
Edith Nesbit: Mannsgroß in Marmor

Edith Nesbit ist vermutlich den meisten als Verfasserin von Kinderbuch-Klassikern bekannt. Doch in letzter Zeit gibt es immer mal wieder Horror-Storys von ihr (wieder) zu entdecken. "Mannsgroß in Marmor" ist so eine Schauergeschichte. Die 1887 erschienene Erzählung kam jetzt in der Reihe "Kabinett der Phantasten" im jmb-Verlag heraus, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Heiko Postma.
Die kleine Erzählung umfasst etwas über 20 Seiten. Es geht um ein junges Ehepaar, das ein kleines malerisches Cottage auf dem Land bezieht. Das Glück der beiden scheint vollkommen. Jack ist Maler, Laura Schriftstellerin, sie sind nicht reich, aber verliebt, glücklich und meistern ihr Leben gemeinsam. Eine ältere Hausangestellte aus der Umgebung kümmert sich ums Kochen und Geschirrspülen und weiß auch viel Spökenkram zu berichten.
Zwei böse Brüder im Marmorschlaf
Nur, als die Frau von den beiden Grabstätten rechts und links des Altars in der kleinen benachbarten Kirche berichtet, hört der Maler und Ich-Erzähler Jack dann wohl nicht aufmerksam genug zu. Die beiden dort bestatteten Ritter, zwei Brüder, seien sehr böse und grausame Menschen gewesen, erzählt sie. Und in der Nacht von Halloween richten sich die beiden Marmorgestalten, die ihre Grabplatten schmücken, aus ihrem bleichen Totenschlaf auf und wandeln durch die Nacht. Sie ziehen dann immer dorthin, wo einst ihr Herrensitz stand. Der ist zwar längst verwüstet und eingerissen, und auf seinen Trümmern wurde das Cottage des Liebespaares errichtet, doch das ficht die beiden Toten nicht an, wenn sie mannsgroß und in Marmor durch die Nacht schreiten. Nein, um keinen Preis der Welt wolle sie am 31. Oktober in diesem Haus weilen, sagt die Haushälterin. Jack nimmt das Gerede nicht weiter ernst. Aber kurz vor dem Schicksalsdatum kündigt die Frau unter einem fadenscheinigen Grund. Das Pärchen behilft sich irgendwie selbst mit dem Haushalt. Dann befällt die Schriftstellerin Laura eine düstere Vorahnung. Die schaurige Nacht ist da ...
Realität oder Wahnvorstellung?
Die Geschichte ist geradlinig und zielstrebig erzählt. Schon durch den kurzen Vorspruch des Ich-Erzählers wird klar, dass es um etwas Unheimliches, Übernatürliches gehen soll, für das sich gleichzeitig auch die rationale Erklärung anbietet, er leide an "Wahnvorstellungen". Sehr liebevoll und in hellen Tönen wird die Atmosphäre des Cottage und der Landschaft geschildert, ein wunderschönes Liebesnest und Ehe-Idyll, das das Künstlerpärchen sich hier geschaffen hat. Nur wenige kurze Andeutungen genügen Edith Nesbit dabei, das Herannahen des Grauens fühlbar zu machen, und der Leser ahnt es schon viel eher als der Ich-Erzähler, was da droht.
Liebevoller Ehemann, aber ...
Bemerkenswert ist auch der liebevolle und doch gleichzeitig ein bisschen von oben herab über sein "Frauchen" redende Tonfall Jacks. Die bange Stimmung der Schriftstellerin Laura fasst er als typisch weibliche Emotionalität auf, die düsteren Reden der scheidenden Haushälterin will der Mann seiner Frau nicht mitteilen, um sie nicht zu beunruhigen. Vielleicht hätte ein offenes Gespräch das Unausweichliche doch noch verhindert?
Infos zur Biografie Edith Nesbits
Sehr schön arbeitet Heiko Postma in seinem Nachwort diese bei aller Fürsorge doch die "typisch maskuline Überlegenheits-Haltung" Jacks gegenüber Lauras heraus, die das Unglück erst ermöglicht, zumindest den Gang des Verderbens aber nicht aufhält. Das gehaltvolle Nachwort, aus dem man mehr über Hintergründe und Entstehung der Erzählung erfährt, bietet zudem Einblicke in die Biografie Nesbits, ihre Familiengeschichte und den Weg, der sie schließlich zum Kinderbuch führte. Einige Fußnoten zum Erzähltext bieten zudem Erläuterungen zu literarischen Anspielungen Nesbits, geografischen oder historischen Bezeichnungen und heute nicht mehr bekannten Gebrauchsgegenständen wie der Zündholzmarke "Vesta".
Auch durch das handliche Format und das klassisch geschmackvolle Reihendesign in Rot und Schwarz ist das schmale Büchlein ein angenehmer Begleiter geworden, den man gern mitnimmt und unterwegs liest. Alles in allem also ein sehr schönes, inhaltlich und optisch sehr erfreuliches Buch.
Fazit: Klassische Gruselgeschichte, geradlinig erzählt und geschmackvoll vom Verlag in Szene gesetzt. Lesenswert.
Anmerkung: Eine interessante Umsetzung als Hörspiel kam 2013 bei Titania heraus. Sie erschien in der Reihe "Gruselkabinett" unter dem Titel "Die Macht der Dunkelheit". Hier wurde die Geschichte der beiden marmornen Grabbilder zur Rahmenhandlung, in die eine weitere, sehr böse Horrorstory als von Laura verfasste Geschichte eingelegt war. Sehr interessant.
Meine Notizen dazu findet ihr im Jahresrückblick 2013 im September-Abschnitt.
Edith Nesbit: Mannsgroß in Marmor (Man-Size in Marble). 1887. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Heiko Postma. Kabinett der Phantasten 91. Hannover: jmb-Verlag, 2024. 36 S., Euro 9.
Weitere Besprechung zu Edith Nesbit:
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© Petra Hartmann