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David Mitchell, Der Wolkenatlas
Offener Lesezirkel
Geschrieben 16 Dezember 2012 - 23:30
Bearbeitet von Seti, 16 Dezember 2012 - 23:32.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 17 Dezember 2012 - 00:00
Hallo Seti,Ich habe zwar gerade erst angefangen und bin dementsprechend noch nicht sehr weit (Seite 28), aber möchte dennoch schon mal eine kurze Rückmeldung geben - vor allem um zu zeigen, dass ich mittlerweile auch eingestiegen bin.
Ist ja witzig. Oder ist es eher traurig? Da hat der Roman eindeutig den falschen (weil anscheinend geistig zurückgebliebenen) Leser gefunden. Wer nicht erkennen kann, dass dieser Romanabschnitt sowohl sprachlich und orthografisch, an Briefromane des 19. Jahrhundert angelehnt wurde (eine Meisterleistung auch der deutschen Übersetzung), hat sich als Leser damit selbst als Schwachkopf entlarvt.* Apropos Wortwahl und Orthographie - Ich les ja ganz gerne 1-Sterne-Rezensionen, hauptsächlich weil diesen oftmals jegliche Objektivität fehlt, was manchmal recht erheiternd sein kann. Umso erstaunter war ich, als ich eine Rezension las, in der der Rezensent sagte, er hätte den Roman nach wenigen Seiten abgebrochen, weil er die Fülle der Rechtschreibfehler für unzumutbar hielt (oder so ähnlich). Für mich fast schon ein wenig schockierend, wie man so vorschnell ein falsches Urteil fällen kann...
Geschrieben 20 Dezember 2012 - 00:15
Hallo Trurl! Jep, kann bisher nicht meckern. Mitchell ist wirklich ein ausgezeichneter Erzähler.Hallo Seti,
freut mich, dass dir der Anfang bereits gefällt. Mir auch. Bin gerade im 3. Kapitel, und das ist stilistisch und inhaltlich wieder völlig anders als die beiden vorhergehenden. Und jedes mal ist man gleich wieder sofort drin in einer neuen interessanten Episode.
Mich hat dabei vor allem Ewings Aussage, dass die Maori dieses Verhalten von den Engländern gelernt hätten, zum Nachdenken angeregt. Es wird ja erwähnt, dass die Maori Rekohu früher schon besucht hätten, aber nie mit der Absicht, die Insel zu erobern. Erst als sie ihr Land an die Weißen verloren, entschlossen sie sich, den friedliebenden Morioris ihres zu nehmen. Und unsere europäischen Vorfahren nannten das dann (Bei-)Bringen westlicher Zivilisation...Die Geschichte mit den Moriori hat sich grausamer Weise tatsächlich so abgespielt wie Mitchell das erzählt. Ich habs bei Wikipedia nachgelesen. Ein fast vergessenes, dunkles Kapitel Kolonialgeschichte.
Bearbeitet von Seti, 20 Dezember 2012 - 00:16.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 20 Dezember 2012 - 14:30
Unterstreicht aber ziemlich gut die fiktive Authentizität einer Erzählung, als eine gelungen Simulation eines Textes aus dem 19. Jahrhundert. So haben die Europäer damals sicher gedacht.Sprachlich fiel mir noch auf, wie rassistisch aus heutiger Sicht Goose und Ewing eigentlich sind, obwohl sie sich selbst für gebildet halten. Ewings unbegründete Angst, dass Autua ihn verspeisen könnte, spricht da Bände. Ebenso, dass er zwar Flüche grundsätzlich zensiert widergibt (v-t, p-n etc.), er jedoch keine Hemmungen hat, abfällige Bezeichnungen der Eingeborenen auszuschreiben.
Das sind ziemlich exakt auch meine Eindrücke gewesen. Normalerweise lese ich eher handlungsbetonte Romane, wo weltbewegende Dinge passieren und Helden in Situationen geraten die ich nie erleben wollte. Solche Actionsituationen zu beschreiben, kann, denke ich, jeder durchschnittliche Schreiberling (soll jetzt nicht komplett abwertend klingen). Aber völlig alltägliche Dinge und Abläufe so interessant und spannend zu beschreiben, dass man nicht darüber einschläft, sondern sich sogar dabei unterhält und freut, das ist schon die höhere Kunst des Schreibens.Der zweite Teil »Briefe aus Zedelghem« hat mich dann wirklich überrascht. Und ich meine damit nicht nur, weil der erste Teil plötzlich vorbei war. Die Geschichte eines mittellosen Alumnus, der auf einem belgischen Schloss zum Assistenten eines alten, blinden Komponisten wird, klingt im ersten Moment eigentlich nicht gerade spannend und wahrscheinlich gibt es hundert Wege, es so zu erzählen, dass der Leser einschlafen würde. Aber Mitchell lässt hier seinen Charakter Frobisher mit so viel Eloquenz und Wortwitz über seine Erlebnisse berichten, dass es wirklich Spaß macht, diese zu lesen. Die Stelle bspw., in der Ayers zum ersten Mal ein Stück »diktiert«, war einfach nur köstlich.
Hat mich ebenfalls ziemlich überrascht, weil ich das aus den Briefen so auch nicht herausgelesen habe. Aber das liegt vielleicht daran, dass Frobisher auch den 2. Teil der Briefe bereits kennt, denn wir erst noch lesen müssen.Die letzte Szene, die ich vorhin gelesen habe, erwähnte dann die Aufzeichnungen Ewings, was ich sehr spannend fand. Einerseits, weil Frobisher einen völlig neuen Blick auf Ewings Behandlung durch Goose warf (dieser Gedanke kam mir gar nicht in den Sinn) und andererseits weil er an der Authenzität des Tagebuchs zweifelte. Das überraschet mich dann doch, weil es völlig meinem persönlichen Eindruck widersprach – auch wenn das natürlich nichts heißen muss...
Geschrieben 22 Dezember 2012 - 16:08
Geht mir genau so. Aber da ich, wie schon erwähnt, nach dem abrupten Ende des ersten Teils den Roman einmal durchgeblättert habe, und seitdem zumindest weiß, dass alle Geschichten fortgesetzt werden (und nicht an diesem Punkt zu Ende erzählt sind), lässt es sich aushalten.Auch hier ist es, wie bei der Geschichte zuvor, wo die investigative Journalistin, Louisa Rey, in einen Wirtschafts-Thriller um Machenschaften der Atomindustrie gerät, so, dass gerade in dem Moment, wo es interessant zu werden beginnt, ein übler Cliffhanger die Geschichte unterbricht. Man ist im ersten Moment versucht weiterzublättern und muss sich echt zwingen wieder bei Null mit der neuen Geschichte weiterzumachen. Zumal man sich auch stilistisch auf ein ganz anders gelagertes Abenteuer einlassen muss. Ich lege dann immer eine Pause ein. Aber Mitchell hat das absolut im Griff und hantiert meisterlich mit den unterschiedlichsten Erzählstilen.
Zweifellos. Man denke da nur an all die Wissenschaftler, die anhand von Schädelvermessungen (und was die Rassenkunde sonst noch so an pseudowissenschaftlichem Humbug bereithielt) auf eine natürliche Überlegenheit des weißen Mannes schlossen.Unterstreicht aber ziemlich gut die fiktive Authentizität einer Erzählung, als eine gelungen Simulation eines Textes aus dem 19. Jahrhundert. So haben die Europäer damals sicher gedacht.
Mich würde ja mal interessieren, wie lange Mitchell an diesem Roman gearbeitet hat. Ganz sicher hat er ihn nicht in einem Monat runtergeschrieben...Das sind ziemlich exakt auch meine Eindrücke gewesen. Normalerweise lese ich eher handlungsbetonte Romane, wo weltbewegende Dinge passieren und Helden in Situationen geraten die ich nie erleben wollte. Solche Actionsituationen zu beschreiben, kann, denke ich, jeder durchschnittliche Schreiberling (soll jetzt nicht komplett abwertend klingen). Aber völlig alltägliche Dinge und Abläufe so interessant und spannend zu beschreiben, dass man nicht darüber einschläft, sondern sich sogar dabei unterhält und freut, das ist schon die höhere Kunst des Schreibens.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 23 Dezember 2012 - 20:07
Für mich machte den Reiz von Cavendishs Erzählung vor allem aus, dass sie – wie du auch schon sagtest – schön schnodderig daherkommt, aber mal ausnahmsweise keinen Mittzwanziger in unserer Gegenwart porträtiert sondern einen nicht auf den Mund gefallenen Senior. Und neben den vielen Bonmots, die Cavendish so von sich gab, war auch ein Satz dabei, der mir so gut gefiel, dass ich ihn gleich zu meiner neuen Signatur gemacht habe.Ich habe lange gerätselt, welches "grausige" Martyrium der schnoddrig wirkende Icherzähler, ein etwas glückloser Verleger, den Geldnöte dazu zwingen unterzutauchen, erleiden muss. Als ich es wusste, musste ich irgendwie dann doch lachen, obwohl es eigentlich nicht so lustig ist. Was wiederum am schnodderigen Erzählton liegt.
Bearbeitet von Seti, 23 Dezember 2012 - 20:08.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 31 Dezember 2012 - 12:53
Geschrieben 04 Januar 2013 - 23:04
Ok. Ich bin zwar mittlerweile auf der Zielgeraden (zweiter Teil von »Briefe aus Zedelghem«), habe aber – wie unschwer zu erkennen – seit den Festtagen nichts mehr gepostet. Ich hab mir allerdings einige Notizen gemacht und werd dann, sobald du weiterliest, noch etwas zu den nachfolgenden Kapiteln schreiben. Heute reich ich erstmal meine Gedanken zu »Sonmis Oratio« (erster Teil) und »Sloosha's Crossin'« nach...@Seti: Ich werde jetzt ein kleine Pause beim Wolkenatlas einlegen, weil ich gerne den Lesezirkel im Januar mitmachen möchte. Der Wolkenatlas bietet sich geradezu an, auch mal kurz zu unterbrechen. Schließlich macht das der Autor mit uns Lesern auch nicht anders. Ab Mitte Januar geht es dann bei mir vermutlich wieder weiter.
Deinen Ausführungen zu »Sonmis Oratio« (Teil 1) hab ich eigentlich nichts hinzuzufügen. Sehr schön zusammengefasst. Ich finde bzw. stimme dir zu, dass die Stärke dieser Geschichte vor allem darin liegt, wie die aufgestiegene (oder mit anderen Worten aufgeklärte) Sonmi auf ihre Zeit als Service-Sklavin zurückblickt und man im Fortlauf der Handlung zunehmend den Eindruck gewinnt, dass die Duplikantin die Welt der Konzernokratie besser versteht und durchschaut als der Archivar, der ja selbst ein (kleines) Rad in dieser dystopischen Maschinerie ist. Sie erklärt ihrem Verhörer nicht nur, wie sie zu dem Menschen wurde, der sie ist, sondern auch in was für einer Welt sie beide leben.Dieses Kapitel handelt nun in der Zukunft. Ein genaues Datum wird nicht genannt, aber wir befinden uns wahrscheinlich Anfang, Mitte des 22. Jahrhunderts. Und vieles hat sich verändert. Nicht unbedingt zum besseren.
[...]
Ironischerweise ist dann ausgerechnet die als Untermensch angesehene Duplikantin, diejenige, die ihre neuerwobenen geistigen Fähigkeiten dazu nutzt, wie ein trockener Schwamm alles an Bildung und Wissen aufzusaugen, um die Begrenztheit der Welt zu erkennen, in der sie gelebt hat und in der sie nun lebt.
Deadlands sind verseuchte, unbewohnbare Zonen. Der Katastrophenschützer-Duplikant Wing~027 erklärt das Somni bei ihrer ersten Begegnung. Leider erfährt man aber nichts über die Umstände, die ganz Europa unbewohnbar gemacht haben, deshalb kann man nur spekulieren, ob ein Krieg vielleicht eine Rolle dabei gespielt hat.(es wird von einer gescheiterten Demokratie Europa gesprochen und diese Gegend als Deadland bezeichnet, was immer das auch heißen mag)
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 04 Januar 2013 - 23:57
Also fast schon fertig. Ich mache jetzt beim Wolkenatlas wieder weiter, weil ich den Dath ("Pulsarnacht") überraschenderweise ratzfatz durch hatte. Schöne Space Opera übrigens. Beim "Wolkenatlas" war ich übrigens schon vorher etwas in Verzug, da musste ich parallel noch einen Banks fertiglesen, den ich bereits vor zwei Jahren begonnen hatte. Also wahrscheinlich gibts von mir Sonntag wieder ein paar Bemerkungen zu lesen.Ok. Ich bin zwar mittlerweile auf der Zielgeraden (zweiter Teil von »Briefe aus Zedelghem«), ...
(...)
Geschrieben 08 Januar 2013 - 00:35
Fand ich auch und es war in meinen Augen auch der deprimierendste von allen, weil er den totalen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation schildert, die ultimative menschliche Katastrophe schlechthin. Wie tief die Menschheit hier bereits gesunken ist, macht Mitchell auch sprachlich deutlich, indem er seinen Erzähler Zachry in einfachster Sprache und Syntax seine Lebensgeschichte erzählen lässt.Den sechsten Teil »Sloosha's Crossin'« fand ich ausgesprochen stark.
(...)
Mitchell beschönigt hier auch nichts und es fehlt völlig der in vielen, neuerdings so populären, postapokalyptischen Szenarien beschworene Endzeit-Chick, der so tut als wäre der Untergang gar nicht so schlimm und man könne, wenn man sich nur wieder auf die menschlichen Grundwerte besinnt, ganz einfach weitermachen und ein idylisches Ökoleben führen.So bleibt am Ende der Geschichte, dass ich mir vielleicht etwas mehr Auflösung gewünscht hätte (was aus seiner Familie und den Prescients wurde). Allerdings wäre das wohl nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit möglich gewesen, denn wie hätte Zachary herausfinden sollen, was mit ihnen geschehen ist, ohne dass es konstruiert gewirkt hätte...
Geschrieben 09 Januar 2013 - 19:26
Geschrieben 11 Januar 2013 - 00:41
Wobei mir in diesem Punkt sehr gefiel, zu welch tiefgründigen Erkenntnissen Zachry dennoch oftmals kommt. Obwohl sein Bildungsniveau gering ist (was in Anbetracht der Situation nicht verwundern kann), so haben ihn doch die harschen Umstände seines Lebens einige weise Dinge gelehrt.Wie tief die Menschheit hier bereits gesunken ist, macht Mitchell auch sprachlich deutlich, indem er seinen Erzähler Zachry in einfachster Sprache und Syntax seine Lebensgeschichte erzählen lässt.
Ging mir ähnlich. Ich dachte zwischendrin, dass Zachry am Ende mit Meronym auf die Insel der Prescients flieht, und somit die Möglichkeit offengehalten wird, dass die Menschheit noch nicht völlig am Abgrund steht – ähnlich dem Ende von The Book of Eli, wo sich Alcatraz als verbliebener Hort der Zivilisation herausstellt.Ein wenig Hoffnung hatte ich ja zuerst noch, dass der Untergang vielleicht doch nicht allumfassend sei, als mit den Prescients eine Menschengruppe beschrieben wurde, die offenbar noch über Reste der früheren Technik und Wissenschaft besaßen, was sich dann leider auch als vergebliche Hoffnung herausstellte.
Stimmt, Mitchells Ende ist ausgesprochen pessimistisch, was die Rückkehr auf einen präapokalyptischen Wissensstand angeht. So bleibt letztendlich nur die Erkenntnis, dass Zachry überlebt und seine Geschichte an seine Kinder weitergibt. Eventuell ist es auf Maui auch etwas sicherer, denn es werden zwar Konapiraten erwähnt, doch das legt nahe, dass es auf der Insel selbst keine Barbarenstämme gibt. Somit exisitiert eine kleine, halbwegs zivilisierte Gemeinde, aber eine Zukunft der Menschheit als Gesellschaft scheint wohl eher ausgeschlossen.Und es fehlt auch völlig eine auch nur ansatzweise optimistische Perspektive. Denn Zachrys Erzählung endet damit, dass neben den, zwar auf einfachstem Niveau aber friedlich lebenden, Talleuten, die den kriegerischen Kona zum Opfer fallen und versklavt werden (hier wiederholt sich das Schicksal der Moriori), auch die Prescients, als die letzte Gruppe von Menschen, die noch über technisches Wissen verfügten, und einen zivilisatorischen Neuanfang leisten könnten, an einer unheilbaren Seuche zugrundegehen. Die weitere Zukunft der Menschheit bleibt also völlig ungewiß.
Das Traurige im Hin- bzw. Rückblick auf Zachrys Geschichte ist leider, dass ihr Name ›nur‹ in Form einer Religion überdauert. Aber ihre Geschichte wird wahrscheinlich wie so vieles verlorengehen, da niemand mehr ihre Aufzeichnungen versteht und Zachrys das, was er von Meronym erfuhr, nur mündlich weitergeben kann. Ihr Opfer war zwar nicht völlig sinnlos, denn bis zum Zusammenbruch der Zivilisation muss ihr Name ja ein Sinnbild des Widerstands gegen die Konzernokratie gewesen sein (die Stelle, als sie dem Archivar Seneca zitierte, fand ich übrigens großartig: »Ganz gleich, wie viele du von uns tötest, dein Nachfolger wird nicht darunter sein«), aber schlussendlich kann man nur darüber spekulieren, ob sich nach ihrem Tod wirklich etwas in Nea So Copros geändert hat.Eine besondere Perfidie hat sich Mitchell für seine Protagonistin bis zuletzt aufgehoben. Bewundernswert ist allerdings Sonmi~451s Haltung bis zum Schluss. Obwohl von Anfang an nur Spielball in einem abgekarteten Machtspiel, nimmt ihr Schicksal aufrecht und gefasst entgegen, wird damit in dieser hoffnungslosen Zukunft zu einer Märtyrerin und Sinnbild im Kampf um individuelle Freiheit und Selbstbestimmung.
Volle Zustimmung. Ich hatte ja nach dem ersten Teil von Cavendishs Erzählung schon gesagt, dass seine Geschichte mir am besten gefiel, und daran änderte sich auch im zweiten Teil nichts. Die Ausarbeitung und Durchführung des Fluchtplans war mit so einigen komischen Momenten gespickt (z.B. als sich Cavendish als Arzt ausgibt oder Meeks plötzlich im Auto sitzt) und rutschte dennoch nie ins Alberne oder gar Belanglose, da der Grund für die Flucht der »modernen Aussätzigen« ein durchaus ernster ist. Und ich war wirklich froh, dass Mitchell wenigstens seinem ältesten Protagonisten das verdiente Happyend gönnt, denn – wie du auch schon sagtest – nach den beiden vorhergehenden Teilen wäre es auch vorstellbar gewesen, dass alle Geschichten in einer Katastrophe (im Sinne der dramaturgischen Definition) enden. Zum Glück ist das nicht der Fall.Was für eine Wohltat das Ende der Abenteuer Timothy Cavendishs zu lesen. Nachdem die beiden vorhergehenden Geschichten maximal deprimierend geendet hatten, hatte ich auch bei Timothy Cavendish die Befürchtung, er würde seinem vorbestimmten Schicksal in dem Horror-Altersheim nicht mehr entkommen. Aber da Cavendish die Geschichte aus seinen Erinnerungen schreibt, gab es ja noch die berechtigte Hoffnung, dass vielleicht alles gut ausgehen möge. Mir hat diese Erzählung sehr gut gefallen. Gerade als Kontrastprogramm zu den drei vorhergehenden Geschichten, die in dystopischen und postapokalyptischen Zukünften spielten. Wie Mitchell die Flucht der eigenwilligen und agilen Rentnertruppe um Cavendish aus dem Hochsicherheitsgefängnis Altersheim schildert, das hatte Klasse.
Ohne zuviel verraten zu wollen, aber diesen Gedanken solltest du im Hinterkopf behalten, wenn du die letzten Seiten von Ewings Tagebuch liest. Denn mit dem, was Ewing da sagt, spannt Mitchell sozusagen rückwirkend den Bogen zu allen vorangegangenen (bzw. chronologisch nachfolgenden) ErzählungenSo langsam schält sich auch ein Gemeinsamkeit heraus, die allen Geschichten gemein ist: Machtmissbrauch. Diejenigen, die die Macht inne haben, werden diese immer missbrauchen und sie dazu einsetzen, ihre Mitmenschen zu unterdrücken, vorzugsweise die Schwächeren. Und sie werden versuchen, den Unterdrückten weiszumachen, dass der Zustand der Tyrannei der Normalzustand sei, mit dem sie sich abzufinden haben.
Bearbeitet von Seti, 11 Januar 2013 - 00:45.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Geschrieben 12 Januar 2013 - 11:52
Bearbeitet von Trurl, 12 Januar 2013 - 12:33.
Geschrieben 15 Januar 2013 - 21:57
Ich hab mir letztens auch nochmal den fünfminütigen Trailer angeschaut und hatte ähnliche Gedanken. Zwar könnte man die Tatsache, dass alle Schauspieler mehrere Rollen spielen, als Kunstgriff interpretieren (um bspw. den Cast überschaubar zu halten), aber dennoch merkt man dem Trailer an, dass der Film die Geschichten eher auf einer emotionalen Ebene statt auf einer gesellschaftlichen verwebt. Bspw. scheinen Sonmi~451 und Hae-Joo Im eine richtige Liebesbeziehung zu haben, die im Roman doch eher ein leidenschaftsloser One-Night-Stand ist, an anderer Stelle liegt sich Timothy Cavendish mit seiner Jugendliebe in dem Armen, was im Roman nicht vorkommt etc.In der Verfilmung, so entnehme ich das den Trailern, die ich mir angeschaut habe, wird der Aspekt der Reinkarnation besonders hervorgehoben und der Roman vorzugsweise unter diesem Gesichtspunkt interpretiert. «Alles ist verbunden», das ist der zentrale Satz, der in den Trailern immer wieder fällt. Außerdem habe ich Dialogzeilen gehört, die im Buch überhaupt nicht auftauchen. Mein Eindruck ist deshalb, dass die Verfilmung den Roman sehr frei auslegt und sie, so wie das einigen hier im Forum bereits aufgefallen ist, eine esoterisch angehauchte Interpretation von Sterben und Widergeburt bevorzugt. Eine Sichtweise, die man dem Roman nur mit viel Phantasie unterstellen kann. Ich würde nämlich behaupten, dass der Reinkarnationsgedanke überhaupt kein zentrales Motiv des Romans ist.
Geht mir genau so. »Die tausend Herbste des Jakob de Zoet« möchte ich dieses Jahr definitiv auch noch lesen.Ich werde auf jeden Fall den Autor weiterverfolgen und mir weitere seiner Romane besorgen. Eines steht bereits in meinem Regal: Die tausend Herbste des Jakob de Zoet ein historischer Roman aus dem Japan der Edo-Zeit, in der sich Japan während des Tokugawa-Shogunats vom Rest der Welt abschottete und es nur einige wenige europäische Handelsstationen in Japan gab. Bin schon gespannt.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
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