Mein historischer Lesemonat
35) Thomas von Steinaecker: „Schutzgebiet“
Interessant: Der zweite Roman eines deutschsprachigen, noch eher jüngeren (sehr relativ, ich weiß) Autor aus kürzester Vergangenheit, der sich der deutschen Kolonialgeschichte zuwendet - nach Krachts „Imperium“.
Ich griff zu dem Buch nach der Veranstaltung zum Leipziger Literaturherbst 2016, u.a. mit dem Autor (Wobei ich aus zeitlichen Gründen seinen Auftritt selbst gar nicht mehr miterlebte). Zum Literaturherbst hatte er seinen utopischen Roman „Die Verteidigung des Paradieses“ im Gepäck. Um den Autor als Autor kennen zu lernen, hatte mich aber dieser Roman hier angesprochen.
Ähnlich wie bei Kracht zeigt sich deutsches Kolonialgebiet aus der Kaiserzeit vor allem als Spielfeld für hinreichend Verrückte, wie es mir scheint. Mehr war aus den Kolonien wohl nicht rauszuholen, könnte ich etwas zynisch anbringen. Mit Ruhm hat sich da ohnehin niemand bekleckert, insofern ist fast tröstlich, dass ein paar Lebensunfähige dorthin ausquartiert werden konnten. Nur Schade, dass die Leute, die dort leben, drunter leiden mussten - u.U.
Hier wird ein fiktiver Ort in Afrika zum Handlungsschauplatz gewählt. Dort will ein deutscher Unternehmer in der Savanne einen deutschen Wald anpflanzen: Schließlich müssten die deutschen Qualitätshölzer unter den dortigen klimatischen Bedingungen doch viel besser und schneller gedeihen. Na ja, klappte nicht, war klar.
Dazu kommen noch ein paar andere Loser und Träumer und Spinner. - Ich habe ja für solche Leute was übrig, aber es ist halt wenig tröstlich, sie dort in der glühenden Hitze verkommen zu sehen.
Anders als bei Kracht konnte mich die Story aber nicht wirklich gefangen nehmen, da halfen auch die eingeworfenen Bezüge zur utopischen Literatur des 19. u. 20. Jahrhundert auch nicht drüber hinweg. Aber es war noch so gut, dass ich mich angeregt fühle, den „Paradies“-Roman mal zu lesen - später†¦
7 / 10 Punkte
36) Götz Aly: „Unser Kampf“
Na, woran erinnert dieser Titel? Ja, stimmt, so ist es auch gemeint†¦
Der Untertitel lautet: „1968 - ein irritierender Blick zurück“. Das Buch ist eine vielerseits angefeindete „Abrechnung“ mit der 68er Generation. Na ja, „die 68er“ sind ohnehin ja in einer politischen Ecke und haben somit ohnehin ihre Feinde und Kritiker. Das erste Besondere an der Sache hier ist, dass Aly ja auch so ein 68er war. Was mir positiv auffiel, war, dass er sich bei der Kritik, die er äußert, selbst nicht ausnimmt. Ein großer Vorwurf an seine damaligen Mitstreiter ist daher daraus resultierend: Sie wollen sich nicht richtig erinnern, verdrängen ihre schwarzen Flecken und decken den Mantel des Schweigens über gewissen Wendungen, Handlungen, Gedanken etc. von damals aus.
Also, worum geht†™s? Im Grunde macht Aly eines: Er vergleicht die 68er „Bewegung“ mit der „Bewegung“ der Nazis in den 20er/30er Jahren. Vergleich? Muss ja keine Gleichsetzung sein. Auch wenn er das an einigen Stellen auch betont, dass er KEINE Gleichsetzung vornimmt, so setzt der so viele Gleichheitszeichen, dass es einem schwerfällt, hier nicht von einer Gleichartigkeit auszugehen.
Im Detail will ich hier nicht drauf eingehen, nur mal so zusammenfassend, stichpunktartig:
- die 68er sind im Genrationskonflikt zu ihrer Elterngeneration angetreten, die wiederum in den 12 Jahren des 1000jährigen Reichs mitsozialisiert wurde; das erzeugt schon mal Spuren
- die Reformen (Politik, Universitäten†¦), die in den 60ern losgetreten wurden, sind nicht unbedingt durch die 68er Revolte hervorgerufen, provoziert worden, sondern liefen bereits, als die Studenten aufbrausten
- Auftreten, Äußerungen, organisatorische Einzelheiten, engstirniges, dogmatisches Herangehen und Behandlung der echten und vermeintlichen Feinde der beiden „Bewegungen“ weisen deutliche Gemeinsamkeiten auf
- das Verhältnis zu Demokratie, Antisemitismus, Gewalt bei den 68ern ist durchaus auch als „gestört“ zu bezeichnen (also, Aly macht das dezidiert und ausführlich; ich lass das mal so allg. hier stehen)
- die soziale Zusammensetzung der Revoltierenden entspricht nicht ihrem ideologischen Selbstverständnis
- Verdrängung statt Auseinandersetzung mit der Geschichte, sowohl auf 68 bezogen, aber auch auf die 68er heute
Ein Gedanke verfolgte mich allerdings bei dieser spezifischen Anwendung der Totalitarismus-Doktrin: Ist es nicht denkbar, dass sowohl die Nazis, als auch die radikale 68er Studentenbewegung am Ende aus einer Inspirationsquelle schöpften; schon bei den National-Sozialisten war es ja so, dass sie sehr deutlich Bezug auf die Arbeiterbewegung nahmen, was ja Zeitgenossen (von heute!) gern zu dem Schluss kommen lässt, dass Nazis links waren. Dieser Gedanke kommt Aly nicht, also der mit der noch älteren Quelle, den anderen legt er seinen Lesern durchaus nahe, oder?
Das Buch besticht durch seine schlüssige Argumentation und vor allem die Fülle der Beispiele. Und wenn man den Nahmen Mahler oft genug liest, weiß man ja auch, dass es so ein ideologisches Umschwenken in persona ja durchaus gab; aber darauf nimmt Aly gar keinen Bezug - und ich denke mal, das lässt sich so auch nicht verallgemeinernd interpretieren.
8 / 10 Punkte
37) Heinrich Gerlach: „Durchbruch bei Stalingrad“
Ein Kriegsbuch. Sowas lese ich? Na ja, manchmal schon. In historisch überschaubarer Zeit - will sagen: In der Zeit, in der ich die Leseliste hier führe, waren es vor allem ein paar neue Russen, die über den Afghanistan- oder Tschetschenienkrieg schrieben. Und deutsche Autoren? Da fällt mir gerade Gert Ledig ein („Die Stalinorgel“ und „Vergeltung“), aber die muss ich vor der Leselistenzeit gelesen haben. Kommt mir gar nicht so lange vor, dass†¦, aber ich wollte die beiden dünnen Bücher ohnehin mal wieder lesen.
Jetzt also dieser dicke Wälzer über die Wochen im Kessel von Stalingrad. Ich gebe zu, dass mich die Geschichte zum Roman als erstes interessierte und faszinierte. Kennt Ihr die?
Also: Gerlach ist ein deutscher Soldat, der in Stalingrad in Gefangenschaft geriet - und überlebte! Das ist sicher schon mal eine große Ausnahme (von den 300.000 deutschen Soldaten der 6. Armee sind wohl nur 6000 nach Hause gekommen). Er wurde in Gefangenschaft mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland und dem Bund deutscher Offiziere konfrontiert; sein Umdenkungsprozess zum Kriegs- und Hitlergegner setzte aber sicher schon vorher ein. Auf alle Fälle schrieb er in Gefangenschaft diesen Roman. Darin zeigt er deutlich und mitunter drastisch die Schrecken des Krieges auf, wie der Krieg, der Hunger, der Wahnsinn des Hilterbefehls, da auszuharren, auf ihn und seine Mitsoldaten wirkte. Im Grunde hätte dieses Buch übrigens so auch, für mein Dafürhalten, in der DDR erscheinen können, denn unterm Strich heroisiert das Buch den Krieg nicht, stellt den deutschen Soldaten auch nicht in ein heldenhaftes Licht oder dergleichen. Es zeigt aber differenziert, wie die Leute tickten, auch politisch. Für mich überraschend war, dass die Soldaten und auch Offiziere mitunter sehr ehrlich und offen miteinander sprachen und diskutierten - okay, nicht in jeder Runde und jedem Rahmen, aber so in der Situation der Todesnähe war dann vielen vieles egal†¦
Für mich immer interessant ist die Frage, wie Soldaten mehr oder weniger freiwillig sich in den Krieg begeben. Gut, eine Wahl hatten sie ja nicht gerade, aber viele gingen mit wehenden Fahnen in die Schlacht. Warum? Diese Frage stellten sich im Angesicht des Stalingrader Kessels dann die Leute auch†¦ Und sie haben unterschiedliche Antworten (wie z.B. der Sohn eines Kommunisten, der im National-Sozialismus Hitlers tatsächlich die Möglichkeit sah, den Sozialismus in Deutschland zu erreichen, was den Kommunisten ja nicht gelang; oder die Fragen der Ehre und Treue, die Männern aus alten Offiziersfamilien tatsächlich bewegte - und maßlos enttäuscht wurden; oder auch der Mann aus einer baltischen Republik, der den russischen Imperialismus so argwöhnisch betrachtete, dass er sich sehr offensiv zu den deutschen Faschisten hingezogen fühlte, sozusagen in eigener Mission unterwegs war). Also, meine Frage wurde zum Teil sehr eindrucksvoll beantwortet.
Aber zurück zur Roman-Geschichte, die mich ja bewog, diesen Roman zu lesen - Einschub: Diese äußerliche Sache rückte bei der Lektüre schon schnell in den Hintergrund, denn das Buch zog mich in seinen Bann.
Als Gerlach nach Hause fahren durfte, konnte er das Manuskript nicht mitnehmen.
Die sowjetische Lagerverwaltung nahm es ihm ab, sah wohl die Rolle der Sowjetunion oder / und Roten Armee nicht ins richtige Licht gerückt. Einschub: Was so aus meiner Sicht überhaupt nicht gerechtfertigt war! Im Gegenteil, im Grunde kommen „die Russen“ sehr gut weg, auch wenn aus der Sicht der deutschen Soldaten erzählt wurde. Ich weiß gar nicht, ab das so authentisch ist, aber russische Gefangene wurden mitunter sehr gut behandelt, und umgedreht wurden deutsch Gefangenen bei den Russen sehr gut behandelt (so schildert es Gerlach). Mehr „Arschlöcher“ machte Gerlach eigentlich bei seinen eigenen Landsleuten aus†¦
Ach ja, das Buch an sich†¦ war verloren! Weg, alles umsonst†¦.
Gerlach wollte es in den 50er Jahren noch einmal schreiben, konnte sich aber nicht mehr so richtig erinnern. Daher setzte er sich einem Experiment aus: Er ließ sich in Hypnose versetzen und diktierte aus dem freigelegten, verschüttet geglaubten Gedächtnis. Er entstand ein Roman: „Die verratene Armee“. Ist aber nicht der Text, der nun vorliegt. War aber damals ein großer Erfolg.
Der Autor des sehr langen Nachwortes, Carsten Gansel (der Roman selbst füllt „nur“ die ersten 515 Seiten des fast 700seitigen Buches†¦), erzählt die Geschichte des Autors und des Buches, und seiner großen Entdeckung: Er fand in russischen Archiven kürzlich (2011) das alte Manuskript! Somit ist nach 70 Jahren das Buch erstmal vollständig und richtig erschiene. Ja, das hat mich fasziniert; aber am Ende auch der Roman selbst. Großes Ding!
11 / 10 Punkte