Neil Gaiman kann es immer noch!
Klett-Cotta-Verlag, 2010
Bei Neil Gaiman kann man sich über mangelnde Publikationen eigentlich nicht beschweren. Er ist ein Tausendsasa, in allen oder zumindest vielen Medien aktiv und präsent. Wer ihn nicht als Autor anspruchsvoller Graphic Novels kennt, hat aber sicher schon einmal einen Film von ihm gesehen. Inzwischen sind auch seine Prosawerke, vor allem die Romane „American Gods“ und „Ansanasi Boys“ Bestseller, ähnlich wie seine Bücher für ein eher jüngeres Publikum. Vor nicht allzu langer Zeit ist eine Musik-CD erschienen, auf denen Musiker insbesondere aus dem alternativen Pop-Genre Lieder veröffentlichten, die durch Geschichten des Autors inspiriert wurden („Where's Neil when you need him?“)
Fragt man mich, was mir von ihm am allerbesten gefällt - also, ich frage mich das jetzt einfach mal selbst - so muss ich antworten: seine Erzählungen. Davon gibt es allerdings nicht allzu viele. Ich kannte bisher nur die Sammlung „Die Messerkönigin“. Nun ja, auch wenn dies natürlich völlig überzogen klingt, aber dieses Taschenbuch genießt kultische Verehrung bei mir. Davon wollte ich mehr! Und jetzt habe ich es bekommen.
„Zerbrechliche Dinge“ ist nicht so umfangreich wie „Die Messerkönigin“ - dies ist aber auch schon der einige Nachteil zu dem Vorgänger. Ansonsten findet man in dieser neuen Sammlung genau die Stimmung und die Art von Stories wieder, die man in dem Vorgänger so lieben gelernt hat.
Was ist das Besondere an Gaimans Geschichten? - Da ist zunächst seine besondere Erzählweise, der Ton in seinen Texten. Wobei er auch fremde Stile nachahmt, um anderen Autoren seine Hochachtung auszudrücken; im vorliegenden Band ist z.B. eine Hommage an Ray Bradbury enthalten. Wie ich meine, hat er den Ton und die feine Melancholie Bradburys sogar übertroffen. Und es ist immer ein persönlicher Bezug vorhanden; man kann schnell den Eindruck bekommen, Gaiman schreibt meistens über sich selbst. Sicher stimmt das so hundertprozentig nicht, denn das wäre dann schon sehr bedenklich und unheimlich, sind es doch mitunter ausgemachte Gespenstergeschichten, die er zum Besten gibt. Aber diese Art zu erzählen bindet den Leser unweigerlich an den Text. Nicht nur durch den persönlichen Ton, sondern auch durch die Lebensweisheiten, die der Autor in seine unterhaltsamen Geschichten integriert, bekommt man ein Gefühl von Relevanz und Bedeutsamkeit vermittelt. Genau das ist es, was mir an den Texten so gut gefällt. Zudem spricht er stark den sense of wonder an, den der Fan phantastischer Erzählungen in dem Genre sucht.
Ein Mittel, seine Stories authentisch wirken zu lassen, ist, sie nicht richtig enden zu lassen. Dies erklärt er quasi auch eingangs als Programm. Und tatsächlich, einige Geschichten entlassen den Leser unverrichteter Dinge. Aber so ist ja das Leben, da haben die Geschichten auch nicht immer ein Ende, schon gar kein gutes...
Doch so wirken die Stories nach, bleiben haften. Sie enden nicht mit einer Auflösung, die im Kopf des Lesers dazu führen kann, dass er das Gelesene nach dessen „Auflösung“ aus dem Gedächtnis tilgt.
Was erwartet den Leser konkret? - Es beginnt mit einer (scheinbar) persönlich erlebten Geistergeschichte. In der zweiten Story versucht ein fiktiver Autor eine realistische Geschichte zu schreiben, wobei er parallel dazu noch andere Probleme lösen muss. Interessant ist hier, dass das, was wir als Realität und Phantastik ansehen, umgedreht wird.
In der dritten Story geht es auch um einen Wechsel, diesmal schlüpft ein Mann in die Rolle eines flüchtigen Bekannten, den er auf einer Reise traf, eines Anthropologie-Professors auf dem Weg zu einer Konferenz.
Weiter geht es mit der Schilderung eine besonderen Beziehung, eines 11jährigen Jungen zu einem Kontrabass. - Es ist schon enorm, Gaiman schreibt über belanglose Dinge, aber man ist einfach fasziniert als Leser, denn was er schreibt besitzt Tiefe und Weisheit und vermittelt ein Gefühl für das Wichtige und Richtige.
Ein pubertierender Junge macht seine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ein Freund hat ihm erklärt, Mädchen seien keine Wesen vom anderen Stern, aber genau hier wird ein ganz anderer Eindruck vermittelt.
„Eine Studie in Smaragdgrün“ ist eine Holmesiade. Zunächst wurde ich als Leser auf eine falsche Fährte gelockt, denn der Ich-Erzähler ist ein englischer Afghanistan-Veteran, der dort Schlimmes erlebt und erduldet hat. Wer denkt dabei nicht an die Gegenwart? Aber die Geschichte spielt in den 80ern des 19. Jahrhunderts. Das London hier erinnert sehr an Kim Newmans London in „Anno Dracula“, Gaiman lässt so ganz nebenbei auch alle einschlägig Bekannten auftreten, Vlad Tepes, Jack the Ripper. Dass es sich bei den Protagonisten um Dr. Watson und Sherlock Holmes handelt, wird nie erwähnt, doch wer soll es dann sein? Den Fall löst „Holmes“ nicht gänzlich, na, vielleicht it er's ja doch nicht...
Toll waren auch „Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch“. Hier suggeriert der Autor wieder sehr intensiv, dass es sich um einen Episode aus seinem Leben handeln könnte. Aber ich will das mal lieber nicht annehmen. Der Ich-Erzähler wird von einem Pärchen zur Abendunterhaltung eingeladen, die noch eine Dame erwarten, besagten Miss Finch, eine Exzentrikerin wie sie wohl nur in Old England existieren kann. Man geht zu einem komischen Horror-Zirkus und in der letzten Nummer wird der Wunsch (nicht der Alptraum) eines Gastes verwirklicht. Das endet nicht gut...
Anderer Exzentriker haben sich zu einem Orden zusammen geschlossen, die halt mal alles essen wollen. Die gibt es wohl schon recht lange und sind maßgeblich am endgültigen Aussterben so manchen Geschöpfs schuldig. Doch was passiert, wenn sie den Sonnenvogel essen, den wir auch als Phönix kennen und der bekanntlich aus der Asche immer wieder aufersteht?
Es gibt dann noch eine Story um das Essen und dann erlebt der Leser die Wirkungsweise eines Virus mit. Und und und... insgesamt sind es 14 Texte, wobei der längste eine Geschichte aus dem American Gods-Universum um den göttlichen Helden Shadow ist und der kürzeste (eine Seite) die biblische Geschichte des Sündenfalls umgekehrt erzählt.
Nun, ich hoffe, nicht zu viel verraten zu haben, aber doch so viel um Geschmack auf dieses wunderbare Buch zu machen. Doch was bedeutet die Lektüre nun für mich? Wieder ca. 10 Jahre warten? Bitte lieber Neil Gaiman und liebe deutsche Verlage: Das könnt ihr nicht mit mir machen! (Am liebsten ruhig Klett-Cotta, denn das Buch macht auch äußerlich was her, sehr schöner Umschlag, schöne Satzgestaltung.)