https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=print schrieb
Ihre im Weltmaßstab privilegierte Position verdanken die deutschen Bürger zu einem Teil sich selbst, indem sie in großer Mehrheit Steuern zahlen, nicht schwarzarbeiten, Beamte nicht bestechen, als Beamte nicht die Hand aufhalten, sich generell an Regeln, wie die Verkehrsregeln, halten, keine Fehden zwischen Religions- und Volksgruppen austragen, keine bewaffneten Aufstände beginnen (auch dann nicht, wenn Regierungen Entscheidungen treffen, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt), gewissenhaft ihrer Arbeit nachgehen, ihre Kinder in die Schule schicken und dergleichen.
Zum größeren Teil verdanken die Bürger Deutschlands aber ihre guten Lebensbedingungen neben historischen Zufällen natürlich Taten aus vergangener Zeit: solchen der Arbeiterbewegung, gesellschaftlich engagierter Ärzte, Aufklärer und Sozialreformer, guten Entscheidungen von Politikern und des demokratischen Souveräns.
Ein Beispiel ist die Entscheidung, die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung staatlich (kommunal) zu organisieren, um Cholera und Typhus loszuwerden. Was passiert, wenn der Staat im Sanitärwesen schlampt und auf privatwirtschaftliche Initiative wartet, hat die letzte Choleraepidemie in Hamburg[13] gezeigt und zeigt Indien bis heute. Wohlgemerkt ist Indien nicht ärmer, als die meisten Städte Deutschlands es waren, als hier die Wasserinfrastruktur gebaut wurde.
Ein weiteres wichtiges Beispiel für eine gute Entscheidung in der Vergangenheit ist die, kostenlose Schulen und eine allgemeine Schulpflicht einzuführen sowie die staatlichen Schulen mit gut bezahlten Akademikern als Lehrer zu bestücken statt mit Personen, die selbst nur knapp lesen können und gute Noten gegen Hilfe auf dem Feld vergeben. Oder die Entscheidung, gesetzliche Renten bzw. Beamtenpensionen einzuführen und für Menschen, die sich nicht selbst ernähren können, eine Grundsicherung, was einen davon enthebt, für Bestechungsgelder die Hand aufzuhalten oder acht Kinder zu bekommen, um in Krankheit oder Not die Versorgung zu sichern. Und so weiter, und so weiter.
Dieser Staat samt Infrastruktur und Institutionen ist ererbtes und gepflegtes Gemeinschaftseigentum. Deutsche Bürger haben ein viel kleineres mittleres Vermögen als Bürger in südlichen EU-Staaten ohne Grundsicherung wie Italien, Spanien oder Griechenland, auch deshalb, weil sie über Generationen mehr in Gemeinschaftseigentum investiert und sich auf die Gemeinschaft statt auf Familie und Vitamin B verlassen haben und verlassen konnten.
Die privatwirtschaftlich-industrielle Wohlstandsmehrung basiert mit auf Nutzung des Gemeinschaftseigentums, beispielsweise Chemiker- und Ingenieursausbildungen an staatlichen Schulen und Universitäten, Verkehrsinfrastruktur, die Sicherheit der Wirtschaft vor der Mafia oder Räuberbanden und teils auch direkter staatlicher Unterstützung der Großindustrie.
Die guten Lebensbedingungen in Deutschland sind also größtenteils ererbt. Sie werden aber nur durch dauernde aktive Beteiligung der jetzigen Bevölkerung und Eliten aufrechterhalten. Oder eben nicht, wie beispielsweise die "Reform" des Rentensystems durch die Schröder-Regierung zeigt, ebenso der Verkauf der Post an Private, während der Staat die Altlasten behielt[14], oder der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau, die alle das Gemeinschaftseigentum schwächten.
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Ist das ererbte Privatvermögen einmal groß genug, braucht es gar keine Leistung mehr, lediglich eine nicht krass inkompetente Verwaltung mit einem Zeitaufwand von wenigen Stunden im Monat, um auf Dauer erhalten zu bleiben. Zudem ist es naiv zu glauben, dass "selbst erwirtschaftete" große Vermögen, wie jenes von Bill Gates, das Einkommen von Spitzenmanagern oder von Investmentbankern in einem ethisch und sachlich vertretbaren Verhältnis zur Leistung stünden.
In allen genannten Fällen beruht die Geldschwemme auf Formen von Marktversagen. Spitzenmanager sind mächtig und vernetzt genug, ihre Gehälter weitgehend selbst zu bestimmen. Investmentbanker und -firmen nutzen die Privilegien der Banklizenz oder strukturell bevorteilte Plätze in einem Spielcasino (z.B. die Möglichkeit zum sekundengenauen Verkauf riesiger Aktien- oder Devisenmengen zwecks Ausnutzen winzigster Kursschwankungen oder Marktmacht bzw. Absprachen zum Beeinflussen von Preisen bei Wetten).
Bill Gates hat einst mit dem Erwerb von Patersons DOS-System und seinen Kontakten zu IBM den Hauptgewinn in einem globalen Markt gezogen, in dem es nur wenige Gewinner geben konnte. Der Markt für PC-Betriebssysteme (wie auch für Internet-Handelsplattformen, Suchmaschinen oder Soziale Netzwerke) hat es an sich, dass die Kunden nicht Vielfalt wünschen, sondern nutzen wollen, was schon alle anderen haben.
Zu sagen, hochentwickelte, dicht besiedelte Staaten mit viel Gemeinschaftseigentum müssten jeden willigen Einwanderer als Bürger aufnehmen, ist so, wie zu fordern, Susanne Klatten, der Hochadel, Eigenheim-Erbauer und überhaupt jeder mit Besitz müssten jeden, der das beantragt, adoptieren, mit allen Rechten auf das Vermögen. Auch da wird utilitaristisch der Nutzen über mehr Personen verteilt. Auch da wären unter den Bewerbern um die Adoption sicher Leute, die leistungsfähiger oder leistungswilliger sind als die leiblichen Kinder der Besitzenden und die mit dem Besitz Produktiveres anfangen würden. Wer das eine bejaht, kann das andere nicht verneinen.
Der Trick libertärer wie auch linker Argumente für freie Einwanderung liegt natürlich darin, dass die Existenz eines funktionierenden Staatswesens und daraus erwachsender Vorteile als Eigentum einfach ignoriert wird. Sie ist aber nicht zu ignorieren, weil vorhanden.
Die potenziellen Einwanderer wissen dies am besten. Einwanderer kommen heute bevorzugt gerade in jene Staaten, die über großes Gemeinschaftseigentum ("gute Institutionen", Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge, Altersversorgung, Arbeitsschutz u.v.a.m.) verfügen. Dies lässt sich an den Wanderungsbewegungen innerhalb der erweiterten EU wie auch an den primären Zielländern von Asylsuchenden ablesen.
Wenn Einwanderer sich in Staaten wie Deutschland, Niederlande, Großbritannien, der Schweiz oder Schweden niederlassen wollen, dann geht das alle an, die dort am Gemeinschaftseigentum Anteil haben. Ganz besonders aber die unmittelbaren Einwanderungsverlierer, die anders als von Mehmet UÄŸur vorgeschlagen (siehe Teil 1) bisher nicht entschädigt wurden und werden.
Fazit: Gemeinschaftseigentum ist erstens vorhanden, zweitens für die Teilhaber eminent wichtig und drittens vererbbar.
Warum vererbbar?
[*]Die Bereitschaft zum Beitragen zur Gemeinschaft basiert auf deren Verlässlichkeit in der Zukunft: Jeder Steuer- und Abgabenzahler geht davon aus, dass er sich zu Lebzeiten, aber darüber hinaus auf die Gemeinschaft verlassen kann und dass auch seine Kinder und Kindeskinder, gute Freunde und der kranke Cousin staatlich abgesichert sind und von Segnungen wie kommunaler Abwasserentsorgung und hochwertigen kostenlosen Schulen etc. profitieren. Sonst würde die Zahlungsmoral bei Steuern und Sozialabgaben rapide sinken, schwarz gearbeitet, privat gespart und Korruption und Klientelwirtschaft nähmen zu. Verlässlichkeit und Vererbbarkeit sind Bedingungen dafür, dass Gemeinschaftseigentum entsteht und erhalten wird.
[*]Gemeinschaftseigentum ist immer aus Leistungen einzelner oder aus Privateigentum entstanden. Es ist daher moralisch und logisch nicht zu rechtfertigen, ihm weniger Schutz (oder Vererbbarkeit) zuzugestehen als dem Privateigentum.
[/list]In allen gut funktionierenden Staaten ist natürlich das Privateigentum eben nicht vollständig vor dem Zugriff anderer geschützt. Es gibt Regeln darüber, was und wie viel abgegeben werden muss, um Gemeinschaftsanliegen zu finanzieren. Abgeben für die Gemeinschaft liegt dabei auch im Eigeninteresse der Geber. Denn alle, auch die Wohlhabenden, profitieren vom Gemeinschaftseigentum.
Obwohl oft geleugnet, gilt das sogar für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Eine gut auskömmliche Grundsicherung für Bedürftige hält den Staat stabil und schützt ihn vor Revolten, senkt die Eigentumskriminalität, beugt der Verbreitung von Seuchen wie Tuberkulose vor und lässt auch die Mittelschicht ruhiger schlafen, da man weiß, dass man in unerwarteten Notsituationen versorgt wäre.