - mit anderen Mitteln - vor. Konventioneller erzählt, als ich mir gedacht hätte, wenn ich mir seine Foto-Sachen so anschaue.
Ach, und dann gibt es tatsächlich noch eine mehrseitige Fotostory von Brain Deatt - genau in dem Ambiente, wie oben angedeutet. Fein!
Was noch? Zeichnungen, eine Seite Comic, Ein zweiteiliger Text, 1. Teil ein Gedicht, 2. Teil Prosa über das, was einen König bei Bettlern ausmacht. Ganz wenig Rezensionen, aber zu englischen Texten. Interessant, ja, aber hier hätte ich mir gern mehr gewünscht.
Dann gibt es noch ein Interview mit einem Wissenschaftlicher, der sich tatsächlich mit dem Thema Transhumanismus auseinandersetzt. Wow! Sehr gut!
Auch wenn das Heft vieles nur anreißt, wo ich mir oftmals mehr Vertiefung gewünscht habe (aber was darf ich schon wünschen, kann ich mit dem NEUEN STERN mehr ausrichten? Eher kaum), ist es eine großartige Ergänzung zum phantastischen Mainstream. Irgendwie erschient mir IF wie ein Paralleluniversum - in sich konsistent, eigenständig, aber auch abgeschirmt von anderen SF-Fan-Universen die so durch die gegenwärtige Galaxis schwirren - aber dieser isolationistische Eindruck, der sich mir aufdrängt, mag ja ein subjektiver sein. Mein NEUER STERN ist ja auch so eine eigenständige Welt (die ich aber immer gern für andere Welten öffne - ja, ist als Aufforderung gemeint!) Dies wünsche ich IF auch!
Eine sehr enthusiastische Besprechung!