Ich habe vorgestern mit zweitägiger Verspätung auch endlich mit »Cyberabad« angefangen und kann jetzt, am Ende vom zehnten Kapitel angelangt, auch meine ersten Eindrücke schildern.
Ich mach es mal kapitelweise...
Kapitel 1
Der Einstieg fiel mir nicht gerade leicht, und damit scheine ich im Lesezirkel ja kein Einzelfall gewesen zu sein. Die Fülle der Hindi-Begriffe erschlägt einem im ersten Moment und ich hab am Anfang auch alles nachschlagen wollen. Ich frage mich, ob das von McDonald, der ja nun ein 'alter Hase' ist, nicht vielleicht sogar beabsichtigt war – eine Art Kulturschock für den Leser, so als ob man aus der Wohnungstür tritt und sich plötzlich in Mumbai wiederfindet. Wenn ja, ist ihm das meisterlich gelungen. Nicht ganz ohne, aber bisher hat es sich gelohnt, in diese fremde Kultur einfach hineingeworfen zu werden.
Dass der Leser gleich zu Beginn mit einer Leiche und der Frage nach ihrem Schicksal konfrontiert wird, weckt natürlich sofort das Interesse.
Kapitel 2
Hier gab es bei euch ja schon eine Diskussion. Also mir gefiel die Idee, Computerprogramme als Avatare hinduistischer Gottheiten darzustellen. Es mag zwar für uns Westeuropäer ungewohnt sein, allerdings ist Spiritualität in der indischen Kultur viel tiefer und seit Jahrtausenden verwurzelt. Unser Verständnis von Spiritualität bzw. Religiösität beschränkt sich da im Wesentlichen auf den Besuch der Oster- und der Christmesse – wenn überhaupt. In der indischen Kultur nimmt der Götterglaube einen viel größeren Stellenwert ein und erhält dadurch auch bestimmt leichter Einzug in neue Technologien. Würde man bei uns die Stimme eines Navigationsgeräts mit einem Avatar ausstatten, wäre es vielleicht eine dralle Blondine, in Indien wäre es Ganesha. Außerdem habe ich es auch nicht als eine generelle Ausprägung des zukünftigen indischen Cyberspace verstanden, sondern als eine Personalisierung von Mr. Nandhas Workstation.
Kapitel 3
Von allen Figuren in den bisherigen und folgenden Kapiteln blieb Shaheen Badoor Khan bisher recht blass. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, dass das bei einem Politiker auch nicht anders zu erwarten wäre, allerdings deutet seine Reaktion auf das Neut-Model an, dass in ihm auch das Potenzial einer vielschichtigen Figur steckt. Zu der Thematik der Neuts hab ich mir auch ein paar Gedanken gemacht, aber dazu später im Kapitel von Thal.
Kapitel 4
In Najias Interview mit dem Kaih-Schauspieler kam ein interessanter Aspekt zur Sprache: Wann ist etwas real?
Ich musste dabei an etwas denken: vor einiger Zeit habe ich mal in eine Games-Preisverleihung gezappt, bei der unter anderem der beste Held und der beste Bösewicht eines Computerspieles gekürt wurden. Da traten dann die Gewinner (auf einem Bildschirm) vor das Podium und hielten ihre Dankesreden, waren dabei charmant und machten Witze. Und obwohl mir bewusst war, dass es nur die Figuren aus einem Spiel sind, unterschied sich diese Preisverleihung in diesem Moment in keinster Weise von den Oscars, Golden Globes oder Grammys. Ich glaube, da wird es in den nächsten Jahren bemerkenswerte Entwicklungen geben.
Die Idee einer Kaih die Vorstellung einzupflanzen, dass sie eine Rolle spielt und ansonsten über ihre eigenen Gedanken verfügen würde, obwohl auch dieses Verhalten programmiert ist, fand ich amüsant.
Der Mikrosäbler-Kampf war dann harter Tobak. Mir ging es nahe, wie das Mädchen ihr Haustier verlor. Ich weiß, das hat jetzt nix mit Najia zu tun, aber ich fragte mich, was die Beweggründe des Mädchens gewesen sein könnten, ihren Mikrosäbler dort antreten zu lassen. Wenn mich ein Autor zu solchen Gedankengängen anregt, obwohl sie garnichts mit der direkten Handlung zu tun haben, macht er in meinen Augen seine Sache wirklich gut (was McDonald im Übrigen dramaturgisch auch geschickt anstellt, indem er nur eine der beiden Säbelzahnkatzen beschreibt).
Kapitel 5
Das Wichtigste zuerst: Ich wünsche mir, dass ein findiger Programmierer »Cyberabad« liest und eine Simulation wie
Alterre entwickelt. Das fänd ich großartig, selbst wenn ich es mir nur auf dem Bildschirm anschauen und nicht darin herumlaufen könnte.
Eigentlich war ich ja bisher immer der Meinung, dass ein Near-Future-Szenario keinen Weltraum braucht. Ich bin auch nachwievor skeptisch, allerdings machte mich die Sache mit der »Weltraumkartoffel« auch neugierig. Ich hab mich nur gefragt, ob es wirklich vorstellbar ist, dass man einen zehn Lichtjahre entfernten Planeten durch ein Teleskop sehen könnte – selbst wenn es sehr leistungsfähig wäre.
Ach ja, ich hab noch garnicht erwähnt, wie erfrischend ich McDonalds Schreibstil finde. Es gab bisher so einige Highlights, aber im Kapitel von Lisa Durnau gab es eine Stelle, die ich köstlich fand (in Bezug auf Tierra und den Texaner der Anspruch auf den Exoplaneten erhob):
"Wie kann dem Kerl ein Planet gehören? Er muss nur einen Claim einreichen, mehr nicht. Das wäre so, als wäre die Hälfte deiner DNS das Eigentum irgendeines Biotech-Konzerns. Jedes Mal, wenn du Sex hast, verletzt du das Copyright."
(S. 71)
Kapitel 6
Ich hab mich vor einigen Jahren mal mit jemandem unterhalten, der ein Jahr durch Indien getourt war (mir stand damals eine Stunde lang der Mund offen, während ich gebannt zugehört und Fotos angesehen habe). Seine Beschreibung eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Goa kam mir sofort in den Sinn, als ich dieses Kapitel las. Wenn man mal davon absieht, dass in »Cyberabad« jeder zu seiner eigenen Musik tanzt – was ich jedoch für eine logische Weiterentwicklung der Aussteigerkultur halte, bei der es ja darum geht, sich als Individuum von der Masse abzugrenzen.
Allerdings sehr seltsam, dass Kij Thomas Lulls Namen kannte, obwohl er ihn nie erwähnt hatte...
Kapitel 7
Um es mal auf neudeutsch zu sagen: die Partylocation war sehr en vogue.
Aber viel mehr faszinierte mich die Vorstellung eines dritten Geschlechts (eigentlich seit der ersten Erwähnung von Yuli, doch hier trat es durch eine/n Protagonist/in in den Vordergrund). Anfangs dachte ich ja noch, dass die Neuts so etwas wie thailändische Ladyboys wären oder vielleicht auch Hermaphroditen, aber offensichtlich verfügen sys ja nicht über beide Geschlechter, sondern über kein Geschlecht. Was wohl auch bedeutet, dass alles, was einen Mann zum Mann und eine Frau zur Frau macht, operativ entfernt wurde. Ich musste mich dabei unweigerlich fragen, wie ein Mensch ohne primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale nackt aussieht (keine Brustwarzen und im Intimbereich nur eine Harnröhrenöffnung?). Ich verstehe zwar, dass es Menschen gibt, die sich im falschen Körper fühlen und sich dann mittels einer Operation ihrem tatsächlich empfundenen Geschlecht angleichen wollen, aber die Neuts gehen ja scheinbar noch viel weiter. Ist das dann eher ein Ausdruck von Identität oder Individualität? Ich hoffe, McDonald greift dieses Thema noch einmal auf...
Okay, es fehlen zwar noch drei Kapitel, die ich schon gelesen habe, aber zu denen schreibe ich morgen etwas. Ist ja auch so schon eine ganze Menge...