
Leseliste 2025 - das 1. Quartal

Mein Leselistenquartalsbericht.
Ist ja nicht so viel, nicht wahr? Woran das liegt? Na ja, lese derzeit viel an, um es dann doch wegzulegen. Dazu kamen ein paar Sorgen (ach, fragt nicht). Aber keine Bange, eine allgemeine Lese-Unlust hat mich keineswegs erfasst. Eher im Gegenteil: Ich lechze nach neuen und wichtigen Eindrücken, nach relevanten Lektüreerfahrungen. Und kann mich dann mitunter nicht entscheiden, wie und was … Auf jeden Fall gehe ich – als spätes Vornehm-Vorhaben für das Jahr – meinen SUB an.
Damit der Eintrag hier noch etwas Mehrwert bekommt: als Bild und Eyecatcher darf ich mal das Cover des kommenden Buches präsentiere, dass nicht ganz unmaßgeblich von mir mitgestaltet wurde. Geschrieben hat es Petra Hartmann (siehe ihren Blog hier im Netzwerk – link). Dazu wird demnächst dann sicher noch mal was zu sagen sein.
Derzeit tobt die Leipziger Buchmesse. Am Donnerstag, 27.3.25, war ich vor Ort; habe u.a. Petra getroffen. Aber auch beim Stand von Kul-ja! publishing den 3. Band von Julia Kuletwatz‘ DISFUNCTIONAL WOMAN-Trilogie abgeholt. Mit persönlichem Treffen – das schon vor genau einem Jahr stattfinden sollte. Ja, manche Dinge brauchen etwas …
Ansonsten habe ich mir vor Ort die Präsentation mit Autorin des Buches „Nerd Girl Magic“ angeschaut. Auch wenn es hier mehr um Anime- und Manga-Fandom geht, und die Autorin als Nerd, oder Geek, wie sie sich selbst sieht, steckte mich ihre Begeisterung für die eskapistischen Welten an.
"Nerd Girl" Simoné Goldschmidt-Lechner
Außerdem habe ich noch Bettina Wurches Vortrag zu ihrem neuen Buch über Jules Verne gelauscht. Dann noch dies und das und schon war der erweiterte Vormittag in Leipzig rum. Abends gab es noch was Politisches im Literaturhaus Halle (Denn: Halle liest mit, bekanntlich)
SF-Erfinder Jules Verne und Bettina Wurche (links im Bild)
So, jetzt meine Lektüre:
(Unter Weglassung von 2 Kurz-Rezi, wobei zu der einen verlinkt wird)
Jens Bisky: „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“
Das Buch zur rechten Zeit (ein Wortspiel?). Was der Autor bei der Lesung am 23.Oktober 2024 in Leipzig (Bibliotheca Albertina, im Rahmen des Leipziger Literarischen Herbst) gleich betonte, sei es zwar legitim die Situation von heute mit der vom Ende der Weimarer Republik zu vergleichen, aber eben nicht gleichzusetzen. Der entscheidende Unterschied? Sei aus seiner Sicht die Rolle der Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Na ja, mag sein, da bleibt uns jetzt aktuell viel erspart; in der Weimarer Republik gab es sehr viel mehr politisch motivierte Morde, bürgerkriegsähnliche Zustände usw. Also noch mal Glück gehabt? Wird sich zeigen…
Ich gebe aber zu, dass mich diese Frage, also ob wir heute in so etwas wie „Weimarer Zuständen“ leben, durchaus dazu bewegte, mir die Veranstaltung anzuschauen und dann auch das Buch zu lesen.
Bisky hat in dem, was er am 23.10.24 erzählte, mir viel Geschmack auf das Buch gemacht. Mir gefiel der Überblickcharakter, der einschätzende Blick auf die Gesamtsituation, die er auch rhetorisch großartig rüberbrachte. Dabei legte er sein Augenmerk durchaus auch auf konkrete Personen, auch auf solche, die sozusagen zwischen allen Stühlen saßen, und die mich ohnehin seit geraumer Zeit, wie ich oft hier in meiner Leseliste betonte, interessieren. Insofern war das auch gleich wieder eine Anregung, woanders weiterzulesen.
Aber das Buch selbst? Na ja, es ist ziemlich umfangreich und daher sollte es dann doch nicht verwundern, dass es dann doch wieder ziemlich ins Detail geht. Es sprüht vor Fakten und geschilderten Situationen, Zusammenhängen etc. Das hielt für meinen Geschmack nicht das, was der Autor in dem Gespräch „versprach“ (was ich mir davon versprochen hatte).
Superinteressant war es dennoch! Der Autor zeigt auch, das 1933 eben nicht – zumindest in der Wahrnehmung der Zeitgenossen damals – die Zäsur darstellte, die uns so aus historischer Sicht erscheint. Die Machtergreifung der Nazis war ein Prozess. Und es ist durchaus sehr interessant, wie all die vielen politischen Akteure und Kräfte sich positionierten und agierten. Das stellt das Buch m.M.n. hervorragend dar. 8 / 10 Punkte
Nils Wiesner: „Axis Mundi. 1. Buch: Die geschiedene Welt“
Gérard de Nerval: „Aurelia oder Der Traum und das Leben“
dtv bibliothek kubin, mit 57 Zeichnungen von Alfred Kubin
Ein Buch zur rechten Zeit für mich. Nachdem ich in meinem Franz Fühmann gewidmeten STERNENSPLITTER so nebenbei auch über den Traum als Parallel-Leben orakelte, muss ich nun feststellen, dass diese Idee absolut nicht neu ist. Na, hatte ich auch nicht angenommen. Aber so, wie hier bei Nerval, hatte ich es bisher noch nie gelesen. Gleich der erste Satz lautet: „Der Traum ist ein zweites Leben.“ – Und dieser Satz ist Programm für diese Novelle. Dazu die noch ziemlich ungelenkten Zeichnungen (sein erster Illustrationsauftrag) von Kubin, aber unverkennbar und durchaus zum Teil so traumatisch wie das Geschilderte.
Wenn man nun noch weiß, dass dieses Werk des Autors letztes war, fertig gestellt kurz bevor er Selbstmord beging, in den Jahren zuvor ohnehin nervenleidend verbrachte, dann hinterlassen diese Traum-Bilder und -Szenen und -Schilderungen einen noch gespenstischeren, gänsehautweckenden Eindruck.
Im Grunde wird hier nicht so viel erzählt. Der Ich-Erzähler – Autobiograph – trauert seiner verstorbenen Geliebten Aurelia nach und im zweiten Teil berichtet er von seinem Aufenthalt in der Nervenheilanstalt. Er reflektiert über religiöse und philosophische Fragen; einige Sätze und Absätze sind wie Aphorismen, Sätze für das schwarze Poesiealbum. Nicht zuletzt gilt der Autor und dieses Buch als Vorreiter des Surrealismus. Ein Buch, zum Immer-wieder-reinlesen.
10 / 10 Punkte
Theresa Hannig: „Pantopia“
Zeit für Utopien! Ich bin dafür!! Nach seiner Rezi im NEUEN STERN 84 zu dem Buch hat mir der Rezensent es ausgeliehen. Ich musste es unbedingt auch lesen. Wie immer bei mir: Hat etwas gedauert. Aber für meine Verhältnisse ist das inzwischen eine ziemlich „aktuelle“ Lesung.
Nun, vielleicht bin ich am Ende ein klein wenig enttäuscht, denn die Autorin umschifft im Grunde meine Erwartungshaltung, umschifft die utopische Gesellschaftsbeschreibung. Ich war erpicht darauf, davon zu lesen, wie es besser werden könnte. Das bekam ich nicht, statt dessen eine zusammenfassende Draufsicht, was alles an richtig großen Problemen einer Lösung harrt und wie eine „starke KI“ dies erkennt, auch die Notwendigkeit, sie lösen zu müssen und sich anschickt, die gesamte menschliche Gesellschaft für ihren utopischen – pantopischen – Entwurf zu gewinnen.
Der Roman ist mehr Tech-Thriller, Krimi, eine nicht sehr dominante Liebesgeschichte, von der ich die ganze Zeit ahnte, dass sie ihre Erfüllung erlebt, obwohl sich alles dermaßen dramatisch und hoffnungslos verdichtete.
Das Utopische im Plot lag mehr in der Geschichte, wie die KI – Einbug – es schafft, die Menschheit global auf ihren Weg zu bringen. Ob das so klappen könnte? Es soll friedlich passieren, irgendwie schon evolutionär, ohne dass es vorher wirklich zur Katastrophe käme. Mir appelliert dieser Weg zu sehr an das gute Gewissen der Menschen. Ich bin inzwischen wohl zu sehr enttäuscht und wirke sicher misanthropisch, ich kann nicht glauben, dass „wir“ an einen besseren Weg glauben und ihn beschreiten könnten. Mir erscheint es wahrscheinlicher, dass es erst wirklich ausweglos werden muss, ehe sich etwas ändert. Dann wären aber die Voraussetzungen weitaus schlechter als wir sie jetzt haben und demzufolge das Ergebnis mehr noch ein Reste-Verwalten der wenigen Ressourcen, die es dann noch gibt. Usw.
Vielleicht kann dies der Roman: Zum Nachdenken anregen, zur Diskussion verleiten? Davon spüre ich leider auch nicht so viel, auch wenn ich die Auftritte der Autorin auf SF-Cons mit großem Interesse und Begeisterung verfolge.
Also, ohne was vom Plot zu verraten: Lesen lohnt sich echt! Tolle, griffige Charaktere – sowohl die menschlichen Protagonisten, als auch die KI Einbug, die Nebenfiguren, auch die sich für meine Begriffe langsam, aber stetig zum Schlechten entwickelnde Cyberkriminalistin, eine meistenteils straff erzählte, spannende Handlung (im Mittelteil wird viel theoretisiert, was zwar wichtig ist, aber die Spannung etwas mindert) und eine großartige Grundidee haben mich überzeugt. (Auch der grundlegende Gedanke, dass wir bei allem KI-Gerede heutzutage eben die „echte“, also „starke“ KI noch gar nicht erlebt haben – also echtes künstliches Bewusstsein, das eigene Intentionen hat. Und die Idee, dass das nicht böse, skynet-mäßig, sein muss!)
Was mich nicht so dolle überzeugte: Manche Motivation und Reaktion der Handelnden. Allein der Gedanke, dass die Erfinder der KI freiwillig in den Untergrund gehen, oder auch der Gedanke, dass die multimilliarden-schweren Aktionen der KI so lange unentdeckt bleiben, vor allem auch der Leitung des Betriebes, für die sie arbeitet*, und dann vor allem der Gedanke, dass so viele Menschen sich so schnell der Pantopia-Bewegung anschließen und dabei sehr bewusst ihr bisheriges bürgerliches Leben aufgeben und sich auf ein ungewisses Abenteuer einlassen, fand ich nicht so überzeugend. Aber, wer weiß?
9 / 10 Punkte (* Hmm, wobei, am Ende wird da noch so ein Kniff aus der Trickkiste gezaubert, der genau das doch erklärt …)
Felix Woitkowski: „E/Meth“
Edition Dunkelgestirn, 2024
Oha, was war das denn? Eine Überraschung, das auf alle Fälle!
Den Autor hatte ich schon lange auf meiner virtuellen Lese-Wunschliste und das tolle Buch aus der Schmiede von Eric Hantsch kam mir da gerade recht. Über die Ausstattung und Gestaltung muss man auf jeden Fall ein Wort verlieren: Gediegenes Hardcover, mit Lesebändchen. Der Hardcoverumschlag hat so ein angenehmes Relief. Dazu dann auch noch die richtig guten Grafiken von Falpico, die wundervoll abstrakt, diffus und damit auch wahrscheinlich viel passender zum Text sind, als gegenständlichere Illustrationen wären, die der Maler sonst eher anfertigt. Alle Achtung; SO möchte ich mitunter auch illustrieren können.
Die Geschichte? Tja, da geht’s schon mal los: Was lese ich denn da? Zunächst hatte ich eine Assoziation zu Poes „Grube und Pendel“, dann natürlich Kafka – weshalb der Protagonist, Gregor (ist der Name Zufall oder wird die Nähe zu Kafka hier quasi provoziert?) in dieser „Anstalt“, in dem Gefängnis ist, weiß keiner, Gregor schon gar nicht. Ist das überhaupt ein Gebäude? Die Wände sind papieren, lassen sich aufschlitzen, man kann sie durchschreiten, hat aber nix davon. Gibt es mehrere Stockwerke? Wenn ja, wie viele? Und was machen die Insassen andres, als regelmäßig blaue oder orangene Pampe zu essen?
Gregor findet jeden Morgen einen Papierschnipsel in seiner Tasche, mit kryptischen Anweisungen, die für mich, für ihn wohl auch keinen Sinn ergeben. Da fühlte ich mich, auch als das mit den Stockwerken erwähnt wurde, an Jan Weiss, „Das Haus mit den Tauschend Stockwerken“, erinnert, das ich erst kürzlich las.
Ich lass das mal so stehen. Auch wenn sich meine Worte hier so anhören, als müsste ich mich durch das Buch quälen, so kann ich entgegnen, dass mich das Unkonkrete, Rätselhafte anfeuerte beim Lesen: Ich wollte schon wissen, was das soll, wohin das führt. DAS hat der Autor auf alle Fälle bei mir bewirkt! Faszinierend.
7 / 10 Punkte + 1 Sonderpunkt für die Illus und Ausstattung.
Brian W. Aldiss: „Der lange Nachmittag der Erde“
Der Meister wird 100 dies Jahr. Grund genug, seiner im NEUEN STERN zu gedenken. Peter Schünemann hat eine Rezi zu diesem Buch verfasst. Die wird noch erscheinen, aber als Redakteur hab ich sie schon gelesen und war sogleich begeistert! Wollte ich auch lesen, habe ich jetzt auch gelesen.
Und? Ja, Klasse! Ein richtig schönes (cosy?) SF-Abenteuer, total exotisch, obwohl es auf der Erde spielt, spannend, manchmal auch lustig. Man kann die ganze Zeit staunen ob der seltsamen Kreaturen und vor allem Gewächse, die es da am Ende der Zeit auf der Erde gibt.
Thematisch erinnert es ja an Moorcocks „Am Ende der Zeit“, ist aber kaum zu vergleichen. Moorcock ist da viel surrealistischer, avantgardistischer, wagt mehr als Aldiss. Aldiss hat eine einfache Prämisse (Erde steht still – wobei: stimmt das? Auch wenn sie immer eine Seite der Sonne zuwendet, so dreht sie sich ja noch um die Sonne, muss sich also auch um die eigene Achse drehen, um eben genau immer die gleiche Seite der Sonne zuwenden zu können – so wie der Mond heute im Verhältnis zur Erde; die Strahlung und Wärme ließ die Fauna ziemlich schrumpfen, dafür die Flora üppig gedeihen – na ja, ob das so klappt? Aber die Frage stellt sich ja auch bei Moorcock – und das viel öfter)
Der ganze Roman zeigt das Ergebnis einer Evolution, die eher eine Devolution darstellt, aber die Wesen und Arten, die es nun gibt, in denen mitunter ihre Vorfahren durchaus erkennbar sind, entwickeln sich weiter. Irgendwie scheint es doch wieder eine Höherentwicklung zu geben; also alles auf Anfang und noch mal? Obwohl das absolute Ende absehbar ist? – Diese Frage wird nicht beantwortet, ist auch nicht das Ziel der Geschichte. Ist halt so eine abenteuerliche Entwicklungsreise eines Helden, der ich gern gefolgt bin.
8 / 10 Punkte
Nico von Gracau: „Der Rettungstaucher“
Ein Büchlein aus dem SCHUND-Verlag. Wie immer steht der Verlagsname konträr zur Qualität und Ausführung von dessen Produkten, denn die sind handgemachte Edelsteinchen. Auch inhaltlich war das diesmal weit weg von Trivial oder Kolportage. Nix Schund! Dafür ein spannendes menschliches Drama, in dem der besagte Rettungstaucher, den selbst ein schwerer Verlust quält, auf sehr uneigennützige Weise Leben rettet. Die phantastische Auflösung könnte man auch als eine Art Trauma-Bewältigungserfahrung sehen; ob das wirklich so ablief dort unten am Boden des Sees? Wer weiß?
9 / 10 Punkte
Emmanuel Carrère: „Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick“
Ist das mein Buch 2025? Auf jeden Fall kommt es jetzt schon in die engere Auswahl!
Eine Roman-Biografie über PKD, von einem sehr interessanten Autor, der sich schon mit Alternativ-Historien = Uchronie – befasst hatte, also irgendwie durchaus „vom Fach“ ist und dessen Limonow-Biografie ich las und ebenso faszinierend fand (auch wenn mir natürlich ein PKD 1000mal lieber und sympathischer ist als die olle „Zitrone“ Limonow).
Wahrscheinlich ist gar nicht alles, was in dem Buch steht, auch wirklich so passiert, schon gar nicht das, was der Autor den anderen Autor denken lässt. Das muss man beim Lesen wissen. Aber diese verdeckte und vermutete Unwahrheit ist gar keine, denn das, was Carrère über sein Idol schreibt, beschreibt das Wesen, das Wesentliche Dicks, nicht nur den Ablauf seiner Tage.
Wobei dieser Lebenslauf schon ziemlich speziell ist. Aber wahrscheinlich musste der Mann so neben der Spur laufen (aus gutbürgerlicher Sicht), um seine Werke so zu schreiben, wie er es getan hat. Genau das zeigt dieses Buch hier sehr eindrücklich.
Das ist definitiv ein Buch, das ich nochmals lesen muss. 11 / 10 Punkte