Das letzte Lese-Quartal 2022
Franz Fühmann Glukhovsky Vonnegut
Endspurt. Auch das Lektürejahr 2022 geht seinem Ende entgegen; noch ist ein bisschen in der Pipeline, das Fazit des Jahres darf daher noch etwas auf sich warten. Aber in den letzten drei Monaten kam ich halt auch ein wenig zum lesen und das muss ich hier mal jetzt kundtun.
Inzwischen bin ich zum chaotischen Lesen zurück gekehrt, also immer so 3 bis 4 Bücher "gleichzeitig" (was natürlich nicht wirklich geht, bin ja nicht Data; also immer abwechselnd). Das geht recht gut, weil es sich jeweils auch um sehr unterschiedliche Dinge handelt - Remarque und Glukhovsky, Vonnegut und meine Jugend-"Liebe" Fühmann; die kann man schlecht miteinander verwechseln. Das geht gut so.
Ach so, das Bild? Das ist ein Ausschnitt aus einem S/W-Entwurf zu einem Farbbild zu einem Projekt, in dem ich dies Jahr involviert war - und das im kommenden Jahr dann das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird.
Kurt Vonnegut: „Geh zurück zu deiner lieben Frau und deinem Sohn“
20 Erzählungen aus den 50ern und 60ern. Teilweise SF, aber nicht nur, aber ziemlich große Klasse! Habe sie parallel zu den kurzen Vorstellungstexten in der SF Personality (Nr. 17) zu Vonnegut, von Stefan Pinternagel, gelesen. Also erst die Story und dann das, was Stefan damals dazu schrieb. Nun ja, muss sagen, ich sehe da einige anders als er; manchmal sogar ganz anders. Sowohl was die Wertung, aber auch was den Inhalt anbelangt.
Zum (für mich und andere, die es wie ich brauchen) Erinnern ein paar Stichpunkte. In den Stories geht es um:
- eine Zukunftsvision totaler Gleichheit, in der die Menschen abstumpft und gedankenlos dahinvegetieren (Dystopie aus dem Team „Clockwork Orange“)
- eine rührende Liebesgeschichte, die im Laientheatermilieu spielt; erst in seiner Rolle kann der Mann auch wirklich Mensch sein
- eine problematische Aussage: frigide Frauen werden durch Vergewaltigung darüber belehrt, dass Sex auch was Gutes sein kann. Oh ja, ich weiß nicht, ob die Story heute noch so gedruckt werden würde – geschrieben sicher nicht (die titelgebende Story der amerikan. Originalausgabe: „Willkommen im Affenhaus“)
- noch eine rührende Liebesgeschichte, in der eine alte Freundschaft aus der Kinderzeit zur Liebe reift, was aber nicht so einfach ist und sogar den Mann zum Desertieren verleitet
- über jemanden, der ein Riesenvermögen erbt, was er aber nicht brauchen kann, weil das seinen Lebensplan völlig durcheinander bringt
- eine für meine Begriffe wundervolle Story über eine schöne Frau, die aufgrund ihrer Schönheit und scheinbaren Unnahbarkeit von einem Mann, der sich nicht traut, Frauen anzusprechen, weil er keinen Korb haben möchte, gemobbt wird. Irgendwie eine sehr aktuell wirkende Stories um einen Incel. Diese Form der Misogynie ist also keine Erfindung des Internets
- über eine in Vergessenheit geratene Erfindung Edisons, die neben aufzeigte, dass Hunde die intelligenteren Wesen auf Erden sind
- über einen Jungen, der einen Streit von Nachbar schlichten will, dabei meint, am Tod eines der Streitenden verantwortlich zu sein, aber am Ende wird alles gut
- über eine konsumgläubige, aber ansonsten fast lebensuntüchtige Hausfrau
- über den Urlaubsort der amerikan. Politiker
- über einen schwarzen Jungen, der als Waise in der amerikan. Besatzungszone in Deutschland aufwächst und in einem US-Offizier seinen Vater vermutet; sehr rührend!
- eine pazifistische, leider sehr phantastische, Utopie, in der besonders Begabte mit psychoenergetischer Kraft Waffen vernichten kann
- in der kosmische Strahlung aus dem leeren Raum alles vergessen macht, niemand spürt mehr Schmerz etc.; leider macht es die Bestrahlten auch lebensuntüchtig
- über den Wert einer guten, quasi bürgerlichen normalen Beziehung (die Titelstory)
- eine großartige Story über die Bürokratie und Menschenfeindlichkeit großer Konzerne, die in ihrem Betriebsablauf keine Freiheit dulden
- über einen reichen Förderer einer eliteschule, der fast seine eigenen gerechten Prämissen zu seinen Gunsten gebrochen hätte
- über einen Systemsprenger (erziehungstechnisch)
- über einen sich selbst bewusst werdenden Supercomputer, der aber dann doch zu Gunsten seines Programmierers ihm lieber zu Diensten ist
- ein Briefwechsel zweiter Väter von Raumfahrern, die im Kalten Krieg geopfert wurden, einer aus der UdSSR, der andere aus den USA
- über zukünftige totale Überbevölkerung, erzeugt durch Quasi-Unsterblichkeit, die aber keineswegs eine Verbesserung im Leben der Menschen darstellt.
9 / 10 Punkte
Erich Maria Remarque: „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“
Das ist also „Nichts Neues im… Osten“ im 2. Weltkrieg. Na ja, nicht ganz. Hier geht der Protagonist von der Ostfront auf Urlaub, kann dort über sich nachdenken, seine Eltern suchen, heiraten. Und wird genauso enden wie der Protagonist aus dem anderen Buch…
Den Plot kann man sicher noch etwas genauer beschreiben, aber auf jeden Fall schön zusammen fassen. Dennoch ist das Buch keinen Moment langweilig, sogar richtig spannend. Der Autor kann einfach großartig erzählen, trotz aller Relevanz und Schwere bei dem Thema ist es auch gute Unterhaltung.
Habe eine alte DDR-Ausgabe gelesen und nicht schlecht gestaunt, also der Protagonist ziemlich am Ende seine Unfreiheit und das Verbrecherische des Nazi-Staats beklagt und das mit dem Kommunismus, vergleicht. Da ist wohl den Zensoren was entgangen…
10 / 10 Punkte
Franz Fühmann: „Pavlos Papierbuch“
Ein erster kleiner Erzählungsband des Jubilaren. F.F. feierte 2022 seinen 100. Geburtstag, wenn er noch leben würde. Mir war gar nicht bewusst, dass er ja auch gar nicht alt geworden ist, schon 1984 gestorben.
F.F. gehörte zu meinem Lieblingsschriftstellern meiner Jugendzeit. Aufgrund seiner Mythennacherzählungen und wegen des faszinierenden Sprach-Buches „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel“. Und nun, nach Jahrzehnten, bin ich wieder im Fühmann-Fieber. Jetzt „erwachsen“ – also lese ich auch anderes von ihm.
Der kleine Band hier enthält einen schönen Überblick über sein Schaffen. Autobiografisch gefärbte Erzählungen aus der ersten Phase seines Lebens, als er jung und naiv und Nazi war. Auch das war mir damals als Jugendlicher Fan nicht bewusst. Dabei machte er nie ein Geheimnis drum, sondern hat sich seiner Fehlungen und Irrungen im Leben immer gestellt – auch das war mir nicht klar. Aber das macht ihn mir sehr sympathisch.
Es sind auch 2 der dystopischen SF-Erzählungen enthalten und Mythenverarbeitungen, die aber auch auf einem anderen Niveau als sein Prometheus oder seine Nibelungen, den ich als junger Mensch las - auch weil sie für ein jugendliches Publikum dargebracht wurden.
Weil man schlecht auch im Netz findet, wo welche Stories von ihm enthalten sind, liste ich die hier mal auf:
- Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume (verarbeitete Kindheits- u. Jugenderinnerungen, an seine frühe faschistische Zeit)
- Der Jongleur im Kino
- Indianergesang
- Die Austreibung der Großmutter
- Mein letzter Flug
- Die Gewitterblume
- Strelch (Ein Plädoyer für eine phantasievolle Kindererziehung)
- Drei nackte Männer
- Die Ohnmacht (eine physikalisch-philosophische Spielerei oder politische Kritik?)
- Pavlos Papierbuch (nicht unbedingt nur ein unverhohlene Kritik an der Zensur in der DDR, sondern auch eine Anklage an die von Gewalt bestimmte Beziehung zwischen den Menschen)
- Das Netz des Hephaistos
- Der Geliebte der Morgenröte (2 Mythenverarbeitungen, in denen das „Thema Nr. 1“ im Mittelpunkt steht)
Gunnar Decker: „Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Eine Biographie“
Neben Arnolt Bronnen habe ich also nun in Franz Fühmann, einen zweiten „persönlichen Geschichtszeugen“ für mich erschlossen. Dank dieser wunderbar geschriebenen Biografie! Zu kritisieren hätte ich hier nur, dass sie mitunter chronologisch etwas hin und her stolpert. Der Autor hat sich zwar an den zeitlichen Lebenslauf gehalten, aber auch thematisch sortiert. Aber okay, das passt schon. Und der Autor wendet eine ähnliche Sprache an, die auch Franz Fühmann verwandte. Das wirkt etwas gekünstelt und antiquiert. Aber was soll ich sagen: Ich mag’s!
Wie Bronnen hat Fühmann eine Geschichte. Beide deutschen Schriftsteller waren auch zum Teil damit beschäftigt, ihre eigenen Verwerfungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Sicherlich auf unterschiedlichem Wege, aber doch wieder sehr ähnlich. Man kann über Beide gern den Stab brechen, aber das wäre wenig hilfreich. Klar, sie waren Nazis, dann Kommunisten / Stalinisten, dann… also, Fühmann, der Jüngerer von Beiden und bis 1984 lebend, hat die DDR ja noch in vollen Zügen „genossen“ – und ist da quasi ein 2. Mal gesellschaftspolitisch gescheitert. Erst überzeugter Nazi, dann überzeugter Stalinist, dann halt von allem enttäuscht und desillusioniert.
Ich liebte seine Bücher in der Jugendzeit (ähnlich wie Bronnens Aisopos) und wusste so wenig über den Menschen. Dabei hatte Fühmann immer auch seine eigene Biografie in Frage gestellt und zur Disposition; nur leider hatte ich diese Texte von ihm halt nicht wahrgenommen.
Das Leben Fühmanns ist für mich überaus spannend, weil er so zwischen allen Stühlen saß, nie heimisch wurde, immer im Widerspruch lebte. Und dabei so tolle Sachen schuf. Ja, bin gerade voll im Fühmann-Fieber! (25.11.22)
11 / 10 Punkte
Dmitry Glukhovsky: „Geschichten aus der Heimat“
Eine Sammlung gar nicht so neuer Kurzgeschichten des METRO-2033-Autors. Den ich dies Jahr eher durch „Outpost“ für mich (wieder-) entdeckte. Damit hatte er mich wirklich überzeugt. Auf die Stories war ich dann sehr gespannt, da mir auch sein realistisches „Text“ gefiel. Der Autor hat sich als scharfer Kritiker der russischen Realpolitik erwiesen. Das machte die Storysammlung besonders interessant für mich.
Nun hatte ich tatsächlich eher realistische Stories erwartet – aber es sind zum Großteil waschechte Phantastik sogar SF. Aber immer mit sehr harscher, direkter wenig subtiler Kritik an der russischen Realität. Seine Fiktionen gehen direkt in die Magengrube; er lässt kaum ein gutes Haar an seiner Heimat und seinen Landsleuten, insbesondere, wenn sie eine Nähe zur Macht besitzen. Die üblichen Themen, könnte man meinen, aber wem das zu langweilig und oberflächlich erscheint, auf den ersten Blick, der sie gewarnt: Denn der Autor ist ein phantastischer.
8 / 10 Punkte
Jasper Nicolaisen: „Tiere, Pflanzen, Sensationen“
Der immer ironisch-sarkastische Wortakrobat Jasper Nicolaisen, oftmals mit Hang zum Phantastischen, ohne sich da vollends auszuagieren, also auch immer die Genregrenzen auslotend, bzw. sich um diese nicht scherend, hat mal so nebenbei ein kleines Hand-Buch auf den Markt geschmissen. Löblich auch, dass damit u.a. auch der eigentlich gerade geschlossene Ach je Verlag als Imprint des Amrum Verlages weiter existiert.
Der Form nach handelt es sich um eine Sammlung von Fabeln: Tierfabeln, aber auch Pflanzenfabeln, falls es so etwas überhaupt gibt. Aber warum nicht? Dass Tieren menschliche Verhaltensweisen zugeschrieben werden, ist ja auch nur reine Phantasie. Ob die Tiere und Pflanzen und „Sensationen“ entsprechend ihren „Eigenschaften“ in die komischen, absurden und menschliche Verhaltensweisen karikierenden Situationen entsprechen, mag dahingestellt sei. Mitunter erscheint mir der Einsatz der Tierarten bewusst konträr zur Aussage zu stehen. Aber was weiß ich schon, bin ja nicht Brehm.
Ich fand das Bändchen überaus amüsant; die richtige, weil sehr kurzweilige Straßenbahn-Lektüre.
9 / 10 Punkte
„Die Verbesserung des Menschen. Märchen von…*“
aus der DDR, hg. v. Horst Heidtmann, Sammlung Luchterhand 413, 1982
Insgesamt ein interessanter Ein- und Rückblick; die Kürze der Texte machen auch die aus meiner Sicht schwächeren Beiträge erträglich. Dabei sind auch richtige Perlen, die mich animieren, da am Ball zu bleiben.
Es sind Märchen für Erwachsene, so wohl der Anspruch, der zu dieser Anthologie führte, dabei sind die Autor*innen aus der DDR, auch wenn ein paar von ihnen dann schon gar nicht mehr in der DDR lebten. – Ausführlich im NEUEN STERN, in einer neuen Rubrik…
(* da folgen ganz viele, aber nicht alle Namen der vertretenen Autor*innen)
8 / 10 Punkte
Erich Maria Remarque: „Die Nacht von Lissabon“
Romanzeitung 345 12/78, ziemlich zerfledert…
Mein 3. Remarque. Diesmal geht es ins Emigranten-Milieu deutscher Flüchtlinge vor dem Naziregime. Und es ist eine Liebesgeschichte. Ein Flüchtling macht Bekanntschaft eines andere Flüchtlings, der ihm 2 Karten für eine Überfahrt von Lissabon in die USA verspricht, wenn er ihm zuhört. Was er sich da anhören muss – stellvertretend für die Leser – dauert etwas länger als eine Nacht. Es ist die Geschichte einer anderen Flucht, eines Mannes, der aus einem KZ geflohen ist, in die Schweiz und nach Frankreich, alles vor dem Krieg, dann aber zurückkehrt, um seine Ehefrau zu besuchen, die dann auch mit ihm kommt. Leider ist sie schwer krank und er verliert sie. Damit verliert der Mann auch sein Interesse, allein in die USA zu gehen.
Man kann zum Plot noch mehr erzählen, der durchaus spannend ist, mir aber auch viel aus dem Leben der Flüchtlinge beigebracht hat, die im Süden Frankreichs auch interniert wurden. Die Verhältnisse im Vichy-Frankreich waren schon verwirrend; den Deutschen in den dortigen Lagerns erging es auch nicht gut, dazu die Gefahr, doch noch von der Gestapo geschnappt zu werden.
9 / 10 Punkte
Walter Janka: „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“
Angeregt durch meine Fühmann-Lektüre nun noch etwas DDR-Aufarbeitung. Nüchtern betrachtet war es sehr interessant, aber irgendwie kann ich das nicht „nüchtern“ lesen. Auch nach so vielen Jahren herrscht entsetzen und bitte Enttäuschung über den großen Beschiss, der doch irgendwie meine Heimat war. Einzelne, kleine persönliche Schicksale werden auch angedeutet, und wer da „nüchtern“, unberührt bleiben kann, der hat kein Herz.
Immer mehr greift die Erkenntnis, dass „wir“ von Anfang an so ziemlich alles falsch gemacht haben. Schöner Mist. – Aber interessant, auch hier muss ich am Ball bleiben…
9 / 10 Punkte