Buchdeckel zu. Ende der Lektüreliste 2023
Julia Kulewatz Maxime Weber Baconsky Franz Fühmann Topor
Zu guter Letzt, meine Lektüre-Eindrücke aus dem Spätherbst.
(Gleich kommt noch meine Jahres-Gesamt-Abrechnung & -Übersicht)
In diesen 2 Monaten hatte ich ein paar richtig tolle Überraschungen, aber auch leichte bis ziemlich schwere Enttäuschungen. Na ja, wie das ganze Jahr war, nicht nur lektüretechnisch.
In diesem letzten Zeitraum hatte ich auch ein "Problem", konnte gar nicht richtig am PC tippen. Daher habe ich ein paar Notizen mit der Hand geschrieben. Die sind dann hier als "Kommentar" und Grafik eingefügt.
Roland Topor: „Der schönste Busen der Welt“
Manche Texte sind kaum „richtige“ Stories, eher kurze Witze. Mitunter keine wirklich komischen Witze, ziemlich unkorrekte, zynische, aber auch vulgäre. Aber dann gibt’s wieder spannende und phantastische Geschichten, kleine Krimis oder bizarre, obskure Phantasien. Eine super-interessante Sammlung, die mir den Autor noch ein Stückchen näher brachte.
9 / 10 Punkte
Franz Fühmann: „Unter den PARANYA. Traum-Erzählungen und -Notate“
Ein Rezi? Hierzu? Nein, gibt’s nicht. Diese „Nicht-Rezension“ kann man dann im nächsten STERNENSPLITTER nachlesen, wenn man möchte. Da geht es ums Träumen, was denn sonst – und es gibt ein paar Grafiken von mir, nach Fühmann.
Wertung? Hach, schwierig, das Buch hat mich jetzt über Monate beschäftigt, immer mal zum Zeichnen bewegt, auch mein Scheitern, seine Traumbilder in Grafiken umzusetzen, provoziert. Was soll ich sagen: Schon großartig, also ruhig 10 / 10 Punkte
CARCOSA-Almanach: „Vor der Revolution“
Was für ein toller Verlag! Der da gegründet wurde (Maestros Kettlitz & Riffel) in diesem Jahr und richtig großartige Dinger raushaut. Hab auch zugeschlagen: DEN großen LeGuin-Roman, den es Jahrzehnte lang nicht auf Deutsch gab. Mal sehen, wann ich dazu komme. Derweil habe ich aber den begleitenden Almanach gelesen. Okay, ist sicher Werbung für die Verlagsprodukte, aber halt richtig gute „Werbung“ – also, Texte von und über die Helden (Autor*innen) des Verlagsprogramms: Le Guin, Delany, Leigh Brackett, Alan Moore, von Dath, Clemens J. Setz (sic!), aber auch von Karlheinz Steinmüller über Erik Simon.
Schade, dass mir der längste Beitrag, eine Story von Samuel R. Delany, „Imperiumsstern“, nicht gemundet hat. Ich glaube, ich komme an den Autoren einfach nicht ran. Aber interessant war es auf jeden Fall und in dieser Portionsgröße kann man auch nix falsch machen.
9 / 10 Punkte
Roland Topor: „Kunstpause“
Sein letzter. Musste ich auch noch lesen, zumal es ja nicht so viel von Topor auf Deutsch gibt. Okay, war okay. Ein Schriftsteller = der Autor in der Schreib-Blockade. Was soll er machen? Er weiß es nicht, lässt sich treiben, ärgert sich. Und beim Herumtreiben begegnet er komischen Menschen. Um mehr geht es nicht? Habe jedenfalls nicht mehr rausgelesen. War jetzt nicht so dolle…
7 / 10 Punkte
Alexej Pludek: „Der Untergang der Atlantis“
Im Zuge der Lese-Challenge, „das letzte Jahr in der DDR-SF“ las ich diesen tschechischen Fantasy-Roman. Der kam 1989 in der DDR raus.
Inzwischen haben wir ja das Internet, d.h., man kann schnell recherchieren. Und was man über diesen Menschen, den Autor, da lesen kann… oh je. Ist schon übel!. Gerade vor heutiger Nahost-Kriegskulisse und dem leider wieder weltweit aufbrausenden Antisemitismus. Der Typ ist einer, schon lange. Er hat nach 1968 eine “Aufarbeitung“ der Ereignisse in seinem Heimatland antisemitisch interpretiert, in einem Roman, der nicht in der DDR erschien, in der BRD, glaube ich, auch nicht. Was man aber im Netz über dieses Machwerk lesen kann, reicht mir.
Und nun dieser quasi-historische Fantasy-Roman? Eigentlich eine dolle Sache für osteuropäische Verhältnisse. Er spielt im sagenhaften Atlantis – und bedient volle Pulle ausländerfeindliche Stereotype. Dreimal darf man raten, wer u.a. am Untergang dieser famosen Superzivilisation Schuld trägt. Die Passagen dazu sind eindeutig. Ob ich die Code-Wörter damals schon so verstanden hätte, glaube ich nicht. Denn die als böse deklarierten Ausländer werden verbal so charakterisiert, wie in einschlägigen antisemitischen Hetzschriften. Dass „bei uns“ in der DDR sowas rausgebracht wurde – dafür schäme ich mich ja nachträglich noch.
Daher: Komplettausfall = 0/10 Punkte – in unserem NEUEN STERN zum „letzten Jahr…“ lasse ich mich näher dazu aus.
Franz Fühmann: „Marsyas. Mythos und Traum“
Wow, Fühmann satt! Mehr geht nicht – zumindest, was den Aspekt des Mythischen anbelangt. Ein fettes Reclam-Buch, keine Originalzusammenstellung. U.a. mit „Prometheus. Die Titanenschlacht“ (mein wohl allererstes Fühmann-Lese-Erlebnis als Kind, konnte ich wieder auffrischen und darin neue Aspekte finden, die ich in jungen Jahren mit Sicherheit nicht so las) und einem Essay, in dem F.F. seine Sicht auf den Mythos in der Literatur darstellt – absolut erhellend, auch wenn er zugeben muss, dass er keine abschließende Definition des Mythischen anbieten kann.
Satte 10 / 10 Punkte
Anthologie: „Zeitgestrüpp, oder Die Räder von Himmel und Erde“, hg. v. Erik Simon
In bewährter Manier sammelte Erik Simon wieder Texte, die zwar SF sind, aber in geschichtlichen Epochen angesiedelt sind, wobei die historischen Ereignisse in ihnen nicht immer so erzählt werden, wie wir sie ggf. aus den Geschichtsbüchern kennen. Alternative und Krypto-Historie. Das ist ja nicht das 1. Mal, dass sich Erik Simon damit befasst. Finde ich echt gut, dass er da am Ball bleibt. Diesmal aber nicht für Heyne, sondern den Verlag Torsten Low. Auch gut. (Obwohl mir das eklektische Titelbild nicht so dolle gefällt, wirkt zu unorganisch collagenhaft auf mich.)
Es sind viele „alte Bekannte“ dabei, die der Herausgeber sicher aus persönlicher Bekanntschaft heraus ansprechen konnte, viele deutsche Originalveröffentlichungen und ein paar internationale Namen – Lugin, Malinow, Tais Teng (von dem es so viel gibt, nur nicht auf Deutsch – warum?) u.a., insg. 18 Autorinnen und Autoren aus 7 Ländern. Näheres von meiner Seite dazu in einem NEUEN STERN. Auf jeden Fall so gut wie keine Ausfälle, ein paar viele so richtig gut!
9 / 10 Punkte
Anthologie: „Das Lächeln am Abgrund“
Hg.v. Jörg Weigand, Bastei Lübbe 1982 – siehe handschriftl. Notiz
8 / 10 Punkte
Anatol E. Baconsky: „Die schwarze Kirche“
Den Roman brauchte ich nicht selber lesen, hat mir jemand vorgelesen. Fand ich schon mal richtig gut. Inhaltlich ist das aber ein ziemlich schwieriger Brocken. Am ehesten erinnert mich Baconsky noch an Kafka. BTW: Es gibt in Rumänien eine Schwarze Kirche, in Siebenbürgen, Kronstadt. Ob die dem Autor als Vorbild diente?
Seine Schwarze Kirche ist jedenfalls in einer Stadt am Meer, im Winter und sie dient einem ominösen Bettler-Orden als Stätte für obskur-sexistische Rituale.
Unser Ich-Erzähler gerät komplett ahnungslos und eigentlich unbeteiligt in die Fänge der Bettler. Er ist melancholisch, weltabgewandt, er will seine Ruhe haben, ein normales Einkommen und eine Wohnstätte. Aber all das ist nicht so einfach zu bekommen, wenn man sich nicht zu dem Orden bekennt.
Das Regime der Bettler soll sicher an die Errichtung eines kommunistischen Staates, wie der Autor ihn in seiner Heimat Rumänien kennen gelernt hat, erinnern. Mich erinnerten die Machenschaften und Praktiken der Bettler auch an den Faschismus, aber das mag kein Zufall sein, wenn man sich den „Realsozialismus“ Rumäniens vor Augen führt.
Ein paar Figuren könnten Spiegel realer historische Personen sein (?), kann ich aber nicht dekodieren. Interessant fand ich "die Putzfrau“, die zunächst in der Unterkunft, in die unser Nicht-Held kam, reinigte. Die war ihm gleich nicht geheuer und tatsächlich entpuppt sie sich später.
Ein wenig ratlos lässt mich der kurze Roman zurück. Die Stimmung des Nicht-in-diese-Welt-gehörig-Sein, der Melancholie der Winterspaziergänge am Meer, das meistenteils komplette Unverständnis gegenüber den Ereignissen, die den Ich-Erzähler umgeben, behelligen, zu involvieren versuchen, auch wenn er das nicht will und nie weiß, wie er sich zu verhalten hat, bis hin zu echten Bedrohungen, weil er auch einmal auf den Listen der Feinde steht – all das hat mich schon ziemlich angesprochen. Ähnlich wie Kafka, oder auch Orwells 1984, lässt sich diese Geisteshaltung auch auf andere polit-gesellschaftliche Zustände „anwenden“, denke ich.
8 / 10 Punkte
Maxime Weber: „Das Gangrän“
Hab mir mehr von versprochen, nachdem ich den Autor auf der Leipziger Buchmesse 2023 in einer Veranstaltung luxemburgischer SF-Autoren lesen sah und hörte. Am Ende ist es eine durchaus gute, wenn auch nicht sehr gut erzählte Doomsday-Story über die Bedrohung durch ein alles verschlingendes Etwas, dem sich vor allem die Bewohner eines luxemburgischen Provinznestes ausgesetzt sehen. Es läuft der übliche gesellschaftliche Zerfall ab, dabei haben die jugendlichen Protagonisten eigentlich alle Hände mit sich selbst zu tun.
Möglicherweise haben junge Leute mehr vom Text als ich, weil sie die Anspielungen auf eher destruktive Musik-Kult-Formen verstehen und goutieren können. Aber das ist halt schon nicht mehr meine Generation, nicht mehr „meine“ Musik, obwohl ich inzwischen Have A Nice Life auch sehr gerne höre.
8 / 10 Punkte
Julia Kulewatz: „Dysfunctional Woman“
Eine lyrische Dystopie. Die Autorin begann mit Lyrik, und nun gibt es diesen 1. Roman von ihr; weitere sollen folgen, die dann auch in der gleichen Welt spielen.
Ihre Welt des 25. Jahrhunderts ist einen Dystopie, aber auch das Resultat der Rettung unserer Welt. Vielleicht ist es das, was uns erwartet, weil wir ja gerade unsere Zuhause massiv und nachhaltig zerstören. Am Ende leben wir in diesem streng-hierarchischen Ameisensaat, komplett enthumanisiert.
Bin nicht leicht in den Roman reingekommen, da mir die Versatzstücke dieser Welt zu fremd, die Sprache zwar schön, aber schwer zugänglich erschien. Aber ich las mich ein und bin am Ende echt entzückt! So freue ich mich auf die Fortsetzung, die da kommen soll.
9 / 10 Punkte