
Elena Münscher: Der Zeitenweg

Ein Pfad durchs Moor verbindet Brunis Dorf mit der Stadt. Das Besondere: Das Dorf liegt im Jahr 1671 und die Stadt im Jahr 1971. "Der Zeitenweg" von Elena Münscher ist eine Novelle über ein Mädchen, das in zwei Zeiten lebt. Aber das Leben im 17. Jahrhundert ist für eine junge Frau, die in die Zukunft wechseln kann, lebensgefährlich ...
Ein Weg zwischen zwei Zeiten, die beide nicht "schön" sind: Brunis Großvater Damian hatte einst den Zeitenweg entdeckt. Der ehemalige Landsknecht hatte die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges miterlebt und, was ihn noch immer in Träumen verfolgt, zum Großteil auch mitgemordet. Auch auf der anderen Seite tobte ein furchtbarer Krieg, als Großvater Damian zum ersten Mal ins 20. Jahrhundert geriet: Er erlebte die Bombardierung Magdeburgs mit, sah Flugzeuge, fallende Bomben, brennende Häuser.
Zur Schule ins Jahr 1971
In Brunis Zeiten sieht zumindest das 20. Jahrhundert wesentlich freundlicher aus: Bruni hat, dank der Fürsprache ihres Großvaters, vom Vater die Erlaubnis erhalten, auf der anderen Seite die Schule zu besuchen. Sie lernt Lesen und Schreiben. Künste, die sie in ihrem Dorf durchaus in den Ruf geraten lassen könnten, eine Hexe zu sein. Keine hypothetische Gefahr. Denn eine Großtante konnte sich nur durch die Flucht ins 20. Jahrhundert dem Hexenprozess entziehen, deren Cousine starb auf dem Scheiterhaufen, Wissen und Bildung sind lebensgefährlich, zumal im Dorf der strenggläubige und harte Vater Johannes als Seelsorger über seine Schäfchen herrscht, und der hat bereits sieben Hexen enttarnt. Ist der Schulunterricht diese Gefahr wert? Und wie kann Bruni ihre Französisch-Note retten, wenn der Geistliche sie nun auch noch zum Konfirmanden-Unterricht zwingt? Brunis Vater, dem die Schule längst ein Dorn im Auge ist, macht schließlich kurzen Prozess und ordnet die Verheiratung der Tochter an. Doch dann bricht im Dorf eine Pockeepidemie aus. Auch Brunis Geschwister sind von Blattern übersät, das Fieber lässt sie phantasieren, ein Dorfbewohner nach dem anderen wird Opfer der Seuche. Bruni geht durchs Moor, um Medizin gegen die tödliche Krankheit zu besorgen. Ein Medikament, das sie selbst in tödliche Gefahr bringt. Denn der Hexenjäger hat das Mädchen schon lange auf dem Kieker.
Klar strukturierte Novelle
"Der Zeitenweg" ist eine klar strukturierte, flüssig zu lesende Novelle in gepflegter und eingängiger Sprache. Wer langwierige, ausufernde Detailschilderungen und Charakterentwicklungen sucht, sollte eher zu einem Roman greifen. Hier entwickelt sich die Handlung klar und zielstrebig und fließt auf ihre schlimmstmögliche Entwicklung zu, als ein in unserer Zeit harmloser Beipackzettel im 17. Jahrhundert eine Katastrophe auslöst. Zwischen einem netten Schulabenteuer und einem möglichen Treffen mit einem französischen Austauschschüler auf der einen und einem Hexenprozess mit Folter und drohendem Tod auf dem Scheiterhaufen liegt nur ein dünnes Papier beziehungsweise wenige Seiten. Eine Geschichte, die von Elena Münscher liebevoll und bitter zugleich und mit einer gewissen Prise Magie erzählt.
Trotz des düsteren Hexenprozesses bleibt aber festzuhalten, dass es sich um ein sehr helles, leichtfüßiges Stück Literatur handelt. Ein faszinierendes Stück Literatur zwischen zwei Zeiten, die heute beide schon vergangen sind.
Für die ältere Leserin Jahrgang 1970 hatte es durchaus etwas Schockierendes, im Glossar zwischen Worterklärungen für "Angelusläuten", "Büttel" oder "Dirne" auch eine Erklärung für "Kassettenrecorder" zu finden: "früher Vorläufer der heutigen MP3-Player". Kinder, wie die Zeit vergeht.
Ein dickes Lob muss auch dem Cover ausgesprochen werden. Das Motiv von Pahnyscha/bruniewska/STILLFX zeigt die Heldin in bläulich-grüner Umgebung, dazu eine angedeutete Uhr und einige Sonnenkreise. Magisch und geheimnisvoll, sehr schön.
Fazit: Leichtfüßige, eingängige Novelle über ein Mädchen zwischen zwei Zeiten, flüssig geschrieben und angenehm zu lesen. Sehr gelungen.
Elena Münscher: Der Zeitenweg. Machandel Verlag, 2014. 137 S., Euro 5,90.
© Petra Hartmann