David Mitchell, Der Wolkenatlas (ab 15.12.)
#1
Geschrieben 13 Dezember 2012 - 09:43
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#2
Geschrieben 16 Dezember 2012 - 23:30
Also bisher bin ich sehr angetan. Mitchell schafft es ausgesprochen gut, die Denkweise und das Lebensgefühl der Kolonialzeit einzufangen. So gut, dass sich die Tagebucheinträge wie die tatsächlichen Aufzeichnungen eines Mannes lesen, der zu dieser Zeit gelebt hat, und nicht wie eine Geschichte, die dem Kopf eines relativ jungen Schriftstellers unserer Tage entsprungen ist. Wenn Ewing beispielsweise einerseits von den sittlichen Verfehlungen der anderen Herbergsbewohner schreibt und gleichzeitig über die unzivilisierten Wilden, und welcher Umgang mit ihnen barmherziger wäre, sinniert, dann fühlt sich das authentisch an. Wortwahl und Orthographie* unterstreichen das dann noch zusätzlich, wobei ich gleich mal die hervorragende Übersetzung loben muss - bei der die Bezeichnung Lokalisierung vielleicht sogar passender wäre.
Und so sehr ein Roman in erster Linie vor allem unterhalten soll, finde ich es doch immer wieder befriedigend, wenn ich neben einer interessanten Geschichte (zu der ich zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht viel sagen kann) noch etwas lerne. Das war auch einer der Gründe, warum Ian McDonalds "Cyberabad" so einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließ. Und was diesen Punkt betrifft, scheint auch der Wolkenatlas so einige Wissenshappen für die hungrigen grauen Zellen auszuwerfen. Die Ausführungen zu den Moriori - einem Volk, von dem ich noch nie etwas gehört hatte - und ihrer gewaltfreien Kultur fand ich äußerst lehrreich.
Von meiner Seite bisher also
* Apropos Wortwahl und Orthographie - Ich les ja ganz gerne 1-Sterne-Rezensionen, hauptsächlich weil diesen oftmals jegliche Objektivität fehlt, was manchmal recht erheiternd sein kann. Umso erstaunter war ich, als ich eine Rezension las, in der der Rezensent sagte, er hätte den Roman nach wenigen Seiten abgebrochen, weil er die Fülle der Rechtschreibfehler für unzumutbar hielt (oder so ähnlich). Für mich fast schon ein wenig schockierend, wie man so vorschnell ein falsches Urteil fällen kann...
Bearbeitet von Seti, 16 Dezember 2012 - 23:32.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#3
Geschrieben 17 Dezember 2012 - 00:00
Hallo Seti,Ich habe zwar gerade erst angefangen und bin dementsprechend noch nicht sehr weit (Seite 28), aber möchte dennoch schon mal eine kurze Rückmeldung geben - vor allem um zu zeigen, dass ich mittlerweile auch eingestiegen bin.
freut mich, dass dir der Anfang bereits gefällt. Mir auch. Bin gerade im 3. Kapitel, und das ist stilistisch und inhaltlich wieder völlig anders als die beiden vorhergehenden. Und jedes mal ist man gleich wieder sofort drin in einer neuen interessanten Episode. Die Geschichte mit den Moriori hat sich grausamer Weise tatsächlich so abgespielt wie Mitchell das erzählt. Ich habs bei Wikipedia nachgelesen. Ein fast vergessenes, dunkles Kapitel Kolonialgeschichte.
Ist ja witzig. Oder ist es eher traurig? Da hat der Roman eindeutig den falschen (weil anscheinend geistig zurückgebliebenen) Leser gefunden. Wer nicht erkennen kann, dass dieser Romanabschnitt sowohl sprachlich und orthografisch, an Briefromane des 19. Jahrhundert angelehnt wurde (eine Meisterleistung auch der deutschen Übersetzung), hat sich als Leser damit selbst als Schwachkopf entlarvt.* Apropos Wortwahl und Orthographie - Ich les ja ganz gerne 1-Sterne-Rezensionen, hauptsächlich weil diesen oftmals jegliche Objektivität fehlt, was manchmal recht erheiternd sein kann. Umso erstaunter war ich, als ich eine Rezension las, in der der Rezensent sagte, er hätte den Roman nach wenigen Seiten abgebrochen, weil er die Fülle der Rechtschreibfehler für unzumutbar hielt (oder so ähnlich). Für mich fast schon ein wenig schockierend, wie man so vorschnell ein falsches Urteil fällen kann...
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
- • (Buch) gerade am lesen:Jeff VanderMeer - Autorität
- • (Buch) als nächstes geplant:Jeff VanderMeer - Akzeptanz
-
• (Buch) Neuerwerbung: Ramez Naam - Crux, Joe R. Lansdale - Blutiges Echo
-
• (Film) gerade gesehen: Mission Impossible - Rogue Nation
#4
Geschrieben 20 Dezember 2012 - 00:15
Der restliche Teil von »Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing« hielt noch einige interessante Ereignisse bereit. Ewing entdeckte einen versteckten Götterhain, begann seine Schiffsreise und machte Bekanntschaft mit einem blinden Passagier.
Etwas verwirrt war ich über die plötzliche Erwähnung seines Leidens, das kam irgendwie ziemlich überraschend. Da allerdings auch mehrmals Bezug auf Tagebucheinträge genommen wurde, die vor dem eigentlichen Beginn des Romans liegen, war das wohl gewollt. Goose' spätere Erklärung, um was es sich bei dem Leiden handelt, war dann eher unappetitlich, dafür aber sehr bildhaft (übrigens ist es eine ganz, ganz schlechte Idee aus Neugier nach »Gehirnparasiten« zu googlen... )
Sprachlich fiel mir noch auf, wie rassistisch aus heutiger Sicht Goose und Ewing eigentlich sind, obwohl sie sich selbst für gebildet halten. Ewings unbegründete Angst, dass Autua ihn verspeisen könnte, spricht da Bände. Ebenso, dass er zwar Flüche grundsätzlich zensiert widergibt (v-t, p-n etc.), er jedoch keine Hemmungen hat, abfällige Bezeichnungen der Eingeborenen auszuschreiben.
Nun ja, da ich durch die kürzliche Berichterstattung zum Film schon ein wenig ahne, in welche Richtung der Roman (eventuell) geht, bin ich natürlich gespannt, welche Bedeutung der Beziehung zwischen Autua und Ewing zukommt. Ihr erstes Aufeinandertreffen wird ja als Moment des Wiedererkennens beschrieben, obwohl das nicht möglich ist, und Autua untermauert das später nochmal mit einer Geste. So macht insbesondere seine Aussage, dass er Ewings Leben retten werde, neugierig (wobei ich gestehen muss, dass der völlig unerwartete, abrupte Abbruch des ersten Teils mich veranlasste, das Buch einmal durchzublättern, da ich mich fragte, ob dieser Erzählstrang überhaupt fortgesetzt wird).
Der zweite Teil »Briefe aus Zedelghem« hat mich dann wirklich überrascht. Und ich meine damit nicht nur, weil der erste Teil plötzlich vorbei war. Die Geschichte eines mittellosen Alumnus, der auf einem belgischen Schloss zum Assistenten eines alten, blinden Komponisten wird, klingt im ersten Moment eigentlich nicht gerade spannend und wahrscheinlich gibt es hundert Wege, es so zu erzählen, dass der Leser einschlafen würde. Aber Mitchell lässt hier seinen Charakter Frobisher mit so viel Eloquenz und Wortwitz über seine Erlebnisse berichten, dass es wirklich Spaß macht, diese zu lesen. Die Stelle bspw., in der Ayers zum ersten Mal ein Stück »diktiert«, war einfach nur köstlich.
Die letzte Szene, die ich vorhin gelesen habe, erwähnte dann die Aufzeichnungen Ewings, was ich sehr spannend fand. Einerseits, weil Frobisher einen völlig neuen Blick auf Ewings Behandlung durch Goose warf (dieser Gedanke kam mir gar nicht in den Sinn) und andererseits weil er an der Authenzität des Tagebuchs zweifelte. Das überraschet mich dann doch, weil es völlig meinem persönlichen Eindruck widersprach – auch wenn das natürlich nichts heißen muss...
Hallo Trurl! Jep, kann bisher nicht meckern. Mitchell ist wirklich ein ausgezeichneter Erzähler.Hallo Seti,
freut mich, dass dir der Anfang bereits gefällt. Mir auch. Bin gerade im 3. Kapitel, und das ist stilistisch und inhaltlich wieder völlig anders als die beiden vorhergehenden. Und jedes mal ist man gleich wieder sofort drin in einer neuen interessanten Episode.
Mich hat dabei vor allem Ewings Aussage, dass die Maori dieses Verhalten von den Engländern gelernt hätten, zum Nachdenken angeregt. Es wird ja erwähnt, dass die Maori Rekohu früher schon besucht hätten, aber nie mit der Absicht, die Insel zu erobern. Erst als sie ihr Land an die Weißen verloren, entschlossen sie sich, den friedliebenden Morioris ihres zu nehmen. Und unsere europäischen Vorfahren nannten das dann (Bei-)Bringen westlicher Zivilisation...Die Geschichte mit den Moriori hat sich grausamer Weise tatsächlich so abgespielt wie Mitchell das erzählt. Ich habs bei Wikipedia nachgelesen. Ein fast vergessenes, dunkles Kapitel Kolonialgeschichte.
Bearbeitet von Seti, 20 Dezember 2012 - 00:16.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#5
Geschrieben 20 Dezember 2012 - 14:30
Ich habe lange gerätselt, welches "grausige" Martyrium der schnoddrig wirkende Icherzähler, ein etwas glückloser Verleger, den Geldnöte dazu zwingen unterzutauchen, erleiden muss. Als ich es wusste, musste ich irgendwie dann doch lachen, obwohl es eigentlich nicht so lustig ist. Was wiederum am schnodderigen Erzählton liegt. Auch hier ist es, wie bei der Geschichte zuvor, wo die investigative Journalistin, Louisa Rey, in einen Wirtschafts-Thriller um Machenschaften der Atomindustrie gerät, so, dass gerade in dem Moment, wo es interessant zu werden beginnt, ein übler Cliffhanger die Geschichte unterbricht. Man ist im ersten Moment versucht weiterzublättern und muss sich echt zwingen wieder bei Null mit der neuen Geschichte weiterzumachen. Zumal man sich auch stilistisch auf ein ganz anders gelagertes Abenteuer einlassen muss. Ich lege dann immer eine Pause ein. Aber Mitchell hat das absolut im Griff und hantiert meisterlich mit den unterschiedlichsten Erzählstilen.
Ganz froh bin ich, den Film noch nicht gesehen zu haben, weil mich jetzt schon brennend interessiert, wie die eine oder andere witzige Szene im Film rüberkommen wird.
Gerade die Frobisher-Geschichte ist gespickt mit sarkastischen Randbemerkungen und skurrilen Situationen. Frobisher, der mir anfangs als arrogant-schnöseliger Schmarotzer erschien, mit sehr viel mehr Selbstbewusstsein, als Talent ausgestattet, entwickelt im Lauf der Geschichte aber Kontur und zeigt schließlich, was an Begabung in ihm steckt. Eine schöne Geschichte bis zum diesem Zeitpunkt, die mir sehr gefallen hat, besser noch als die erste. Eigentlich die beste von den vieren bislang. Bin gespannt wie sie endet. Ebenso die dritte um Louisa Rey, die einem Atom-Skandal auf die Schliche kommt und jetzt um ihr Leben fürchten muss. Die vierte um Timothy Cavendish endet vorläufig ebenfalls überraschend. Und auch hier bin ich gespannt, wie er sich aus seiner misslichen Lage befreien wird (falls ihm das überhaupt gelingt).
Unterstreicht aber ziemlich gut die fiktive Authentizität einer Erzählung, als eine gelungen Simulation eines Textes aus dem 19. Jahrhundert. So haben die Europäer damals sicher gedacht.Sprachlich fiel mir noch auf, wie rassistisch aus heutiger Sicht Goose und Ewing eigentlich sind, obwohl sie sich selbst für gebildet halten. Ewings unbegründete Angst, dass Autua ihn verspeisen könnte, spricht da Bände. Ebenso, dass er zwar Flüche grundsätzlich zensiert widergibt (v-t, p-n etc.), er jedoch keine Hemmungen hat, abfällige Bezeichnungen der Eingeborenen auszuschreiben.
Das sind ziemlich exakt auch meine Eindrücke gewesen. Normalerweise lese ich eher handlungsbetonte Romane, wo weltbewegende Dinge passieren und Helden in Situationen geraten die ich nie erleben wollte. Solche Actionsituationen zu beschreiben, kann, denke ich, jeder durchschnittliche Schreiberling (soll jetzt nicht komplett abwertend klingen). Aber völlig alltägliche Dinge und Abläufe so interessant und spannend zu beschreiben, dass man nicht darüber einschläft, sondern sich sogar dabei unterhält und freut, das ist schon die höhere Kunst des Schreibens.Der zweite Teil »Briefe aus Zedelghem« hat mich dann wirklich überrascht. Und ich meine damit nicht nur, weil der erste Teil plötzlich vorbei war. Die Geschichte eines mittellosen Alumnus, der auf einem belgischen Schloss zum Assistenten eines alten, blinden Komponisten wird, klingt im ersten Moment eigentlich nicht gerade spannend und wahrscheinlich gibt es hundert Wege, es so zu erzählen, dass der Leser einschlafen würde. Aber Mitchell lässt hier seinen Charakter Frobisher mit so viel Eloquenz und Wortwitz über seine Erlebnisse berichten, dass es wirklich Spaß macht, diese zu lesen. Die Stelle bspw., in der Ayers zum ersten Mal ein Stück »diktiert«, war einfach nur köstlich.
Hat mich ebenfalls ziemlich überrascht, weil ich das aus den Briefen so auch nicht herausgelesen habe. Aber das liegt vielleicht daran, dass Frobisher auch den 2. Teil der Briefe bereits kennt, denn wir erst noch lesen müssen.Die letzte Szene, die ich vorhin gelesen habe, erwähnte dann die Aufzeichnungen Ewings, was ich sehr spannend fand. Einerseits, weil Frobisher einen völlig neuen Blick auf Ewings Behandlung durch Goose warf (dieser Gedanke kam mir gar nicht in den Sinn) und andererseits weil er an der Authenzität des Tagebuchs zweifelte. Das überraschet mich dann doch, weil es völlig meinem persönlichen Eindruck widersprach – auch wenn das natürlich nichts heißen muss...
LG Trurl
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#6
Geschrieben 22 Dezember 2012 - 16:08
Ich bin gespannt, wie sich die Dreiecksbeziehung zwischen Frobisher, Ayers und seiner Frau weiterentwickelt, besonders im Hinblick auf die Rückkehr von Eva. Würde Ayers, der sicher schon eine Ahnung hat, zur Waffe greifen, wenn er garantierte Gewissheit über die Untreue seiner Frau bekäme? Und wenn ja, gegen wen würde er die Waffe richten? Ich vermute, dass seine Zuneigung zu Frobisher stärker ist, als zu Jocasta. Und gerade deren psychische Verfassung am Ende lässt nichts Gutes erwarten...
Ebenso frage ich mich, ob es sich bei der Komposition, an der Frobisher und Ayers arbeiten, um das (im nächsten Part von Luisa Rey wiederentdeckte) »Wolkenatlas-Sextett« handelt, und welche Bedeutung diesem titelgebenden Stück zukommt.
Der dritte Teil »Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall« war locker-flockig geschrieben und endete einem guten (fast buchstäblichen) Cliffhanger. Es ist schon bemerkenswert, wie scheinbar mühelos Mitchell von einem Stil zum nächsten wechselt. Allerdings muss ich auch sagen, dass diese Geschichte zwar spannend ist – was durch die häufigen Perspektivwechsel und den sich daraus ergebenden neuen Sichtweisen in den knappen Kapiteln noch unterstrichen wird –, aber ein ausgewachsener Verschwörungsthriller ist es nicht. Dazu sind die Rollen zu klar verteilt (was nichts schlechtes sein muss, da es Luisa Rey zur sympathischsten der bisherigen Protagonisten macht) und die Antagonisten zu früh bekannt.
Wahrscheinlich war es im Grunde aber gar nicht Mitchells Absicht, dass sich der eigentliche Plot um den Atomkraftwerk-Skandal zu sehr in den Vordergrund drängt. Denn meiner Meinung nach lebt die Geschichte vor allem von den neuerlichen Enthüllungen vergangener Ereignisse, die durch die Figur des Rufus Sixsmith ermöglicht werden. Erneut webt Mitchell ganz geschickt den vorherigen Part ein – was sogar bis zu dem Punkt gebt, dass Luisa nur die neun Briefe erhält, die Sixsmith im Zimmer zurückgelassen hat und die (ich hab extra nachgezählt) genau dem zweiten Teil entsprechen. Es werden darüber hinaus Ereignisse angedeutet, die im zweiten Erzählstrang noch garnicht stattgefunden haben, was zusätzliche Spannung erzeugt. Und zu guter Letzt bringt Luisas Muttermal eine Prise Mystery ins Spiel.
Geht mir genau so. Aber da ich, wie schon erwähnt, nach dem abrupten Ende des ersten Teils den Roman einmal durchgeblättert habe, und seitdem zumindest weiß, dass alle Geschichten fortgesetzt werden (und nicht an diesem Punkt zu Ende erzählt sind), lässt es sich aushalten.Auch hier ist es, wie bei der Geschichte zuvor, wo die investigative Journalistin, Louisa Rey, in einen Wirtschafts-Thriller um Machenschaften der Atomindustrie gerät, so, dass gerade in dem Moment, wo es interessant zu werden beginnt, ein übler Cliffhanger die Geschichte unterbricht. Man ist im ersten Moment versucht weiterzublättern und muss sich echt zwingen wieder bei Null mit der neuen Geschichte weiterzumachen. Zumal man sich auch stilistisch auf ein ganz anders gelagertes Abenteuer einlassen muss. Ich lege dann immer eine Pause ein. Aber Mitchell hat das absolut im Griff und hantiert meisterlich mit den unterschiedlichsten Erzählstilen.
Zweifellos. Man denke da nur an all die Wissenschaftler, die anhand von Schädelvermessungen (und was die Rassenkunde sonst noch so an pseudowissenschaftlichem Humbug bereithielt) auf eine natürliche Überlegenheit des weißen Mannes schlossen.Unterstreicht aber ziemlich gut die fiktive Authentizität einer Erzählung, als eine gelungen Simulation eines Textes aus dem 19. Jahrhundert. So haben die Europäer damals sicher gedacht.
Mich würde ja mal interessieren, wie lange Mitchell an diesem Roman gearbeitet hat. Ganz sicher hat er ihn nicht in einem Monat runtergeschrieben...Das sind ziemlich exakt auch meine Eindrücke gewesen. Normalerweise lese ich eher handlungsbetonte Romane, wo weltbewegende Dinge passieren und Helden in Situationen geraten die ich nie erleben wollte. Solche Actionsituationen zu beschreiben, kann, denke ich, jeder durchschnittliche Schreiberling (soll jetzt nicht komplett abwertend klingen). Aber völlig alltägliche Dinge und Abläufe so interessant und spannend zu beschreiben, dass man nicht darüber einschläft, sondern sich sogar dabei unterhält und freut, das ist schon die höhere Kunst des Schreibens.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#7
Geschrieben 23 Dezember 2012 - 20:07
Mir gefiel »Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish« bisher am besten, dicht gefolgt von dem von dir favoriserten »Briefe aus Zedelghem«.
Für mich machte den Reiz von Cavendishs Erzählung vor allem aus, dass sie – wie du auch schon sagtest – schön schnodderig daherkommt, aber mal ausnahmsweise keinen Mittzwanziger in unserer Gegenwart porträtiert sondern einen nicht auf den Mund gefallenen Senior. Und neben den vielen Bonmots, die Cavendish so von sich gab, war auch ein Satz dabei, der mir so gut gefiel, dass ich ihn gleich zu meiner neuen Signatur gemacht habe.Ich habe lange gerätselt, welches "grausige" Martyrium der schnoddrig wirkende Icherzähler, ein etwas glückloser Verleger, den Geldnöte dazu zwingen unterzutauchen, erleiden muss. Als ich es wusste, musste ich irgendwie dann doch lachen, obwohl es eigentlich nicht so lustig ist. Was wiederum am schnodderigen Erzählton liegt.
Wie Mitchell wieder den Bogen zum vorangegangenen Kapitel spannte, fand ich meisterhaft. Zwar ist »Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall« nur eine kleine Randnotiz im Leben des Verlegers Cavendish, aber wie Mitchell seinen Protagonisten dieses Manuskript (und selbst den Titel) analysieren lässt, ist schon große Kunst. Cavendish erörtert kurz die Schwächen, die ein knapper, auf Spannung ausgerichteter Erzählstil mit sich bringen kann, und nimmt damit indirekt jeder Kritik den Wind aus den Segeln. Oder anders ausgedrückt: Mitchell weiß genau, welche Tücken diese oder jene Erzählform mit sich bringt, kalkuliert die Erwartungshaltung des Lesers mit ein und konfrontiert diesen dann mit der Tatsache, dass ihm das alles schon beim Schreiben bewusst war. Somit wird dann aus einer augenscheinlichen Schwäche ein Stilmittel. G-e-n-i-a-l.
(was natürlich nur funktioniert, wenn es sich um kleine Unzulänglichkeiten handelt – ein richtig schlechter Roman würde nicht dadurch besser werden, dass eine Figur das innerhalb dessen mal erwähnt).
Ach ja, und da ich jetzt im Part »Somnis Oratio« angekommen bin, freue ich mich umso mehr, dass aus einem bisher fantastischen Roman zusätzlich noch ein phantastischer wird.
LG Seti
Bearbeitet von Seti, 23 Dezember 2012 - 20:08.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#8
Geschrieben 31 Dezember 2012 - 12:53
Dieses Kapitel handelt nun in der Zukunft. Ein genaues Datum wird nicht genannt, aber wir befinden uns wahrscheinlich Anfang, Mitte des 22. Jahrhunderts. Und vieles hat sich verändert. Nicht unbedingt zum besseren. Im Gegenteil. Mitchell zeichnet eine ausgewachsene Dystopie. Eine fremdartige, asiatisch dominierte Welt, in der Hand weniger multinationaler Konzerne. In der Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und ähnliche Errungenschaften der europäischen Aufklärung nur noch Fremdworte sind (es wird von einer gescheiterten Demokratie Europa gesprochen und diese Gegend als Deadland bezeichnet, was immer das auch heißen mag) und nun alle Lebensbedürfnisse stattdessen dem totalen Konsum untergeordnet werden. In der geklonte Arbeitssklaven, alle unangenehmeren körperlichen Arbeiten und Dienstleistungen verrichten. Diese, Duplikanten genannten, Menschenklone, sind speziell für bestimmte Tätigkeiten designte ("genormierte") Menschensklaven, mit begrenzter Haltbarkeit. Eine solche Arbeitsklavin ist Sonmi~451, die als Bedienung in einem Fastfood-Schnellrestauraunt arbeitet. Sie ist allerdings etwas Besonderes, denn sie entwickelt im Laufe ihrer kurzen Existenz – anscheinend als Folge eines verbotenen Experiments, das an ihr und einer zweiten Duplikantin heimlich durchgeführt wurde – Intelligenz, einen eigenen Willen und erkennt ihr Dasein als Versklavung. Mitchell knüpft hier an klassische dystopische Romane wie 1984 oder Brave New World an. Stilistisch ist die Geschichte als Verhör aufgebaut. Eigentlich ist es eine Befragung, in der wir die bewegende Lebensgeschichte Sonmi~451s erfahren. Sie beginnt zunächst sehr trostlos, nimmt dann einige unerwartete Wendungen, die sie trotz der deprimierenden Umstände sehr spannend werden lässt, so dass man sie gebannt verfolgt. Es ist eine Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte eines Menschen, der seinen Wert als selbstbestimmtes Individuum entdeckt, in einer Welt, die dem Indivuum keinen Wert mehr zubilligen will und den Menschen am liebsten nur noch funktional als Konsumenten betrachtet möchte. Menschen können dann am leichtesten unterdrückt werden, wenn man sie verdummt und ihnen das Wissen um ihre Unterdrückung nimmt. Ironischerweise ist dann ausgerechnet die als Untermensch angesehene Duplikantin, diejenige, die ihre neuerwobenen geistigen Fähigkeiten dazu nutzt, wie ein trockener Schwamm alles an Bildung und Wissen aufzusaugen, um die Begrenztheit der Welt zu erkennen, in der sie gelebt hat und in der sie nun lebt.
Der Abschnitt endet wieder – man ist es ja inzwischen von Mitchell nicht anders gewohnt – mit einem Cliffhänger.
Sehr witzig war diesmal der Verweis auf den vorhergehenden Erzählabschnitt. An der Universität, wo Sonmi~451 sich zeitweise befindet, sieht sie einen uralten Film (inzwischen ein vergessenes und verbotenes Medium) mit dem Titel »Das grausame Martyrium des Timothy Cavendish«. Dieser Film zeigt Sonmi eine völlig fremdartige Welt in der Hilfsarbeiten nicht von Duplikanten, sondern normalen Menschen verrichtet wurden und alt und hässlich(!) gewordene Menschen in Gefängnisse(!) für Senile und Inkontinente(!) gesperrt wurden, wo sie auf den Tod warteten. Diese Welt wird von ihr als Dystopie erkannt, was im Zusammenhang der Geschichte eine ironische Selbstbezüglichkeit besitzt. Auch das Muttermal in Kometenform taucht wieder auf. Diesmal besitzt es Sonmi. Natürlich kann man jetzt spekulieren, ob dies ein Hinweis auf eventuelle genetische Verwandtschaftsverhältnisse oder etwa Seelenwanderung sein soll. Aber das liegt allein in der Interpretation des Lesers und wird ihm nicht aufgedrängt oder nahegelegt.
@Seti: Ich werde jetzt ein kleine Pause beim Wolkenatlas einlegen, weil ich gerne den Lesezirkel im Januar mitmachen möchte. Der Wolkenatlas bietet sich geradezu an, auch mal kurz zu unterbrechen. Schließlich macht das der Autor mit uns Lesern auch nicht anders. Ab Mitte Januar geht es dann bei mir vermutlich wieder weiter.
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#9
Geschrieben 04 Januar 2013 - 23:04
Ok. Ich bin zwar mittlerweile auf der Zielgeraden (zweiter Teil von »Briefe aus Zedelghem«), habe aber – wie unschwer zu erkennen – seit den Festtagen nichts mehr gepostet. Ich hab mir allerdings einige Notizen gemacht und werd dann, sobald du weiterliest, noch etwas zu den nachfolgenden Kapiteln schreiben. Heute reich ich erstmal meine Gedanken zu »Sonmis Oratio« (erster Teil) und »Sloosha's Crossin'« nach...@Seti: Ich werde jetzt ein kleine Pause beim Wolkenatlas einlegen, weil ich gerne den Lesezirkel im Januar mitmachen möchte. Der Wolkenatlas bietet sich geradezu an, auch mal kurz zu unterbrechen. Schließlich macht das der Autor mit uns Lesern auch nicht anders. Ab Mitte Januar geht es dann bei mir vermutlich wieder weiter.
Deinen Ausführungen zu »Sonmis Oratio« (Teil 1) hab ich eigentlich nichts hinzuzufügen. Sehr schön zusammengefasst. Ich finde bzw. stimme dir zu, dass die Stärke dieser Geschichte vor allem darin liegt, wie die aufgestiegene (oder mit anderen Worten aufgeklärte) Sonmi auf ihre Zeit als Service-Sklavin zurückblickt und man im Fortlauf der Handlung zunehmend den Eindruck gewinnt, dass die Duplikantin die Welt der Konzernokratie besser versteht und durchschaut als der Archivar, der ja selbst ein (kleines) Rad in dieser dystopischen Maschinerie ist. Sie erklärt ihrem Verhörer nicht nur, wie sie zu dem Menschen wurde, der sie ist, sondern auch in was für einer Welt sie beide leben.Dieses Kapitel handelt nun in der Zukunft. Ein genaues Datum wird nicht genannt, aber wir befinden uns wahrscheinlich Anfang, Mitte des 22. Jahrhunderts. Und vieles hat sich verändert. Nicht unbedingt zum besseren.
[...]
Ironischerweise ist dann ausgerechnet die als Untermensch angesehene Duplikantin, diejenige, die ihre neuerwobenen geistigen Fähigkeiten dazu nutzt, wie ein trockener Schwamm alles an Bildung und Wissen aufzusaugen, um die Begrenztheit der Welt zu erkennen, in der sie gelebt hat und in der sie nun lebt.
Im zweiten Teil nach »Somnis Oratio« tritt das dann noch deutlicher zutage und in diesem Punkt bildet Sonmis Geschichte dann einen deutlichen Kontrast zu Orwells 1984, wo Winston Smith ja nie mehr Verständnis von der Welt gewinnt, als sein Verhörer O'Brien besitzt.
Deadlands sind verseuchte, unbewohnbare Zonen. Der Katastrophenschützer-Duplikant Wing~027 erklärt das Somni bei ihrer ersten Begegnung. Leider erfährt man aber nichts über die Umstände, die ganz Europa unbewohnbar gemacht haben, deshalb kann man nur spekulieren, ob ein Krieg vielleicht eine Rolle dabei gespielt hat.(es wird von einer gescheiterten Demokratie Europa gesprochen und diese Gegend als Deadland bezeichnet, was immer das auch heißen mag)
Den sechsten Teil »Sloosha's Crossin'« fand ich ausgesprochen stark. Und das weniger wegen der Geschichte, die mir zwar sehr gefallen hat, aber sich auch nicht so grundlegend von anderen postapokalyptischen Stories unterscheidet, sondern hauptsächlich wegen der mutigen Wahl des Erzählstils (ich vermute, wenn Mitchell seinen Roman mit diesem Teil begonnen hätte, würde er heute noch einen Verleger suchen ).
Der Einstieg fiel mir zwar nicht so leicht, da ich die Rechtschreibung doch für eine sehr angenehme ›Erfindung‹ halte, aber als ich mich erstmal reingefuchst hatte, lernte ich Zacharys Slang zunehmend schätzen, weil er eindrucksvoll den Untergang der Zivlesion untermalt. An dieser Stelle möchte ich übrigens mal ein ausdrückliches Lob an den Übersetzer Volker Oldenburg aussprechen – ich denke zwar nicht, dass es ihn erreicht, aber soviel Können soll nicht unerwähnt bleiben.
Was mir neben der Wortwahl noch gefiel, war Mitchells Idee, Zachary immer wieder von Geistern und spirituellen Erscheinungen berichten zu lassen, die sich entweder als moralischer Kompass oder eine Verführung zum Bösen manifestieren. Nichts verdeutlicht krasser den Niedergang von dem Clever der Alten, als dass Magie und Mystik ein Teil von Zacharys Verständnis der Welt sind. Anders kann er sie nicht mehr erklären und sich in ihr zurechtfinden. Und wenn dann in einem Obsawatum der skelettierte Stronomenkönig zu ihm spricht, weiß man als Leser natürlich, dass er etwas hinzudichtet. Doch er tut das in einer Art und Weise, in der schon vor tausend Jahren Geschichten erzählt wurden, und das wirklich Interessante daran ist, dass ihm diese eigentlich unzivilisierten Fantasiegebilde dabei helfen, nicht in die Barberei zu verfallen (wie es bspw. die Kona tun). Dass er dennoch gegen das zweite Weissag verstößt, ist in Anbetracht der Situation nachvollziehbar und von Mitchell ungeschönt und konsequent umgesetzt.
So bleibt am Ende der Geschichte, dass ich mir vielleicht etwas mehr Auflösung gewünscht hätte (was aus seiner Familie und den Prescients wurde). Allerdings wäre das wohl nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit möglich gewesen, denn wie hätte Zachary herausfinden sollen, was mit ihnen geschehen ist, ohne dass es konstruiert gewirkt hätte...
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#10
Geschrieben 04 Januar 2013 - 23:57
Also fast schon fertig. Ich mache jetzt beim Wolkenatlas wieder weiter, weil ich den Dath ("Pulsarnacht") überraschenderweise ratzfatz durch hatte. Schöne Space Opera übrigens. Beim "Wolkenatlas" war ich übrigens schon vorher etwas in Verzug, da musste ich parallel noch einen Banks fertiglesen, den ich bereits vor zwei Jahren begonnen hatte. Also wahrscheinlich gibts von mir Sonntag wieder ein paar Bemerkungen zu lesen.Ok. Ich bin zwar mittlerweile auf der Zielgeraden (zweiter Teil von »Briefe aus Zedelghem«), ...
(...)
Ich habe in den sechsten Teil schon mal kurz hinein geschaut und bin ehrlich gesagt gottfroh, dies in deutsch lesen zu dürfen. Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Pidgin-Englisch im Orginal für mich unlesbar wäre. So geht es einigermassen. Nicht ganz so schlimm wie bei Banks "Förchtbar Maschien" ("Feersum Engine").
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#11
Geschrieben 08 Januar 2013 - 00:35
Fand ich auch und es war in meinen Augen auch der deprimierendste von allen, weil er den totalen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation schildert, die ultimative menschliche Katastrophe schlechthin. Wie tief die Menschheit hier bereits gesunken ist, macht Mitchell auch sprachlich deutlich, indem er seinen Erzähler Zachry in einfachster Sprache und Syntax seine Lebensgeschichte erzählen lässt.Den sechsten Teil »Sloosha's Crossin'« fand ich ausgesprochen stark.
(...)
Ein wenig Hoffnung hatte ich ja zuerst noch, dass der Untergang vielleicht doch nicht allumfassend sei, als mit den Prescients eine Menschengruppe beschrieben wurde, die offenbar noch über Reste der früheren Technik und Wissenschaft besaßen, was sich dann leider auch als vergebliche Hoffnung herausstellte.
Mitchell beschönigt hier auch nichts und es fehlt völlig der in vielen, neuerdings so populären, postapokalyptischen Szenarien beschworene Endzeit-Chick, der so tut als wäre der Untergang gar nicht so schlimm und man könne, wenn man sich nur wieder auf die menschlichen Grundwerte besinnt, ganz einfach weitermachen und ein idylisches Ökoleben führen.So bleibt am Ende der Geschichte, dass ich mir vielleicht etwas mehr Auflösung gewünscht hätte (was aus seiner Familie und den Prescients wurde). Allerdings wäre das wohl nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit möglich gewesen, denn wie hätte Zachary herausfinden sollen, was mit ihnen geschehen ist, ohne dass es konstruiert gewirkt hätte...
Und es fehlt auch völlig eine auch nur ansatzweise optimistische Perspektive. Denn Zachrys Erzählung endet damit, dass neben den, zwar auf einfachstem Niveau aber friedlich lebenden, Talleuten, die den kriegerischen Kona zum Opfer fallen und versklavt werden (hier wiederholt sich das Schicksal der Moriori), auch die Prescients, als die letzte Gruppe von Menschen, die noch über technisches Wissen verfügten, und einen zivilisatorischen Neuanfang leisten könnten, an einer unheilbaren Seuche zugrundegehen. Die weitere Zukunft der Menschheit bleibt also völlig ungewiß.
LG Trurl
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
- • (Buch) gerade am lesen:Jeff VanderMeer - Autorität
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#12
Geschrieben 09 Januar 2013 - 19:26
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#13
Geschrieben 11 Januar 2013 - 00:41
Wobei mir in diesem Punkt sehr gefiel, zu welch tiefgründigen Erkenntnissen Zachry dennoch oftmals kommt. Obwohl sein Bildungsniveau gering ist (was in Anbetracht der Situation nicht verwundern kann), so haben ihn doch die harschen Umstände seines Lebens einige weise Dinge gelehrt.Wie tief die Menschheit hier bereits gesunken ist, macht Mitchell auch sprachlich deutlich, indem er seinen Erzähler Zachry in einfachster Sprache und Syntax seine Lebensgeschichte erzählen lässt.
Ging mir ähnlich. Ich dachte zwischendrin, dass Zachry am Ende mit Meronym auf die Insel der Prescients flieht, und somit die Möglichkeit offengehalten wird, dass die Menschheit noch nicht völlig am Abgrund steht – ähnlich dem Ende von The Book of Eli, wo sich Alcatraz als verbliebener Hort der Zivilisation herausstellt.Ein wenig Hoffnung hatte ich ja zuerst noch, dass der Untergang vielleicht doch nicht allumfassend sei, als mit den Prescients eine Menschengruppe beschrieben wurde, die offenbar noch über Reste der früheren Technik und Wissenschaft besaßen, was sich dann leider auch als vergebliche Hoffnung herausstellte.
Stimmt, Mitchells Ende ist ausgesprochen pessimistisch, was die Rückkehr auf einen präapokalyptischen Wissensstand angeht. So bleibt letztendlich nur die Erkenntnis, dass Zachry überlebt und seine Geschichte an seine Kinder weitergibt. Eventuell ist es auf Maui auch etwas sicherer, denn es werden zwar Konapiraten erwähnt, doch das legt nahe, dass es auf der Insel selbst keine Barbarenstämme gibt. Somit exisitiert eine kleine, halbwegs zivilisierte Gemeinde, aber eine Zukunft der Menschheit als Gesellschaft scheint wohl eher ausgeschlossen.Und es fehlt auch völlig eine auch nur ansatzweise optimistische Perspektive. Denn Zachrys Erzählung endet damit, dass neben den, zwar auf einfachstem Niveau aber friedlich lebenden, Talleuten, die den kriegerischen Kona zum Opfer fallen und versklavt werden (hier wiederholt sich das Schicksal der Moriori), auch die Prescients, als die letzte Gruppe von Menschen, die noch über technisches Wissen verfügten, und einen zivilisatorischen Neuanfang leisten könnten, an einer unheilbaren Seuche zugrundegehen. Die weitere Zukunft der Menschheit bleibt also völlig ungewiß.
Das Traurige im Hin- bzw. Rückblick auf Zachrys Geschichte ist leider, dass ihr Name ›nur‹ in Form einer Religion überdauert. Aber ihre Geschichte wird wahrscheinlich wie so vieles verlorengehen, da niemand mehr ihre Aufzeichnungen versteht und Zachrys das, was er von Meronym erfuhr, nur mündlich weitergeben kann. Ihr Opfer war zwar nicht völlig sinnlos, denn bis zum Zusammenbruch der Zivilisation muss ihr Name ja ein Sinnbild des Widerstands gegen die Konzernokratie gewesen sein (die Stelle, als sie dem Archivar Seneca zitierte, fand ich übrigens großartig: »Ganz gleich, wie viele du von uns tötest, dein Nachfolger wird nicht darunter sein«), aber schlussendlich kann man nur darüber spekulieren, ob sich nach ihrem Tod wirklich etwas in Nea So Copros geändert hat.Eine besondere Perfidie hat sich Mitchell für seine Protagonistin bis zuletzt aufgehoben. Bewundernswert ist allerdings Sonmi~451s Haltung bis zum Schluss. Obwohl von Anfang an nur Spielball in einem abgekarteten Machtspiel, nimmt ihr Schicksal aufrecht und gefasst entgegen, wird damit in dieser hoffnungslosen Zukunft zu einer Märtyrerin und Sinnbild im Kampf um individuelle Freiheit und Selbstbestimmung.
Hier könnte man vielleicht auch Kritik üben. Denn obwohl die Art und Weise, wie die Protagonisten von dem/n Leben des/der Vorangegangenen erfahren, stimmig ist, und durch die Form der ›Wissensübertragung‹ Lücken logisch nachvollziehbar sind, hätte ich mir doch manchmal mehr Klarheit bzw. Auflösung gewünscht, gerade bei den tragischen Geschichten. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob das eher an Mitchells strukturellem Aufbau des Romans oder meiner Erwartungshaltung liegt. Wären mir manche der Charaktere nicht so ans Herz gewachsen, hätte ich das Problem nicht, so viel ist klar – vielleicht wollte Mitchell es ja auch dem Leser überlassen, eigene Antworten auf unbeantwortete Fragen zu finden...
Volle Zustimmung. Ich hatte ja nach dem ersten Teil von Cavendishs Erzählung schon gesagt, dass seine Geschichte mir am besten gefiel, und daran änderte sich auch im zweiten Teil nichts. Die Ausarbeitung und Durchführung des Fluchtplans war mit so einigen komischen Momenten gespickt (z.B. als sich Cavendish als Arzt ausgibt oder Meeks plötzlich im Auto sitzt) und rutschte dennoch nie ins Alberne oder gar Belanglose, da der Grund für die Flucht der »modernen Aussätzigen« ein durchaus ernster ist. Und ich war wirklich froh, dass Mitchell wenigstens seinem ältesten Protagonisten das verdiente Happyend gönnt, denn – wie du auch schon sagtest – nach den beiden vorhergehenden Teilen wäre es auch vorstellbar gewesen, dass alle Geschichten in einer Katastrophe (im Sinne der dramaturgischen Definition) enden. Zum Glück ist das nicht der Fall.Was für eine Wohltat das Ende der Abenteuer Timothy Cavendishs zu lesen. Nachdem die beiden vorhergehenden Geschichten maximal deprimierend geendet hatten, hatte ich auch bei Timothy Cavendish die Befürchtung, er würde seinem vorbestimmten Schicksal in dem Horror-Altersheim nicht mehr entkommen. Aber da Cavendish die Geschichte aus seinen Erinnerungen schreibt, gab es ja noch die berechtigte Hoffnung, dass vielleicht alles gut ausgehen möge. Mir hat diese Erzählung sehr gut gefallen. Gerade als Kontrastprogramm zu den drei vorhergehenden Geschichten, die in dystopischen und postapokalyptischen Zukünften spielten. Wie Mitchell die Flucht der eigenwilligen und agilen Rentnertruppe um Cavendish aus dem Hochsicherheitsgefängnis Altersheim schildert, das hatte Klasse.
Ohne zuviel verraten zu wollen, aber diesen Gedanken solltest du im Hinterkopf behalten, wenn du die letzten Seiten von Ewings Tagebuch liest. Denn mit dem, was Ewing da sagt, spannt Mitchell sozusagen rückwirkend den Bogen zu allen vorangegangenen (bzw. chronologisch nachfolgenden) ErzählungenSo langsam schält sich auch ein Gemeinsamkeit heraus, die allen Geschichten gemein ist: Machtmissbrauch. Diejenigen, die die Macht inne haben, werden diese immer missbrauchen und sie dazu einsetzen, ihre Mitmenschen zu unterdrücken, vorzugsweise die Schwächeren. Und sie werden versuchen, den Unterdrückten weiszumachen, dass der Zustand der Tyrannei der Normalzustand sei, mit dem sie sich abzufinden haben.
Bearbeitet von Seti, 11 Januar 2013 - 00:45.
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
#14
Geschrieben 12 Januar 2013 - 11:52
Eine weitere Schlüsselstelle habe ich in «Halbwertszeiten» entdeckt. Dort entwickelt der Physiker und Assistent Rufus Sixsmiths Isaac Sachs ein Zeitmodell der Geschichte, das er als Aufeinanderfolge von ineinander geschachtelten Augenblicken von Gegenwart deutet. Gegenwarten, die von anderen Gegenwarten umschlossen sind, wie eine unendliche Matrjoschka Puppe, was wiederum genau dem Strukturmodell des Romans entspricht. Dann unterscheidet er noch zwischen realer und virtueller Vergangenheit, wobei die virtuelle diejenige ist, die aus den bearbeiteten Erinnerungen, den Zeitungsberichten, Gerüchten und erfunden Geschichten aus der Gegenwart bzw. der realen Vergangenheit entsteht, sobald die tatsächlichen Ereignisse immer mehr in Vergessenheit geraten. Nach und nach wird die reale Vergangenheit durch Mythen ersetzt, und verschwindet. Die Gegenwart macht sich diese virtuelle Vergangenheit zunutze um ihre Machtansprüche zu legitimieren, nach dem Motto, dass die Sieger die Geschichte schreiben. Ebenso gibt es eine virtuelle Zukunft, die aus den Wünschen, Prophezeiungen und Tagträumen entstehen und die die reale Zukunft wie eine selbsterfüllende Prophezeihung formt und beeinflusst.
Man könnte nun, so wie der Roman aufgebaut ist und gemäß den in dem Roman vertretenen Theorien, dem Wolkenatlas ein deterministisches Geschichtsbild vom Aufstieg und Untergang der Kultur(en) unterstellen. Eine Geschichtsauffassung, nach der die Menschheit einem, ihrem Wesen entsprechenden, vorherbestimmten Schicksal unterworfen ist. Andererseits weisen gerade die abschließenden Gedanken in Adam Ewings Tagebuch einen anderen Ausweg. Diese Gedanken wenden sich direkt an uns, den Leser, indem sie uns auffordern, das vorbestimmte Schicksal nicht zu akzeptieren, sich dem Kreislauf der Geschichte, der in Machstreben, Gier, Eigennutz und Gewalt besteht, zu widersetzen, weil es eben gerade an den gemäßigten Kräften liegt, ein Gegengewicht zu bilden. Denn wenn die Menschheit nur fest daran glaubt, dass Macht verantwortet, die Ressourcen der Erde gerecht verteilt und Gewalt geächtet werden muss, werden aus diesem Glauben Taten erwachsen, die eben diese Ziele auch verwirklichen. Wobei klar sein muss, dass dieser Weg beschwerlich ist und jederzeit scheitern kann.
Obwohl der Roman einen pessimistischen Ausblick in die ferne Zukunft der Menschheit zeigt, muss diese Zukunft nicht unsere sein, denn es sind die Entscheidungen, die wir heute treffen, die zu einer anderen Zukunft führen kann. Eine Zukunft, welche diesen Irrweg nicht beschreitet und der nicht zur geschilderten Dystopie einer Konzernokratie und zum Untergang der Menschheit führt. Soweit meine Interpretation des Buches.
In der Verfilmung, so entnehme ich das den Trailern, die ich mir angeschaut habe, wird der Aspekt der Reinkarnation besonders hervorgehoben und der Roman vorzugsweise unter diesem Gesichtspunkt interpretiert. «Alles ist verbunden», das ist der zentrale Satz, der in den Trailern immer wieder fällt. Außerdem habe ich Dialogzeilen gehört, die im Buch überhaupt nicht auftauchen. Mein Eindruck ist deshalb, dass die Verfilmung den Roman sehr frei auslegt und sie, so wie das einigen hier im Forum bereits aufgefallen ist, eine esoterisch angehauchte Interpretation von Sterben und Widergeburt bevorzugt. Eine Sichtweise, die man dem Roman nur mit viel Phantasie unterstellen kann. Ich würde nämlich behaupten, dass der Reinkarnationsgedanke überhaupt kein zentrales Motiv des Romans ist.
Edit: Nachtrag
Überflüssig zu betonen, dass ich diese Buch absolut überragend und lesenswert halte und es neben Ian MacDonalds Cyberabad, das Buch war, das mich in 2012 am nachhaltigsten beeindruckt hat. Ja eigentlich deutlich mehr noch als Cyberabad.
Welcher Gattung gehört der Wolkenatlas nun an? Ist das Science Fiction oder Phantastische Literatur. Ich scheue mich ein wenig es dem einen oder anderen Genre zuzuweisen, da die phantastischen Elemente des Romans im Grunde den eigentlichen Charakter des Romans nicht widerspiegeln und lediglich Mittel zum Zweck sind, der Struktur des Romans untergeordnet sind und dazu da, die zentralen Thesen des Romans zu verdeutlichen und ich würde es deshalb einfach als großartige Mainstream-Literatur bezeichnen. Jeder der Spaß an virtuos ausgedachten Erzählungen hat, der sich daran erfreuen kann, wenn die Struktur des Romans die Thesen, die dort entwickelt werden, kunstvoll widerspiegeln, sollte, ja muss diesen Roman lesen. Vor allem auch deshalb, weil Mitchell ein ganz großartiger klassischer Geschichtenerzähler ist, der selbst scheinbar banalen Geschichten Spannung einhauchen kann. Ich werde auf jeden Fall den Autor weiterverfolgen und mir weitere seiner Romane besorgen. Eines steht bereits in meinem Regal: Die tausend Herbste des Jakob de Zoet ein historischer Roman aus dem Japan der Edo-Zeit, in der sich Japan während des Tokugawa-Shogunats vom Rest der Welt abschottete und es nur einige wenige europäische Handelsstationen in Japan gab. Bin schon gespannt.
LG Trurl
Bearbeitet von Trurl, 12 Januar 2013 - 12:33.
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
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#15
Geschrieben 15 Januar 2013 - 21:57
deinem Abschlussfazit ist von meiner Seite nichts hinzuzufügen – du hast eigentlich alle Dinge, die mir am Ende von »Der Wolkenatlas« durch den Kopf gingen, wunderbar auf den Punkt gebracht.
Ich hab mir letztens auch nochmal den fünfminütigen Trailer angeschaut und hatte ähnliche Gedanken. Zwar könnte man die Tatsache, dass alle Schauspieler mehrere Rollen spielen, als Kunstgriff interpretieren (um bspw. den Cast überschaubar zu halten), aber dennoch merkt man dem Trailer an, dass der Film die Geschichten eher auf einer emotionalen Ebene statt auf einer gesellschaftlichen verwebt. Bspw. scheinen Sonmi~451 und Hae-Joo Im eine richtige Liebesbeziehung zu haben, die im Roman doch eher ein leidenschaftsloser One-Night-Stand ist, an anderer Stelle liegt sich Timothy Cavendish mit seiner Jugendliebe in dem Armen, was im Roman nicht vorkommt etc.In der Verfilmung, so entnehme ich das den Trailern, die ich mir angeschaut habe, wird der Aspekt der Reinkarnation besonders hervorgehoben und der Roman vorzugsweise unter diesem Gesichtspunkt interpretiert. «Alles ist verbunden», das ist der zentrale Satz, der in den Trailern immer wieder fällt. Außerdem habe ich Dialogzeilen gehört, die im Buch überhaupt nicht auftauchen. Mein Eindruck ist deshalb, dass die Verfilmung den Roman sehr frei auslegt und sie, so wie das einigen hier im Forum bereits aufgefallen ist, eine esoterisch angehauchte Interpretation von Sterben und Widergeburt bevorzugt. Eine Sichtweise, die man dem Roman nur mit viel Phantasie unterstellen kann. Ich würde nämlich behaupten, dass der Reinkarnationsgedanke überhaupt kein zentrales Motiv des Romans ist.
Das muss per se nichts Schlechtes sein, und bevor ich den Film nicht gesehen habe, würde ich mir dahingehend auch kein Urteil erlauben, doch man erkennt sofort, dass die Ausrichtung eine andere ist.
Im Roman sind die Andeutungen in Richtung Reinkarnation am prägnantesten in Luisa Reys »Halbwertszeiten«, insbesondere im zweiten Teil. Dort hat Luisa zwei oder drei Déjà-vus, die sie als Erinnerungen an früherere Leben beschreibt. Darüber hinaus gibt es eine sehr seltsame Szene, in der sie (noch im ersten Teil) in der Hotellobby auf Janice aus Utah trifft, die ihr die Geschichte vom Geist ihrer verstorbenen Mutter erzählt (S. 153).
Interessanterweise ist es jedoch der ›fiktionalisierteste‹ Teil des Romans, da es sich als das Manuskript eines Autoren herausstellt, was wiederum den bodenständigen Cavendish veranlasst zu sagen, dass dieser »Blumenkinder-LSD-Trip-New-Age-Quark« unbedingt aus dem fertigen Buch rausgestrichen werden muss.
Demgegenüber behandelt »Briefe aus Zedelghem« mindestens zweimal das Thema Jamais-vu – Ayers träumt von Sonmis Restaurant (beim Lesen ist mir das gar nicht aufgefallen, aber es kommt auch im Filmtrailer vor) und Frobisher hat, als er vorm schlafenden Ayers steht, eine Vorausahnung an Zachry und den schlafenden Kona. Beides kann man durchaus als Bestätigung von Isaac Sachs' These der überlagernden Gegenwarten interpretieren.
Letztendlich sind Andeutungen und Gedanken zu den Themen Karma und Reinkarnation zwar in allen Geschichten vorhanden, aber sie nehmen selten mehr als eine paar Sätze ein. Mitchell verzichtet dabei auf eine klare Stellungnahme und gibt unterschiedliche, teils widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten, je nachdem, welche seiner Figuren sich damit befasst. Somit bleibt es dem Leser überlassen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Der Film scheint sich eher auf eine Interpretation festgelegt zu haben.
Geht mir genau so. »Die tausend Herbste des Jakob de Zoet« möchte ich dieses Jahr definitiv auch noch lesen.Ich werde auf jeden Fall den Autor weiterverfolgen und mir weitere seiner Romane besorgen. Eines steht bereits in meinem Regal: Die tausend Herbste des Jakob de Zoet ein historischer Roman aus dem Japan der Edo-Zeit, in der sich Japan während des Tokugawa-Shogunats vom Rest der Welt abschottete und es nur einige wenige europäische Handelsstationen in Japan gab. Bin schon gespannt.
LG Seti
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
Auch mit einem oder mehreren dieser Stichwörter versehen: Lesezirkel, David Mitchell, Der Wolkenatlas
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