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(zumindest zum größten Teil)
@Amtranik
Um meine Faszination für »Neuromancer« zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen, sie beruht nämlich tatsächlich zum Teil auf dem Zeitpunkt, aber anders, als du jetzt erwarten dürftest:
Vor drei Jahren hatte ich gerade das Lesen wieder für mich entdeckt, nachdem ich in den Jahren davor kaum ein Buch angerührt habe. Der Grund dafür war ein SF-Konsolenspiel (»Mass Effect«), dessen Setting mich so fasziniert hat, dass ich mehr über diese Welt erfahren wollte und mir die zugehörigen Franchise-Romane geholt habe. Gemessen an den Meisterwerken des Genres sind diese Bücher sicherlich nichts besonderes, aber mir haben sie damals gefallen und, was viel wichtiger war, sie haben eine fast vergessen geglaubte Leseleidenschaft wieder geweckt.
Im Anschluss hab ich dann nach aktueller SF gesucht und stieß auf »Biokrieg« von Bagicalupi, und darüber dann auf dieses Forum, wo es gerade einen Lesezirkel dazu gegeben hatte. (Außerdem gab es hier es sogar eine Autorenwerkstatt, wo ich meine ersten eigenen Schreibversuche einstellen konnte...) Um allerdings bei der hier versammelten Fachkompetenz nicht völlig ahnungslos dazustehen
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, hab ich mir vor meiner Anmeldung noch ein paar Klassiker vorgenommen – übrigens wurde daraus eine 'Lebensaufgabe', die mich nach wie vor sehr gut unterhält
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– und darunter war dann auch »Neuromancer«. Mein erster Cyberpunk-Roman und das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, ein buchstäblich visionäres Werk zu lesen. Zwar Jahrzehnte nach dem Erscheinen und die Anachronismen (wie meterlange Faxpapierausdrucke) sind mir natürlich nicht entgangen, aber dass Gibson das Internet vorhergesehen hat, bevor es richtig Gestalt annahm, hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Außerdem ist er ein äußerst begabter Stilist mit einem guten Auge für die Details und schafft es mit seinen Worten regelrecht Szenen zu illustrieren. All das gefiel und gefällt mir so sehr, dass ich seitdem alles von ihm verschlungen habe, was ich in die Finger bekommen konnte (er schreibt übrigens auch wirklich lesenswerte Essays).
Bei »Blade Runner« war es dann so, dass Erzählweise und Setting überhaupt nicht meinen Erwartungen entsprachen, sodass bspw. Dicks großartiger, oftmals rabenschwarzer Humor und seine skurrilen Einfälle mich eher vor den Kopf stießen als unterhielten. Bei »Ubik« war ich dann im Anschluss jedoch gleichzeitig vorbereitet und unvorbelastet, denn ich ahnte, was mich erzählerisch erwartet, hatte aber keine Verfilmung im Hinterkopf. So konnte dann alles an Dicks Erzählstil, was mich vorher verwirrt hat, seine volle Wirkung entfalten, weil es für mich wunderbar zu dieser völlig verrückten Geschichte über zerbröckelnde Realitäten passte. Seitdem schätze ich Dick sehr und hab vor kurzem meinen siebten Roman von ihm gelesen (»Der dunkle Schirm«), welcher sicherlich nicht der letzte gewesen ist.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
- The Talos Principle