Fortführen 2: Die Leseliste (März bis Juni)
Vonnegut Twain Amis Waldtraut Lewin 2018 WhiteTrain
Ach ja, meine Leseliste. Jetzt ist es aber mal Zeit für Nachträge. Als mir nicht klar war, ob ich den Blog hier weiterführe, habe ich ja auch nichts mehr dazu vermerkt, das war so Anfang März. Da ich gar kein Schnell-Leser bin, ist die Liste hier auch schnell abgehakt.
Ein paar alte und neue Steckenpferde geritten (Lewin, Amis), zwei neue (für mich) Klassiker ausgegraben, denen ich nun mehr Aufmerksamkeit widmen möchte: Twain und Vonnegut. Also, zu meiner Ehrenrettung sei dies angemerkt: Ich kenne die, habe sie schon gelesen, aber lange nicht alles. Da gibt es für mich noch viel nach- und einzuholen†¦
12 - Erik R. Andara: „Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel“
Endlich mal was von Erik gelesen! Wird ja Zeit - der Roman lässt ja noch auf sich warten†¦
3 Stories: 1 ) Dem Cthulhu-Mythos wird ein Bausteinchen hinzugefügt, wobei das am Anfang gar nicht klar ist, am Ende schon. Die eingangs beschriebene Szenerie erinnerte mich irgendwie an einen Film von Ullrich Seidl (sorry für das Klischee), wird dann aber noch abgründiger. 2 ) Eine Sozial-Medien-Groteske trifft auf Chinese Ghost Story - ja, das geht und funktioniert und wird richtig heftig zwischendrin. 3 ) Wir fahren mit einem typischen Horror-Story-Protagonisten (leicht verkrachte Existenz mit Beziehungsproblemen und keinem Traumjob im Copy Shop) in einer surrealistischen Nacht mit dem Zug nach Carcosa. Doch der König in Gelb bringt auch nicht die Lösung.
Mir haben diese Versuche, alte Weird Fiction-Stoffe ins moderne Wien zu transportieren, sehr gut gefallen; auf den großen Mythen-Roman vom Autor bin ich nun gespannter denn je.
9 / 10 Punkte
13 - Kingsley Amis: „Der grüne Mann“
Ein Roman über einen Mann am Rande der Verzweiflung: Alkohol- und Sex-süchtig, leidlich überfordert vom normalen bürgerlichen Leben, gerade Witwer geworden, mit einer fernsehsüchtigen Tochter, die ihm immer mehr entgleitet und: Mit einem Gespenst im alten Gasthaus, das er führt!
Ob das zusammen geht, passt? Ja, macht es! Ganz hervorragend! Mir hat†™s gefallen:
9 / 10 Punkte
14 - Juli Zeh: „Unterleuten“
Als Hörbuch über einen langen Zeitraum genossen (Jan. - Ostern). Ein großartiges, weises Buch! Über eine Dorfgemeinde im Berliner Umland, die alle ihre Geschichte haben und ihre Konflikte miteinander. Es gibt die alteingesessenen, die schon in der DDR-Zeit nicht grün miteinander waren und ihre Konflikte über die historischen Epochen hinweg mit sich tragen. Und dazu kamen neue Leute, auch aus dem Westen.
Stark ist das Ganze aber dadurch, dass die Autorin alle Figuren sprechen lässt, die Situationen aus ihren jeweiligen Perspektiven den Leser erleben und sehen lassen. Und das Großartige dabei: Sie haben alle auf ihre Weise Recht und gute (oder auch schlechte) Gründe, das so zu sehen und sich so und so zu verhalten. Das ist ganz großes, konkretes psychologischen Personenkino!
10 / 10 Punkte
15 - Anthony Burgess: „Der lange Weg zur Teetasse“
Jetzt weiß ich, wo Neil Gaiman seine Art zu Erzählen herhat; das (Kinder-) Buch ist sozusagen das missing link zwischen „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll und Neil Gaimans Erzählungen (etwa in „Die Messerkönigin“).
Die lange Erzählung (ich hatte das Hörbuch, gelesen vom unvergleichlichen Harry Rowohlt) berichtet von der abstrusen Reise eines Schuljungen, der nur nach Hause, zurück in seine Schule und zum Nachmittagstee möchte. Ein Engländer eben†¦
Seine Reise beginnt aus langer Weile, in der Schule. Er wünscht sich nach Hause und fällt durch ein schwarzes Loch auf ein Schiff, das sich auf dem Weg zu den Osterinseln befindet. Dort muss er sich auf den Weg nach Eden begeben. Dabei begegnet er komischen Figuren; davon, von diesen Begegnungen und Gesprächen mit ihnen, lebt die Story. Das ist zum Teil sehr amüsant, trägt aber (für mich) nicht durch den ganzen Text. So richtig fesseln konnte mich das Teil nicht.
7 / 10 Punkte
16 - Mark Twain: „Kannibalismus in der Bahn“
Hörbuch, drei Erzählungen:
„Kannibalismus in der Bahn“
Ziemlich böse Story über falschen Deckel der Zivilisation, den wir Menschen über die Urtriebe stülpten. Anders als so mancher Horrorautor meint Twain, dass in einer absoluten Notsituation der das Überleben Weniger rettende Rückfall in den Kannibalismus durch parlamentarische und demokratische Spielchen gerechtfertigt werden kann. Die Moral bleibt trotzdem auf der Strecke. Eine richtig böse Satire, die doch ihr langweiliges Abstimmungs-Gelaber nur unerträglich wird (werden soll).
„Eine Geistergeschichte“
Der Geist ist zwar ungehobelt, aber nicht böse. Gut, dass der Held der Story das erkennt, so hat er einen Freund gefunden.
„Mrs. McWilliams und der Blitz“
Nervige Story über ein Pärchen, dass sich vor lauter Angst vor Gewitter das Leben schwer macht; im Grunde sowas wie eine frühe Satire auf moderne Aluhut-Träger.
Insgesamt doch nur 7 / 10 Punkte, weil mich der Humor des Mark Twain hier nicht wirklich begeistern konnte.
17 - „Leben im Nebel“, hg. v. Tobias Reckermann
Die Best-Of-Sammlung aus dem gleichnamigen Phantastik-Magazin aus dem Darmverlag, später WhiteTrain, der Vorläufer des „IF Magazin für angewandte Fantastik“. Für mich war das eine willkommene Reise zu den Ursprüngen des sehr interessanten Kleinverlages für alle möglichen Arten und ihre Vermengungen des Phantastischen.
8 / 10 Punkte
18 - Kingsley Amis: „Die Falle am Fluss“
Charmanter englischer old school Krimi. Im Mittelpunkt steht ein Heranwachsender in der Zeit zwischen den Kriegen (der 1. WK steckt den Leuten noch in den Gliedern, der 2. ist dafür noch nicht spürbar) und in der Zeit zwischen Kindheit und Mannesalter. Sexuelle Erfahrungen paaren sich mit der Begegnung mit dem gewaltsam herbeigeführten Tod eines unliebsamen Nachbarn. Die Polizisten sind irgendwie bizarr, die Verdächtigen aber auch. Die Lösung des Krimis ist für meine Begriffe bisschen an den Haaren herbeigezogen, aber dadurch durchaus überraschend.
9 / 10 Punkte
19 - Mark Twain: „Ein Yankee an König Artus Hof“ / „Die Eine-Millionen-Pfund-Banknote“
Ein Wieder(vor)lesen, zum Teil (Ein Yankee) und für mich ein neues Stück Twain. Allerdings ist die Hörbuchfassung des Yankees arg gekürzt; da fehlen auffallend deutlich Teile, an die ich mich sogar noch nach ca. 30 Jahren erinnern konnte und die hier im Hörbuch nicht vorkommen. Aber trotzdem sehr schön, wie der amerikanische Unternehmergeist im Frühmittelalter (den beschriebenen Rüstungen nach aber eher Hoch- bis Spätmittelalter) mal so richtig auf den Putz schlägt. Der kleine Angestellte wird mit seinem technischen Wissen zum King - äh, Magier - an Artus†˜ Hof.
Die Geschichte mit der großen Banknote hat was von „Die Glückritter“ (das mit der Wette) und „Des Kaisers neue Kleider“ (mehr Schein als Sein).
Insgesamt muss ich sagen, dass mich Twain als jüngere Mensch mehr beeindruckte.
8 / 10 Punkte
20 - Kurt Vonnegut: „Stories“ Hörbuch mit 4 Geschichten
Irgendwie sind 2 der 4 Stories hiervon SF, die aber am SF-Mainstream vorbeierzählen. Es gibt durchaus eine wiss.-technische Errungenschaft, die im Mittelpunkt steht, aber es geht nicht um sie selbst, sondern tatsächlich um die Menschen drumherum; wobei: Ist das bei (guter) SF nicht immer so?
„Jenny“ ist ein Roboter, eigentlich ein überkonstruierter Kühlschrank, in den aber sein Konstrukteur mehr reinbaute, als dem eigentlichen Zweck dienlich. Mit dem „Kühlschrank“ baute er sich eine Ersatz-Frau, die ihm über seine missglückte Ehe hinweghalf.
„Confido“ ist ein Kopfhörer-System, das aber nicht nur Töne überträgt, sondern eigene Gedanken erzeugt - bzw. die des Trägers verstärkt - immer in eine Richtung, die dem Träger nicht unmittelbar, wahrscheinlich ehe unter-bewusst sind.
„Azur“ - Eine Büro(kraten)geschichte. Eine neue Absolventin wird einer Abteilung in dem Konzern zugeordnet, die überhaupt so gut wie gar nix macht. Da herrscht Langeweile. Bisher hat der sich abduckente Abteilungsleiter damit recht gut leben können, nun kommt ihm schlechtes Gewissen. Die Neue bringt frischen Wind in den Betrieb. (keine SF)
„Die Hand immer am Regler“. Ein Mann und sein Hobby: Modelleisenbahn. Dass das sehr einnehmend sein kann, habe ich ja schon öfter gehört. Hier gefährdet es aber die Ehe eines Paares. Okay, die Story hat auch was Technisches, ist aber doch noch weit von SF entfernt.
9 / 10 Punkte
21 - Cixin Liu: „Spiegel“
Feine Novelle des Neuen Großen SF-Autors aus China. Lese aktuell (Ende Juni) den 2. Trisolaris-Band, der mich erst mal nicht so von Hocker reißt. Die Novelle konnte das - also Reißen, vom Hocker†¦ War an einem sonnigen Nachmittag zu konsumieren und erinnerte an „Anschlag auf Visionen“ von seligen Tendrjakow. Ist vielleicht so Ost-Ding: Wie deterministisch ist menschliche Geschichte?
9 / 10 Punkte
22 - Martin Amis: „Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter“
Kein komisches Buch, sondern eines, das begründet, warum man über den Diktator Stalin nicht lachen kann, genau so wenig wie über Hitler. Beide nehmen sich nichts, so Amis. Stalin hat mit großem Erfolg an der Vernichtung seines eigenen Volkes gearbeitet - da bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
10 / 10 Punkte
23 - Waldtraut Lewin: „Columbus“
Ein Jugend-Sachbuch-Roman. Interessante Mischung aus Erzählung und Information. Auch wenn es deutlich erkennbar für ein jüngeres Publikum geschrieben wurde, kann man es als alter Sack auch gut lesen. Ich mag die Lewin! Immer noch, immer wieder, jetzt wieder.
Und sie wartet mit tatsächlich Neuem, für mich Unerwartetem auf. Dazu musste ich mich etwas länger auslassen und darf schon mal an einen Sonder (-lichen) NEUEN STERN verweisen, der aber erst noch ganz am Anfang seiner Existenz steht. (Na, neugierig?)
9 / 10 Punkte
24 - „Sternmetall. Neue Phantastik aus Bulgarien“, hg. v. Juri Ilkow und Erik Simon
Ziemlich tolle Sammlung neuer Phantastik aus B. Mit 2 expliziten SF-Texten. Diese und die anderen sind aber mehr als 08/15-SF. Mehr in der BULGARIEN-Ausgabe des NEUEN STERNS, so im August†¦
8 / 10 Punkte
25 - Luci van Org: „Ragnarök' Deine Mudda!“
Hörbuch, gelesen von der Autorin. So ist es übrigens ein Hochgenuss: Gelesen von der Autorin. Ansonsten wäre der Roman vielleicht etwas zu voll mit Redundanz und gewollt schenkelklopfender Humoristik.
Mythische Humoreske, die sich der nordischen Götter annimmt. Die leben nämlich als Berliner Originale in einem Kiez, das wohl wirklich gibt, um einen kleinen Tümpel „Blanke Helle“, der aber eher ein schmutziges Dunkelloch ist.
Der Text lebt vor allem durch seinen Wortwitz, mit viel Berliner Schnauze und Milieu-Slang und -Figuren.
8 / 10 Punkte