Als eine der wichtigsten Märchenquellen der Brüder Grimm gilt Marie Hassenpflug, Tochter einer hugenottischen Familie aus dem hessischen Städtchen Hanau. Auf ihre Erzählungen gehen bekannte Märchen wie "Dornröschen" oder "Brüderchen und Schwesterchen" zurück. Jetzt haben Heiner Boehncke und Phoebe Alexa Schmidt ein Buch vorgelegt, das den Titel "Marie Hassenpflug. Eine Märchenerzählerin der Brüder Grimm" trägt. Das klingt vielversprechend. Leider wird das Versprechen nicht ganz eingehalten.
Marie Hassenpflug wurde 1788 in Altenhaßlau geboren. Ihre Ahnen waren vor Generationen wegen ihres hugenottischen Glaubens verfolgt worden und aus Frankreich geflohen. Doch noch immer war das französische Erbe in der Familie wach und sehr lebendig. Marie, wie auch ihre beiden Schwestern Jeanette ("Rotkäppchen", "Von dem Tischgen deck dich, Goldesel und Knüppel in dem Sack") und Amalie ("Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren") waren ausgesprochen ergiebige Quellen für die beiden märchensammelnden Brüder. Allerdings - dies arbeiten Boehncke und Schmidt sehr klar heraus - taugten ihre Geschichten wenig als Grundstock einer "echt deutschen", "nationalen" Volksmärchensammlung. Es ist vor allem französisches Erbe, das die drei Schwestern weitergaben und das in die "Kinder- und Hausmärchen" Eingang fand. Viele der von den Hassenpflugs überlieferten Märchen haben ihre Ursprünge in der französischen Märchensammlung von Charles Perrault. Oft tilgten die Grimms unliebsame französische Einsprengsel und versuchten, die Märchen "deutscher" zu machen und die Wurzeln zu vertuschen. Eine besondere Rolle scheint hierbei das Märchen "Dornröschen" gespielt zu haben, Maries Lieblingsmärchen, mit deren Heldin sie sich offenbar sehr stark identifizierte. Sehr interessant, wie hier mit dem Märchen umgegangen und wie es "germanisiert" wurde:
"Die Brüder Grimm hatten in Maries Erzählung selbstverständlich mühelos die enge Verwandtschaft mit Charles Perrault erkannt. Dornröschen aber wollten sie nicht opfern. Als hätten sie Marie und ihre Geschichte schonen wollen. Das Märchen behält für immer seinen besonderen Platz mit der Nr. 50 in den Kinder- und Hausmärchen. Und es bekommt einen neuen Schutzwall, das [sic] es vor [sic] allzu französischer Herkunft feit. Die Herkunftsangabe der Brüder Grimm endet nun so: 'Die Jungfrau, die im Schloß mit Dornenwall umgeben schläft, bis sie der rechte Königssohn erlöst, ist mit der schlafenden Brynhild, die ein Flammenwall umgiebt, durch den Sigurd dringt, identisch.'" (S. 91)
Schön ist auch, dass einige Märchen Maries mit abgedruckt wurden. "Dornröschen" gibt es sogar in zwei Versionen, in der Ursprungsversion von Marie und in der von den Grimms etwas ausgestalteteren Endfassung, in der unter anderem der Koch dem Küchenjungen eine Ohrfeige gibt. Der Vergleich ist hochinteressant.
Ein ausgesprochen wirres Buch
Doch nun zu den unschöneren Dingen. Man muss über dieses Buch leider sagen, dass es ausgesprochen wirr geschrieben ist. Es nähert sich seinem Thema sozusagen "von hinten durch die Brust ins Auge". Und flattert sofort wieder weiter, dorthin, worauf sich dieses Auge richten mag, ohne bei seinem selbst gesetzten Thema zu bleiben. Auf dem Titelblatt steht zwar, dass es in diesem Buch um Marie Hassenpflug gehen soll, aber Marie ist unter allen vorkommenden Mitgliedern der Familie Hassenpflug dasjenige, über das am wenigsten im Buch zu finden ist. Auf jeden Fall erfährt der Leser über die etwas schwierige, deutschenhassende, dominante Urgroßmutter, die Marie in ihren allerersten Lebensjahren gerade noch erleben durfte, wesentlich mehr als über die Titelheldin. Das ganze Buch sendet vor allem ein Signal aus: "Wir wissen kaum etwas über Marie und haben große Probleme, dieses Buch vollkzukriegen. Darum schweifen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit ab und erzählen von anderen Personen oder von Gebäuden, die irgend einen Bezug zu ihr haben."
Bürgermeister wandert zu Marie Hassenpflugs Wohnhaus
Das Buch hat - abzüglich des Anhangs - 142 Seiten. Am Anfang findet der Leser den Versuch eines szenischen Einstiegs aus der Gegenwart: Der Bürgermeister Hanaus geht im Jahr 2012 durch die Stadt und ist auf dem Weg zum "Haus Lossow", in dem Maries Familie gewohnt hat. Dort soll eine Gedenktafel angebracht werden. Das bietet Gelegenheit, zahlreiche historische Gebäude zu beschreiben, an denen der Mann vorbeigehen muss, ist jedoch erzählerisch nicht allzu plastisch ausgeführt und gibt bereits einen Vorgeschmack auf das, was dieses Buch vor allem prägen wird: Es wird wesentlich mehr von Bauwerken die Rede sein als von Marie Hassenpflug. Dazu muss angemerkt werden, dass es das Verdienst Phoebe Alexa Schmidts war, das Haus Lossow als das "Hassenpflug-Haus" zu entdecken. Eine große Leistung, die gebührend gewürdigt sein soll. Nur ist dieses Buch als Biographie eines Menschen verkauft worden.
Hugenottische Familiengeschichte
Das erste Drittel des schmalen Buches widmet sich vorwiegend der Familiengeschichte. Es geht um eine hugenottische Familie, die aufgrund ihres Glaubens aus Frankreich flüchten musste. Sicher sehr wichtig, denn dieser Hintergrund hat Marie geprägt. Aber wenn über ihre Urgroßmutter wesentlich mehr Informationen in dem Buch zu finden sind als über sie selbst, dann ist das doch etwas befremdlich.
Ich möchte im Folgenden versuchen, den etwas unstrukturierten Verlauf dieses Werkes nachzuzeichnen um zu zeigen, was mich genau daran so stört. Daher bitte im im voraus um Verzeihung, wenn ich dadurch selbst immer wieder vom Thema "Marie" abschweife. Wem dies zu verworren wird, der wird gebeten, bis zum Fazit vorzuscrollen.
Maries Geburt findet erst auf Seite 48 statt. Und nach zweieinhalb Seiten Text geht es schon wieder weiter mit dem Kapitel "Ein Blick ins Haus Lossow", in dem es um das Gebäude geht, um das Vermieterehepaar und ein paar Bemerkungen über die Häusernamen in der Umgebung. Im nächsten Kapitel wird die Hanauer Neustadt beschrieben, es gibt viel zur Stadtgeschichte von 1601 bis 1835 zu erzählen, man erfährt etwas über Festungsbau, bekommt zwei alte Stadtpläne und etwas über die Schule zu hören. Bezüge zu Marie hat das Kapitel kaum. Lediglich zu Anfang wird gesagt, wie viele Schritte sie von ihrem Haus zum Rathaus gehen musste (150), und der letzte Absatz lautet: "Die Namen der wallonischen Lehrer sind überliefert. Von 1774 bis 1811 unterrichtete an der wallonischen Schule Conrad Bernhard Rödiger. So also hieß Marie Hassenpflugs Lehrer." (S. 65) Ja, schön. Und?
Es folgt ein Kapitel über die wallonisch-niederländische Kirche, geschichtlich und architektonisch, sowie über das Theater. Marie kommt im Kapitel nicht vor, nur der letzte Absatz erwähnt, dass sie eben auch diese Kirche besuchte, dass sie von mütterlicher Seite her Französisch sprach, von väterlicher Seite her Deutsch und "für das 'deutsch-französische' Projekt der Grimm'schen Märchen geradezu prädestiniert" war (S. 70). Nanu? Wann war die Sammlung denn als deutsch-französisches Projekt definiert worden?
"Märchen bei den Hassenpflugs"
Auf Seite 71 - endlich - findet man die Überschrift "Märchen bei den Hassenpflugs". Aber es ist zunächst einmal von der Flucht aus Frankreich und vom Französischsprechen die Rede, dann wird es kurz märchenhaft, wenn von der Jung-Stilling-Lektüre der Familie die Rede ist (hier ist unter anderem auch von "Jorinde und Joringel" die Rede), es wird von Onkel Kämpf und seinem Interesse für "Dunkelmänner" wie Cagliostro gesprochen, von Freimaurertum und Romantik. Auch hier ist es wieder nur der Abschluss des Kapitels, der ins Gedächtnis ruft, dass es eigentlich ein Buch über Marie ist. Dabei geht es um Maries gesundheitlichen Zustand. Aufgrund einer Krankheit neigte sie zu Ohnmachtsanfällen. Ein Grund, warum sie sich so stark mit Dornröschen identifizierte. Hier horcht man auf. Man hätte gern mehr erfahren. Doch die Autoren wissen nur zu berichten, dass es wohl keine genaueren Quellen über Maries Krankheit gibt. Außerdem wolle man damit lieber "behutsam umgehen", sagen sie und decken den Mantel des Schweigens über diese Szene.
Ein "Marie-Hassenpflug-Spaziergang"
Es folgt wieder einmal ein Schnitt. Das Märchenthema wird nicht mehr verfolgt, stattdessen findet sich der Leser jetzt auf einem "Marie-Hassenpflug-Spaziergang" wieder. Es ist ein Rundgang durch die Stadt Hanau, beginnend an Maries Elternhaus, bei dem einige historische Gebäude und das Grimm-Denkmal erwähnt werden und man etwas über die ungeheure Zahl von Bäumen erfährt, die in der Stadt gepflanzt worden sind. Das ist eine nette Vorlage für einen Hanauer Stadtführer, der Bezug zu Marie erschließt sich dem Leser jedoch nicht. Im nächsten Kapitel ist vom Umzug nach Kassel die Rede. Der Vater ist versetzt worden. Eine Schwester wird geboren. Kein Wort von Marie.
"Begegnung mit den Brüdern Grimm"
"Begegnung mit den Brüdern Grimm" lautet verheißungsvoll die nächste Kapitelüberschrift. Man erfährt etwas über die Grimms und ihrem Umzug nach Kassel, etwas über Clemens Brentano und Achim von Arnim, die Herausgeber der Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn", bekommt Informationen über Jerome Bonaparte, der in Westfalen und Kassel König wurde, und liest sehr viel über die Schriftstellerin Philippine Engelhard. Die hat mit Marie zwar nichts zu tun, aber ihre Töchter waren es, die Marie mit den Grimms bekannt machten, also kommt ihre Biographie auch mit ins Buch. Über das Kränzchen im Hause Grimms, bei dem Marie und ihre Schwestern erzählten, erfährt man dagegen relativ wenig. Immerhin ein Zitat aus den Erinnerungen von Maries Bruder Ludwig. Und dann ein paar Spekulationen darüber, wie merkwürdig doch das Zusammentreffen war und dass die Grimms fließend Französisch sprachen ...
Illustrierte Märchen von den drei Hassenpflug-Schwestern
Das Kernstück sind zweifellos die sieben Märchen Maries, die dem Buch beigegeben sind: Brüderchen und Schwesterchen, Der Räuberbräutigam, Dornröschen, Mädchen ohne Hände, Der goldene Schlüssel, Die Wassernix. Schön auch, dass auch Märchen ihrer Schwestern Jeanette und Amalie abgedruckt wurden. Allen Märchen ist eine kurze Einleitung vorangestellt, und es gibt eine Illustration von Albert Schindehütte. Sehr schön.
Aber was um alles in der Welt hat das Märchen "Herr Fix und Fertig" in diesem Buch verloren? Ich möchte nicht sagen, dass es ein schlechtes Märchen ist. Es ist sogar recht pfiffig. Der Erzähler, Friedrich Krause, wurde jedoch nur kurz im vorhergehenden Absatz erwähnt als jemand, der auch Märchen erzählte und den Marie mit den Grimms bekannt machte. Außerdem war er in Schauenburg beheimatet, wo Marie eine Zeit lang ebenfalls wohnte. Und schon kann sein Märchen zeilenschindend mit hinein genommen werden? Das ist ein ausgesprochen dünner Aufhänger und wirkt geradezu an den Haaren herbeigezogen.
A propos Haare: Wesentlich sinnvoller wäre es mir erschienen, stattdessen die andere Version des "Teufels mit den drei goldenen Haaren" (von Dorothea Viehmann) mit abzudrucken, die von den Grimms statt Amalies Märchen aufgenommen wurde. Und tausendmal besser wäre es gewesen, die Perraultschen Originale dazu zu stellen, um einen Vergleich zu den Hassenpflug-Märchen zu haben. Schade.
Der hessische Soldatenhandel
Marie heiratet Friedrich von Dalwigk, einen "Hauptmann im Regiment Kurprinz", dessen Lebensgeschichte Anlass bietet, über den Soldatenverkauf und -verleih des hessischen Landesvaters zu referieren, Dalwigks amerikanische Verwandtschaft vorzustellen und von seinen Feldzügen gegen Napoleon, seinen Seitenwechseln und seiner diplomatischen Tätigkeit zu erzählen. Doch bietet dieses Kapitel hochinteressante Betrachtungen über antifranzösische Einstellungen Dalwigks und der Grimms sowie über deren "germanisierende" Märchenbearbeitung.
Entführung der Herzogin Friederike - spannendes Thema vollkommen vergeigt
Das letzte Kapitel hätte eigentlich das spannendste im ganzen Buch werden können. Marie ist Hofdame der Herzogin Friederike geworden. Diese war offenbar geistig umnachtet. Aus politischen Gründen ließ ihr Bruder sie nach Hanau entführen, und der Auftrag für diese Entführung ging ausgerechnet an Maries Mann. Wenig später liegen sich die Verwandten der Herzogin - allen voran die Monarchen von Kassel und Preußen - in den Haaren, die Dienerschaft wird verhaftet und Marie ins Gefängnis nach Bonn gebracht. Welch eine Geschichte! Und was machen die Verfasser daraus? Anstatt ihrer Titelheldin nach Bonn zu folgen, wo sie doch wohl in Angst und Verzweiflung saß, vielleicht sogar an einem neuen Schub ihrer von Ohnmachtsanfällen begleiteten Krankheit litt, folgen sie der Herzogin nach Hanau und schildern die Geschicke - - - eines Gebäudes!
Ja, tatsächlich. Das Haus "Die Arche", das Friederikes Bruder für ihren Aufenthalt umbauen ließ, steht im Mittelpunkt des Kapitels. Die Geschichte dieser Arche wird vom Tod ihres Erbauers 1607 bis zum Abriss 1827 und dem Neubau wiedergegeben, und die Verfasser lassen sich nicht nehmen, nun auch noch über die Dichterin Karoline von Günderrode zu sprechen, die von 1792 bis 1797 dort lebte.
Letzte Adressenhuberei
Abschließend folgen noch ein paar Informationen über den Maler-Bruder Ludwig Emil Grimm und über das weitere Schicksal der Schwestern Maries sowie Betrachtungen über das Werk der Grimms und Jacob Grimms Wahl ins Paulskirchenparlament. Und Marie? Der Schluss des Buches ist bezeichnend für das gesamte Werk und macht noch einmal deutlich, dass sich die Verfasser mehr für Gebäude interessieren als für Menschen:
"Seit 1853 wohnte sie mit ihrem Sohn, der in den Kasseler Adressbüchern als 'Candidat Phil' geführt wurde, am Wilhelmshöher Tor 7 am Anfang der neuen Wilhelmshöher Allee, ganz in der Nähe des Wachtgebäudes, in dem die Brüder Grimm gewohnt hatten. Heute befindet sich dort das Haus Wilhelmshöher Allee 9. Marie von Dalwigk starb am 21. November 1853 im Alter von 69 Jahren.
Man könnte vor diesem Haus eine Erinnerungstafel anbringen." (S. 142)
Fazit: Das Buch enthält durchaus wertvolle Informationen. Auch dass die Überlieferung über Marie Hassenpflug nicht allzu reich ist, soll den Verfassern zugute gehalten werden. Vielleicht hätte schon ein anderer Titel - zum Beispiel: "Die Familie Hassenpflug und das französische Erbe der Grimm'schen Märchen" - dem Leser viel Frust erspart. Es bleiben jedoch die wirre Struktur, das sprungehafte Hin und Her, die ständigen Abschweifungen und Aufblähungen von Nebenthemen und nicht zuletzt die entsetzlich vielen Häuserschicksale, die die Menschenschicksale überstrahlen. Das Buch ist nur für leidensfähige Leser und zum Lesen verpflichtete Märchenforscher zu empfehlen. Schade.
Heiner Boehncke, Phoebe Alexa Schmidt: Marie Hassenpflug. Eine Märchenerzählerin der Brüder Grimm. Darmstadt/Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 2013. 152 S., Euro 19,99.
© Petra Hartmann