Utopie mal anders - Messebericht #LBM2019
LBM2019 LBM19 Jean Ziegler Roman Israel
Wetter (In Erinnerung an 2018) & andere Rahmenbedingungen
Diesmal gab es gar kein Wetter. Oder doch: Anflüge von Wärme, viel Sonne, richtig gutes Wetter! Wobei ich das mit der Wärme überschätzte und zu dünn angezogen rausging. Ich war dann froh, in der Glashalle zu sein (die andere schon wieder als zu aufgeheizt empfanden).
Der März - das weiß sicher nicht nur ich jetzt - bleibt völlig unberechenbar - von Schneegestöber bis 20 Grad (2012) ist alles drin. Da bleibt es ja dann doch spannend.
Aber mal weg vom Wetter:
War das auch immer schon so? Alle - aber wirklich ALLE - Veranstaltungen, die ich besuchte, bzw. besuchen wollte, waren übermäßig gut besucht. Habe ich tatsächlich anders in Erinnerung und kann mich an Lesungen mit 10 - 20 Leuten erinnern (wenn 50 oder mehr reinpassen). Und dabei habe ich mir Sachen herausgesucht, von denen ich teilweise nicht davon ausging, dass sie so frequentiert werden - aber was weiß ich schon - tatsächlich hatten mich Themen gelockt, die ich dann staunend besuchte, in Unkenntnis der Popularität des Referenten.
Markus Heitz ist ja nicht unpopulär, dennoch ging ich davon aus, dass ich in seine Lesung am Mittwochabend in einer Buchhandlung noch einen Platz bekommen kann, zumal ich extra 1 Stunde vor Beginn da war. Und wo im Programm nichts von „Vorbestellen“ zu lesen war.
1. Schock der LBM: „Vor Ihnen wurde die letzte Karte verkauft.“ - Och nöööö. Na ja, wer mich heulen und betteln erlebt hat†¦. Ich habe dann doch noch zuhören dürfen.
Am Do. ging es mit Dame des Herzens und Auto zur Messe. Kein Stau, alles easy. Am Fr. dann per S-Bahn. Als ich dachte, ich hätte eine Bahn vor der erwischt, die ich eigentlich nehmen wollte und in die sich die Menschen so dicht einfädelten, dass nichts den Boden erreicht hat, was runterfiel, merkte ich, dass das die erst ne halbe Stunde später abfahrende Bahn war. Also wurde zunächst eingepresst gestanden, ehe es losging. (Am drauffolgenden Sa. war das dann wohl schon wieder entspannter, dafür der Stau auf der Autobahnzufahrt zur Messe). Na, das sind alles relevante Daten für die nächste LBM-Besuchs-Planung.
Eine Veranstaltung habe ich dann überhaupt nicht wahrnehmen können: Eine kurze Buchpräsentation mit Bela B. in einer Messehalle. Die Lesungen in Halle und Leipzig waren ja schon lange ausverkauft, dann wenigstens mal so: Aber da war schon eine halbe Stunde vorher kein Reinkommen mehr. Unglaublich, die Massen†¦
„Meine“ LBM war wieder ein exzessiver Veranstaltungsmarathon.
Das mit den Treffen und Kontakten hat sich dann aber doch noch ergeben. Eine Begegnung war sogar dermaßen zufällig, dass es mich schon daran gemahnt, mal einen Lottoschein auszufüllen, denn dass wir uns bei den Möglichkeiten (Messegewühl + Großstadt Leipzig) überhaupt über den Weg liefen, war im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit.
20.03.2019
Markus Heitz stellte sein Buch „Die dunklen Lande“ vor. Ich gebe ja zu, gar nicht so ein Fan von ihm zu sein. Als er dann fragte, wer bei seiner Lesung das erste Mal dabei wäre, meldeten sich so wenige, dass ich mich verschämt zurückhielt; ich war also mittenmang im M.H.-Fandom. Okay, muss ich mal akzeptieren.
Thema war ja durchaus interessant: Der 30jähirge Krieg als Kulisse für einen handfesten Fantasy-Abenteuerroman, der zudem an den Meister Robert E. Howard anknüpft.
Und Markus Heitz ist ein Profi! Sein Vortrag war ein Fest! Supergut! Ich bin froh, dass ich das auch mal erleben konnte. Echt.
Ansonsten - dachte ich - wird diesmal die LBM für mich eher unfantastisch. Nun, stimmte auch, es gibt da aber diesen Aspekt:
Der Utopische Donnerstag.
Wider Erwarten kristallisierte sich bei meiner Veranstaltungsauswahl für den Donnerstag, 21.03.2019 ein Thema heraus: Utopien.
Also, etwas muss man schon um die Ecke denken; sollte einem Utopisten aber nicht schwerfallen.
1. Akt: Kersten Knipp (rechts im Bild) stellte sein Buch „Die Kommune der Faschisten“ vor. Ähm - „Utopie“? Wohl doch eher Dystopie, oder? Es ging um die Besetzung des jugoslawischen Fiume nach dem 1. Weltkrieg durch italienische - (proto-) faschistische - Freischärler unter Führung des literarischen Superstars Italiens um 1900, d†™Annunzio.
Das taz Studio bot das Podium für die Buchpräsentation. Der eloquente Autor vermittelte eine gewisse Faszination und Begeisterung für das Objekt seiner Studien und seines Buches. Kann das sein? Auf einem eher linken Forum?
Ja, denn, wenn ich Herrn Knipp richtig verstand: der geltungssüchtige Dichterfürst und Weltkriegsveteran suchte für sich und gleichgesinnte „Spinner“ ein Ventil, wo sie ihre Erfahrungen, Psychosen und Traumata aus der besonderen Erfahrung Weltkrieg, gepaart mit übersteigertem Nationalismus, „ausleben“ können. Es war eine Art Leidenschaft, die erst im Nachhinein eine politische Form erlangte. Dabei war völlig unklar, in welche Richtung es ging. Also, das mit dem Nationalismus war schon da (Gefühl des „verstümmelten Sieges“), aber sonst? Der Autor hat aus dem programmatischen Manifest, das sich die Kommune gegeben hatte, vorgelesen. Also, das wäre eher eine sozialistische Agenda. Zumal von einem Menschen verfasst, der politisch eher links stand.
Die ital. Faschisten ließen sich durch die Freischärler von deren „Erregungskultur“ anregen: Aufmärsche, Massenkundgebungen, Reden, Uniformen†¦
Der Autor des Buches hatte so interessante Wörter. Kurz beschrieb er das „wilde Gemisch“, dass quasi eine Dauer-Erregung erzeugte - erzeugt aus Aufmärschen, Frauen und Kokain.
Im Grunde war das ein utopischer Versuch, wenn auch tendenziell eher von rechtsaußen. Aber wie so oft: Was dem einen eine Utopie, ist dem anderen eine Dystopie. Auf jeden Fall will ich das Buch lesen! Unbedingt.
2. Akt: Roman Israel stellt seinen Selbsterfahrungs-Kurz-Roman (Roman? oder eher Bericht) zu seinem Leben als Nomade vor: "Minimal ist besser".
Das ist eine Utopie - durchaus. Ein Leben ohne Konsum, ohne Besitz. Er lebt so seit gut 2 Jahren. Hat alles veräußert, hat nur noch einen Koffer, einen Laptop, ein Handy und viele Freunde, die ihm zeitweise Unterkunft gewähren. Dabei betont er, dass er niemanden dazu bekehren will. Aber die vernünftig-machbaren Ansätze sind ja da: Wozu Besitztümer anhäufen, die man spätestens mit seinem Tod verliert? Wozu mehr besitzen, als man braucht. Das betraf sogar seine Büchersammlung. Er hat ja Recht: Welches Buch liest man tatsächlich ein zweites Mal? Wozu muss es Staub fangen?
Also, zu denken gab er mir, aber†¦ ich kann das nicht. Nur das zu verbrauchen, was man braucht, ist aber ein richtiger Ansatz, finde ich!
(BTW: Roman Israel ist ohnehin ein interessanter Autor. War jetzt für mich das dritte Mal, dass ich ihm zuhören konnte. siehe hier und hier)
3. Akt: Jetzt wird es explizit utopisch. Und das aus einer Richtung, die ich im Grunde so nicht vermutet habe. Es ging zudem um eine optimistische Zukunftssicht - DAS fällt heutzutage enorm schwer. Und die Anregung kommt eben nicht von SF-Autoren, sondern von einem Philosophen:
Harald Welzer: „Alles könnte anders sein“.
Seine Ausgangsthese: die apokalyptische Weltsicht verstellt die Aussicht auf Änderung, auf eine Gestaltung der Zukunft. Hat er ja Recht: Wer meint, dass es keine Zukunft gibt, muss auch nichts tun†¦
Er plädiert für eine lebenswerte Zukunft. Dabei holt er aus: Zeigt auf, dass es viele Ansatzpunkte für Optimismus gibt, dass es in unserer Welt, in der wir jetzt leben, durchaus Fortschritte gibt. Und da hat er ja auch Recht, wenn man es sich mal so überlegt†¦ Ich führe hier keine Punkte an.
In seiner Argumentation hat er dann aber doch auf die apokalypt. Terminologie zurück gegriffen, wie ich finde, wenn er meinte, dass wir - sinngemäß - anders wirtschaften müssen, damit unsere Kinder durchs 21. Jahrhundert kommen. Hmm†¦
Es war unterm Strich sehr inspirativ.
Ganz anders sah es Jean Ziegler am Abend darauf.
22. & 23.03.2019
Ich fasse mich kurz, keine Bange. Nur so ein paar Namen.
An dem Tag gab es auch mal „echte“ Phantastik. So z.B. den Steinmüllers mal die Hand gedrückt und ihren Geschichten gelauscht in der Phantastik-Insel.
An dem Riesenstand der ARD eine halbe Stunde Augstein & Blome. Herrlich! (und ich freute mich über den „Szenenapplaus“ für Augstein!)
Im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig gab es so eine Sache zum Thema Nationalismus. Auch eine Buchpräsentation. Da dachte ich: Wer geht da schon hin? Hmm, Pustekuchen! Voll war†™s!
Zum Schluss dann die Ikone der Kapitalismuskritik (kannibalische Weltordnung): Jean Ziegler (links im Bild). Dass es bei ihm voll war, brauche ich sicher nicht zu betonen†¦
Auch eine Überraschung bot für mich Horst Teltschik, ein eher konservativer Vollblut-Politiker, Berater bei Kohl. Er schrieb ein Buch "Russisches Roulette: Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden" über die Beziehungen des Westens zu Russland (Sowjetunion). Hm, ich dachte, ok, wird so ein Nach-Kalter-Kriegs-Text. War es auch, aber hier konnte man eine faszinierende, ausgewogene, kluge Persönlichkeit kennen lernen.
Im Herzen erreicht hatte er mich, als er von einer ungeplanten Begegnung mit sowjetischen Armee-Veteranen sprach, in Georgien (?), nach der „Wende“. Er befürchtet eine Anfeindung, aber sie reichten ihm die Hände und wünschten sich gute Beziehungen zu den Deutschen! Dem Mann wackelte die Stimme, er war sichtlich gerührt (und ich auch).
Sein Fazit: Wehret den Anfängen einer neuen Aufrüstung! Sprecht miteinander! Unbedingt!!!
(die Fotos habe ich gemacht)