Henry Winterfeld: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern
Henry Winterfeld Bücher - Abenteuer
Wer hat nicht herzlich gelacht über die Streiche und Abenteuer von Gaius, dem "Lausbub aus dem alten Rom"? Jetzt hat der Heyne Verlag mit "Timpetill" - Die Stadt ohne Eltern" einen weiteren Klassiker des Autors Henry Winterfeld neu herausgebracht. "Timpetill" spielt in der Neuzeit, in einem Land, das dem Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts gar nicht so unähnlich sieht, und behandelt ein recht modernes Problem: überforderte Eltern, machtlose Pädagogen und zerstörerische, asoziale Kinder, denen die Erwachsenen einfach nicht mehr beikommen können.
In der Stadt Timpetill hat sich die Kinderbande der "Piraten" gegründet. Angeführt von dem brutalen Schlachterssohn Oskar sinnen die Jungen und Mädchen auf nichts als Zerstörung und böse Streiche. Die Kinder, die sich den Piraten nicht anschließen, haben am wenigsten dabei zu lachen: Von den Piraten verfolgt, von den Eltern als Übeltäter mitverdächtigt, stehen sie zwischen den Fronten. Die Sache eskaliert, als ein besonders bösartiger Junge einem Kater einen Wecker an den Schwanz bindet und das in Panik davonstürzende Tier mehrere Geschäfte verwüstet und gewaltigen Schaden anrichtet.
Die Eltern verlassen Timpetill
Die Eltern beschließen, ihren Kindern eine Lektion zu erteilen. Bei Nacht und Nebel verlassen alle Erwachsenen die Stadt. Plötzlich müssen die Kinder auf sich allein gestellt auskommen. Oberpirat Oskar gibt alle Spielwarengeschäfte zur Plünderung frei. Bald herrscht ein höllisches Durcheinander in Timpetill. Anarchie bricht aus, und vor allem die Piraten sind sicher, dass die Eltern ja irgendwann wiederkommen. Bis dahin wollen sie feiern. Dummerweise bleiben die Eltern sehr lange aus. Nach und nach erobern die "vernünftigeren" Kinder die Stadt zurück. Ich-Erzähler Manfred zum Bespiel, der ein kleines Genie ist und als Bastler und Tüftler sogar das Wasser- und das Elektrizitätswerk wieder zum Laufen bringt. Oder sein Freund Thomas, der Sohn des Schuhmachers, ein tüchtiger Kerl und der geborene Anführer. Oder Zahnarzttochter Marianne, die bald das Ernährungswesen unter sich hat und die Versorgung der elternlosen Kinder organisiert. Schließlich kommt es zum Endkampf zwischen den Piraten Oskars und Thomas' Kindertruppe.
Ein alter Kindertraum wird wahr
Henry Winterfeld erzählt hier ein modernes Märchen, einen alten Kindertraum vom freien Leben ohne Eltern. Die Geschichte entstand, als Winterfelds Sohn Thomas erkrankte und der Vater ihm jeden Abend etwas erzählen musste. Genau die richtige Unterhaltung für einen kranken Jungen, vor allem, wenn der Held auch noch so heißt, wie er selbst. Dass Thomas die Abenteuer aus Timpetill gefallen haben, daran kann kein Zweifel bestehen. Auch wenn die Geschichte ausgesprochen moralisch daherkommt. Denn Thomas und Manfred agieren im Buch fast wie Über-Erwachsene, wenn sie die Stadt reorganisieren und ihren Kindertrupp mit militärischer Disziplin einweisen. Da gibt es Jungen, die zum Dienst am Elektrizitätswerk eingeteilt werden, da gibt es eine generalstabsmäßig organisierte Küchencrew unter Leitung von Marianne, da gibt es "Telefonfräulein", die Anrufe entgegennehmen und Verbindungen zusammenstöpseln müssen, und sogar einen mit Stöcken bewaffneten "Schutztrupp" zur Verteidigung gegen die Piraten. Zucht und Ordnung herrschen in Timpetill, als Thomas und Martin das Ruder übernehmen. Dieses "Timpetill" ist das vollkommene Gegenteil zu Goldings "Herr der Fliegen", der rund 20 Jahre später erschien. Dort bricht unter der isolierten Kindertruppe Chaos, Anarchie und bald Mord und Totschlag aus, hier dagegen entsteht ein wohlgeordnetes kleines Gemeinwesen, das sich nur dadurch von einer "normalen" Stadt unterscheidet, dass die Funktionsträger allesamt Minderjährige sind.
"Timpetill" macht Spaß
"Timpetill" ist trotzdem oder gerade deswegen ausgesprochen spannend zu lesen. Es macht Spaß, zu beobachten, wie die Kinder nach und nach die Erwachsenendomänen erobern und sich die technischen Gerätschaften zu eigen machen. Dabei hat das Ganze trotz der ausgesprochen realistischen Darstellung auch eine ganze Reihe komischer, ans Absurde streifende Züge. Etwa, wenn wegen eines harmlose Streichs die halbe Stadt verwüstet wird. Oder wenn die Eltern nach ihrem genialen pädagischen Einfall ziemlich schnell furchtbar in der Patsche sitzen.
Gelungenes Nachwort von Boris Koch
Sehr gefallen hat mir das Nachwort, in dem Boris Koch etwas zur Entstehungsgeschichte Timpetills und zur Biographie des Verfassers erzählt. Hier erfährt man unter anderem, wie der junge Henry als Sohn einer jüdischen Künstlerfamilie erst nach Österreich, dann in die Schweiz, nach Paris und zuletzt in die USA flüchten musste. Aber auch über die weitere Wirkungsgeschichte Timpetills, das in Frankreich Schullektüre wurde und inzwischen auch verfilmt worden ist.
Fazit: Kinderbuchklassiker mit pädagogischem Hintergrund. Witzig, abenteuerlich und lehrreich. Empfehlenswert.
Henry Winterfeld: Timpetill. Die Stadt ohne Eltern. München: Heyne, 2013. 288 S., Euro 8,99.
© Petra Hartmann